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Das Motto zu Kapitel 64 (in dieser Übersetzung Band 4, Kapitel 2):
1st Gent.
Where lies the power, there let the blame lie too.
2nd Gent.
Nay, power is relative; you cannot fright
The coming pest with border fortresses,
Or catch your carp with subtle argument.
All force is twain in one: cause is not cause
Unless effect be there; and action's self
Must needs contain a passive. So command
Exists but with obedience.
Lydgate wußte übrigens, daß, selbst wenn er geneigt gewesen wäre, sich ganz offen über seine Angelegenheiten auszusprechen, es schwerlich in Farebrother's Macht gestanden haben würde, ihm die Hülfe zu gewähren, deren er sofort bedurfte. Angesichts der Jahresrechnungen seiner Lieferanten, zu deren Entrichtung er nichts hatte als die langsam und tropfenweise eingehenden Zahlungen von Patienten, die nicht vor den Kopf gestoßen werden durften, – denn die schönen Honorare, die er von Sir James und Dorotheen erhalten hatte, waren rasch verzehrt, während Dover's Pfandrecht noch immer drohend auf seinem Mobiliar lastete –, hätte ihn keine geringere Summe als tausend Pfund aus seiner augenblicklichen Verlegenheit reißen und ihm noch einen Rest in Händen lassen können, welcher ihm, wie er es mit der in solchen Lagen beliebten hoffnungsvollen Phrase bezeichnete, Zeit gelassen haben würde, sich ›umzusehen‹.
Natürlich hatten Weihnacht und das darauf folgende Neujahr, wo unsre Mitbürger Bezahlung für die Mühe und die Waaren erwarten, welche sie für uns aufgewandt und uns geliefert haben, Lydgate's Gemüth so mit dem Druck kleinlicher Sorgen belastet, daß es ihm kaum noch möglich war, seine Gedanken ungetheilt einem anderen, wenn auch noch so gewöhnlichen oder dringenden Gegenstande zuzuwenden.
Er war kein übellauniger Mensch; seine geistige Regsamkeit, seine warme Herzensgüte und seine starke physische Organisation würden ihn unter leidlich behaglichen Verhältnissen immer von den kleinen unbezwinglichen Empfindlichkeiten frei gehalten haben, welche das Charakteristische eines übellaunigen Temperaments sind. Aber er war jetzt eine Beute jener schlimmsten Reizbarkeit geworden, welche nicht einfach aus Verdrießlichkeiten entsteht, sondern aus dem durch diese Verdrießlichkeiten wachgerufenen Bewußtsein vergeudeter Energie und einer entwürdigenden Präoccupation, welche den schärfsten Gegensatz zu all seinen früheren Anschauungen bildete.
An so etwas muß ich denken, und an etwas wie ganz Anderes würde ich sonst gedacht haben! raunte ihm unaufhörlich und bitter eine innere Stimme zu, die ihn bei jeder Schwierigkeit einen doppelten Stachel zur Ungeduld empfinden ließ.
Einige Männer haben außerordentliches literarisches Aufsehen durch ihre Kundgebungen allgemeiner Unzufriedenheit mit dem Universum, als einem jämmerlich langweiligen Neste, in welches ihre großen Seelen durch ein Mißverständniß gerathen seien, gemacht; aber das Bewußtsein eines ungeheuren Ichs einer nichtssagenden Welt gegenüber mag doch sein Tröstliches haben.
Lydgate's Unzufriedenheit war viel schwerer zu ertragen, denn sie erwuchs aus dem Bewußtsein, daß eine große Existenz im Denken und wirksamen Handeln vor ihm liege, während sein Ich sich in die armselige Isolirung egoistischer Sorgen und ängstlichen Hoffens auf Ereignisse gedrängt sah, welche solche Sorgen vielleicht beseitigen würden.
Diese Sorgen werden vielleicht erbärmlich kleinlich und des Interesses hochgestellter Leute, welche Schulden nur im großartigen Maßstabe kennen, unwürdig erscheinen. Unstreitig waren sie kleinlich, aber für den überwiegend größten Theil der Menschheit, der nicht zu den hochgestellten gehört, giebt es kein anderes Mittel, solchen kleinlichen Sorgen zu entgehen, als sich frei zu halten von Geldnoth mit allen sich daran knüpfenden niedrigen Hoffnungen und Versuchungen, als da sind: das Lauern auf den Tod, das Bitten in Form von Anspielungen, das Bestreben, nach Art des Pferdeverkäufers eine schlechte Waare für eine gute auszugeben, das Suchen nach Anstellungen, die von Rechtswegen einem Anderen zukommen sollten, das Herbeisehnen endlich des Glückes, oft in der Gestalt einer allgemeinen Calamität.
Der quälende Gedanke, sich diesem schweren Joche beugen zu müssen, war es, der Lydgate in die bittere, verdrossene Stimmung versetzt hatte, welche die Entfremdung zwischen ihm und Rosamunden beständig erweiterte. Nach der ersten Enthüllung in Betreff der Verpfändungsactes hatte er häufige Versuche gemacht, ihre Zustimmung zum Zweck Versuche gemacht, zum Zweck der Beschränkung ihrer Ausgaben zu gewinnen, und bei dem drohenden Herannahen der Weihnachtszeit hatten seine Vorschläge eine immer bestimmtere Gestalt angenommen.
»Wir Beiden,« sagte er, »können mit einer Magd fertig werden und von sehr wenig leben, und ich werde mich mit einem Pferde einzurichten wissen.«
Denn Lydgate hatte, wie wir gesehn haben, angefangen, sich mit bestimmteren Vorstellungen von den zum Leben erforderlichen Ausgaben vertraut zu machen, und der Werth, den er in seinem Stolz bisher vielleicht aus äußere Dinge gelegt hatte, trat doch ganz in den Hintergrund gegen den Stolz, der ihm den Gedanken, sich als einen Schuldenmacher blosgestellt zu sehen, oder andere Leute bitten zu müssen, ihm mit ihrem Gelde zu helfen, entsetzlich erscheinen ließ.
»Natürlich kannst Du die beiden anderen Mädchen fortschicken, wenn Du willst«, erwiderte Rosamunde, »aber» ich sollte denken, es könnte Deiner Stellung nur großen Schaden thun, wenn wir wie arme Leute leben. Du mußt Dich darauf gefaßt machen, daß Deine Praxis dann nur noch schlechter wird.«
»Liebe Rosamunde, wir haben keine Wahl, wir haben auf einem zu großen Fuß angefangen. Du weißt, daß Peacock in einem viel kleineren Hause als dieses gewohnt hat. Es ist meine Schuld, ich hätte es besser wissen müssen, und ich verdiene Schläge dafür, – wenn es nur Jemand gäbe, der Ein Recht hätte, sie mir zu appliciren –, daß ich Dich in die Lage gebracht habe, auf einem geringeren Fuße zu leben, als Du es gewohnt gewesen bist. Aber ich denke, wir haben uns geheirathet, weil wir uns liebten. Und das muß uns helfen, es weiter mit einander auszuhalten, bis es besser wird. Komm, liebes Kind, lege Deine Handarbeit bei Seite und setze Dich zu mir.«
In Wahrheit waren seine Gefühle für sie in jenem Augenblicke von trüber Frostigkeit; aber er fürchtete sich vor einer Zukunft ohne Liebe und war entschlossen, gegen die Zwietracht, welche sich dauernd zwischen ihnen einzunisten drohte, nach Kräften anzukämpfen. Rosamunde gehorchte ihm, und er nahm sie auf seinen Schoß, aber in ihrem tiefsten Innern fühlte sie sich ihm gänzlich entfremdet. Das arme Kind sah nur, daß es in der Welt nicht nach ihrem Sinne zuging und daß Lydgate auch zu dieser Welt gehöre.
Aber er umschlang sie mit dem einen Arm und legte die andere Hand sanft auf ihre beiden Hände; denn dieser etwas schroffe Mann war von großer Zärtlichkeit in seinem Benehmen gegen Frauen und schien die Schwäche ihrer Organisation und die Zartheit ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit immer vor Augen zu haben. Und wieder versuchte er durch Zureden auf sie zu wirken.
»Jetzt, wo ich ein wenig genauer auf die Sachen achte, Rosy, überrascht es mich, was für eine Masse Geld in unserem Haushalte unnütz ausgegeben wird. Ich glaube, die Dienstboten gehen sorglos zu Werke, und wir haben sehr viele Leute bei uns gesehen. Aber es muß Viele von gleicher gesellschaftlicher Stellung mit uns geben, die mit viel weniger auskommen; sie begnügen sich wahrscheinlich mit schlechteren Sachen und sehen nach dem Rechten. Und die Einnahme scheint von dergleichen sehr wenig abzuhängen, denn Wrench hat Alles so häßlich wie möglich und hat dabei doch eine sehr große Praxis.«
»O, wenn Du wie die Wrenchs leben willst!« sagte Rosamunde mit einer kleinen Wendung ihres Halses, »aber früher hast Du mit Widerwillen von einer solchen Art zu ist leben gesprochen.«
»Ja, sie haben schlechten Geschmack in allen Sachen, bei ihnen sieht die Oekonomie häßlich aus. Das braucht bei uns nicht der Fall zu sein, ich wollte nur sagen, daß sie wenig Geld ausgeben, und daß Wrench doch eine famose Praxis hat«
»Und warum solltest Du nicht eine gute Praxis haben, Tertius, da doch Peacock eine gehabt hat? Du müßtest Dich mehr in Acht nehmen, die Leute nicht zu verletzen, und müßtest Arzneien verabreichen, wie es die Anderen thun. Du hast doch einen guten Anfang gemacht und hast mehrere gute Häuser bekommen. Mit Excentricitäten kommt man nicht durch, Du solltest mehr an das denken, was die Leute mögen,« sagte Rosamunde mit einem kleinen entschiedenen Ton der Vermahnung.
Lydgate fing an ungeduldig zu werden; er war darauf gefaßt gewesen, nachsichtig gegen weibliche Schwäche, aber nicht gegen weibliche Geheiße zu sein. Die Leere einer Wassernixenseele mag ihren Reiz haben, bis sie anfängt lehrhaft zu werden. Aber er beherrschte sich und sagte nur mit einem Anflug von herrischer Heftigkeit im Tone:
»Was ich in meiner Praxis zu thun habe, Rosy, muß ich selbst beurtheilen. Darum handelt es sich zwischen uns nicht. Dir muß genügen zu wissen, daß unsere Einnahme wahrscheinlich für lange Zeit eine sehr bescheidene sein wird, kaum vierhundert Pfund und vielleicht noch weniger, und wir müssen versuchen unser Leben dieser Thatsache gemäß auf einen andern Fuß einzurichten.«
Rosamunde sah einen Augenblick schweigend vor sich hin und sagte dann:
»Onkel Bulstrode sollte Dir für die Zeit, die Du dem Hospital widmest, ein Gehalt bewilligen; es ist nicht Recht, daß Du umsonst arbeitest.«
»Es war von Anfang an verabredet, daß ich meine Dienste unentgeldlich leisten solle. Das hat wieder nichts mit unserm Gespräch zu thun. Ich habe Dich auf das hingewiesen, was wir mit aller Wahrscheinlichkeit zu erwarten haben,« sagte Lydgate ungeduldig, nahm sich dann aber wieder zusammen und fuhr ruhiger fort: »Ich glaube, es giebt ein Mittel, uns von einem guten Theil unserer Verlegenheiten zu befreien. Ich höre, daß der junge Ned Plymdale sich mit Fräulein Sophie Toller verheirathet. Sie sind reich, und gute Häuser sind in Middlemarch nicht oft zu haben. Ich bin überzeugt, daß sie sich sehr freuen würden, wenn sie unser Haus mit dem größten Theil unseres Mobiliars bekommen könnten, und sie würden gewiß gern eine gute Miethe bezahlen. Ich kann Trumbull bitten, mit Plymdale darüber zu reden.«
Rosamunde stand von Lydgate's Schoß auf und ging langsam nach dem anderen Ende des Zimmers. Als sie sich wieder umkehrte und wieder auf ihn zuging, waren die Thränen auf ihren Wangen deutlich sichtbar, und sie biß sich auf die Unterlippe und faltete die Hände, um nicht laut weinen zu müssen.
Lydgate fühlte sich tief unglücklich, erglühte vor Zorn und fühlte doch, daß es unmännlich sein würde, seinem Zorne in diesem Augenblick Luft zu machen.
»Es thut mir sehr leid, Rosamunde, ich weiß, die Sache ist peinlich.«
»Ich hatte wenigstens gedacht, als ich es über mich gewann, das Silbergeschirr zurückzuschicken und es mit anzusehen, wie der Mann hier ein Inventar aufnahm – ich hatte wenigstens gedacht, daß es damit genug sein würde.«
»Ich habe Dir die Sache seiner Zeit erklärt, liebes Kind, das war nur eine Sicherheit für den Gläubiger; aber hinter dieser Sicherheit steht eben eine Schuld und – diese Schuld muß in den nächsten Monaten bezahlt werden, oder unser Mobiliar wird verkauft. Wenn der junge Plymdale unser Hans und den größten Theil unseres Mobiliars übernehmen will, so werden wir diese Schuld und noch verschiedene andere Schulden dazu abtragen können und werden ein für uns zu kostspieliges Haus auf gute Art los. Wir könnten ein kleineres Haus nehmen; ich weiß, daß Trumbull ein sehr anständiges Hans für jährlich dreißig Pfund zu vermiethen hat, und unsere Miethe hier beträgt neunzig Pfund.«
Lydgate hielt diesen Vortrag in der knappen hämmernden Weise, in der wir zu reden pflegen, wenn wir es versuchen wollen, einem unentschlossenen Sinne durch gebieterische Thatsachen einen Halt zu geben.
Thränen rannten Rosamunden an den Wangen herab; sie drückte sich das Schnupftuch an die Augen und blickte nach der großen Vase auf dem Kaminsims. Einen so bittern Augenblick hatte sie noch nie erlebt.
Endlich sagte sie ohne Hast und mit wohlbedachtem Nachdruck:
»Ich hätte nie geglaubt, daß Du so gegen mich handeln möchtest.«
»Möchte?« wiederholte Lydgate heftig, indem er von seinem Stuhle aufstand und, die Hände in die Taschen drängend, bis in die Mitte des Zimmers ging; »es handelt sich hier nicht um Mögen oder Nichtmögen. Natürlich mag ich es nicht, aber es ist das Einzige, was mir übrig bleibt.« Bei diesen Worten wandte er sich wieder nach ihr um.
»Ich hätte geglaubt, es müßte viele andere Mittel als das von Dir vorgeschlagene geben,« sagte Rosamunde. »Laß uns unsere Sachen verkaufen und Middlemarch ganz verlassen.«
»Um was zu unternehmen? wozu soll es nützen, daß ich meine Thätigkeit in Middlemarch aufgebe und irgend wohin gehe, wo ich keine habe. Wir würden anderswo grade ebenso arm sein wie hier,« erwiderte Lydgate in noch zornigerem Tone.
»Wenn wir in eine solche Lage gerathen sollten, so wäre das lediglich Deine Schuld, Tertius,« sagte Rosamunde, indem sie sich umdrehte, im Ton der vollsten Ueberzeugung. »Du willst Dich nicht gegen Deine eigene Familie benehmen, wie Du solltest. Du warst unartig gegen Hauptmann Lydgate. Sir Godwin war sehr freundlich gegen mich, als wir in Quallingham waren, und ich bin überzeugt, er würde, wenn Du ihn mit der gehörigen Rücksicht behandeln und ihm den Stand Deiner Angelegenheiten mittheilen wolltest, Alles für Dich thun. Aber ehe Du Dich dazu entschließest, willst Du lieber unser Haus und Mobiliar Herrn Ned Plymdale überlassen.«
In noch heftigerem Tone und mit einem Ausdruck von Wildheit in den Augen antwortete Lydgate:
»Nun gut, ja, wenn Du es durchaus haben willst, es gefällt mir so. Ich bekenne frei, daß ich das lieber mag, als mich zum Narren machen und betteln, wo es mir doch nichts helfen würde. Laß Dir also gesagt sein, daß das, was ich vorschlage, das ist, was mir gefällt.«
Die letzten Worte sprach er in einem Tone, als wolle er mit seiner starken Hand Rosamunden's zarten Arm packen. Bei alledem aber war sein Wille um nichts stärker als der ihrige. Sie ging sofort schweigend, aber fest entschlossen, Lydgate zu verhindern, das zu thun, was ihm gefiel, zum Zimmer hinaus.
Er ging aus; als aber sein Blut kühler geworden war, mußte er sich gestehen, daß das Hauptresultat seiner Diskussion mit Rosamunden eine davon bei ihm zurückgebliebene Scheu war, sich in Zukunft wieder auf Erörterungen mit seiner Frau einzulassen, die ihn wieder zu heftigen Aeußerungen treiben könnten. Es war ihm, als ob ein zarter Kristall die erste Spur eines Bruches zeige, und er fürchtete sich vor jeder Berührung, die diesen Bruch verhängnißvoll machen könnte. Seine Ehe würde ihm nichts sein als eine fortwährende bittere Ironie, wenn sie sich nicht mehr lieben könnten.
Er hatte sich bei Rosamunden schon lange in das gefunden, was er für die negative Seite ihres Wesens hielt, in ihren Mangel an feiner Empfindung, der sich in der Mißachtung sowohl seiner Wünsche als seiner allgemeinen Ziele bekundete. Diese erste große Enttäuschung hatte er mit Fassung getragen und war zu der Erkenntniß gekommen, daß er auf die zärtliche Hingebung und die gelehrige Anbetung des idealen Weibes verzichten und das Leben mit geringeren Erwartungen betrachten müsse, wie ein Mensch, der den Gebrauch seiner Glieder verloren hat.
Aber das Weib, wie es wirklich war, machte nicht nur seine Ansprüche an ihn geltend, sondern besaß auch noch sein Herz, und es war sein innigster Wunsch, daß das Verhältniß unerschüttert bleiben möchte. In der Ehe ist die Gewißheit: »Sie wird mich nie sehr lieben,« leichter zu ertragen, als die Furcht: »Ich werde sie nicht mehr lieben.«
Als daher sein erster Zorn verraucht war, war er innerlich angelegentlichst darauf bedacht, sie zu entschuldigen und die harten Umstände anzuklagen, die theilweise ihm zur Last fielen. Noch an demselben Abend versuchte er durch Liebkosungen die Wunde zu heilen, die er ihr am Morgen geschlagen hatte, und es lag nicht in Rosamunden's Natur, abstoßend oder trotzig zu sein. In der That hieß sie die Anzeichen der Liebe ihres Gatten willkommen und beherrschte sich. Freilich war damit noch durchaus nicht gesagt, daß sie ihn liebe.
Lydgate würde von selbst nicht sobald auf den Plan, sein Haus aufzugeben, zurückgekommen sein. Er war entschlossen, den Plan auszuführen, aber so wenig wie möglich wieder davon zu reden. Aber Rosamunde selbst berührte den Gegenstand beim Frühstück, indem sie Lydgate in sanftem Tone fragte:
»Hast Du schon mit Trumbull gesprochen«
»Nein,« erwiderte Lydgate, »aber ich will es heute Morgen thun, wo mich mein Weg doch grade bei ihm vorüber-führt. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Er faßte Rosamunden's Frage als ein Zeichen auf, daß sie ihren inneren Widerstand aufgegeben habe, und küßte sie zärtlich, als er aufstand, um fortzugehen.
Sobald die passende Tagesstunde gekommen war, um Besuche zu machen, ging Rosamunde zu Frau Plymdale, der Mutter des jungen Ned, und brachte durch herzliche Glückwünsche das Gespräch alsbald auf die bevorstehende Heirath. Frau Plymdale's mütterliche Ansicht war, daß Rosamunde jetzt vielleicht zu einer retrospectiven Erkenntniß ihrer Thorheit gelangt sein möge, und war eine zu herzensgute Frau, um sich nicht in dem Gefühl, daß ihr Sohn jetzt entschieden im Vortheil sei, sehr freundlich gegen Rosamunde zu benehmen.
»Ja, ich muß sagen, Ned ist höchst glücklich. Und Sophie Toller ist ein Mädchen, wie ich es mir nicht besser zur Schwiegertochter hätte wünschen können. Natürlich kann ihr Vater ihr eine hübsche Summe mitgeben, wie man das ja auch bei seinem Braugeschäft nicht anders erwarten konnte. Und auch die Familie ist ganz nach unserm Wunsch. Aber darauf lege ich keinen Werth. Sie ist ein so charmantes Mädchen, ohne Airs So das englische Wort für »geziertes Gebaren«, »Allüren«; die Neigung, das Englische zu übersetzen, kommt Lehmann anscheinend zunehmend abhanden. Auch mit »Prätensionen« (›überzogene Ansprüche‹) steht es nicht viel besser. – Anm.d.Hrsg. und ohne Prätensionen, obgleich sie es mit den ersten in der Gesellschaft aufnehmen könnte, ich will nicht sagen mit den Adligen; mir gefallen auch die Leute nicht, die über ihre Sphäre hinaus wollen. Aber Sophie steht auf einer Stufe mit den besten Mädchen in unserer Stadt, und damit begnügt sie sich.«
»Ich habe sie immer sehr liebenswürdig gefunden,« sagte Rosamunde.
»Ich betrachte es als eine Belohnung für Ned, der nie zu hoch hinaus wollte, daß er jetzt in eine der besten Familien heirathet,« fuhr Frau Plymdale fort, deren natürliche Schärfe durch das wohlthuende Bewußtsein gemildert wurde, daß sie die Dinge richtig ansehe. »Und von so eigenen Leuten, wie es die Tollers sind, hätte man erwarten können, daß sie gegen die Parthie gewesen wären, weil wir einige Freunde haben, die nicht zu den ihrigen gehören. Es ist bekannt, daß Ihre, Tante Bulstrode und ich von Jugend auf befreundet gewesen sind, und mein Mann hat immer auf Herrn Bulstrode's Seite gestanden. Und ich selbst neige mich einer ernsteren Richtung zu. Aber trotz alledem haben die Tollers Ned willkommen geheißen.«
»Er ist gewiß ein sehr verdienstlicher junger Mann von guten Grundsätzen,« sagte Rosamunde mit einer kleinen patronisirenden Miene Siehe oben: » with a neat air of patronage«; in der gemeinten Bedeutung der »Gönnerhaftigkeit« hat es das Wort ›patronisieren‹ im Deutschen auch 1873, in dem Jahr der vorliegenden Übersestzung, nicht gegeben. – Anm.d.Hrsg., als Erwiderung auf Frau Plymdale's heilsame Zurechtweisungen.
»O, er hat nicht die Manieren eines Hauptmannes, oder die Art von Benehmen, als ob er über alle Anderen erhaben wäre, oder so eine brillante Art, zu reden und zu singen, und er hat keine großen Talente. Aber ich danke Gott, daß er das Alles nicht hat. Denn das ist doch nur eine dürftige Ausrüstung für das Leben hier und im Jenseits.«
»O du lieber Gott, ja; der äußere Schein hat sehr wenig mit dem echten Glück zu thun,« sagte Rosamunde. »Ich glaube, es ist alle Aussicht vorhanden, daß sie ein glückliches Paar werden. Was bekommen sie denn für ein Haus?«
»O sie müssen nehmen, was sie bekommen können, sie haben sich das Haus auf dem St. Peter's-Platz neben Herrn Hackbutt's Hause angesehen. Es gehört ihm und er läßt es hübsch in Ordnung bringen. Sie werden wohl schwerlich etwas Besseres finden, und ich glaube, Ned will die Sache heute abmachen.«
»Es ist gewiß ein hübsches Haus, ich habe den Peters-Platz so gern.«
»Nun, es ist in der Nähe der Kirche und hat eine gentile Lage, aber die Fenster sind schmal und es geht immerfort treppauf und treppab. Sie wissen nicht etwa von einem anderen Hause, das zu haben wäre?« fragte Frau Plymdale, indem sie ihre runden schwarzen Augen mit dem Ausdruck eines plötzlichen Einfalls auf Rosamunde heftete.
»Ach nein, ich höre so wenig von dergleichen.«
Rosamunde hatte, als sie sich zu ihrem Besuche anschickte, weder jene Frage noch diese Antwort vorausgesehen. Sie hatte einfach beabsichtigt, sich soviel wie möglich in den Besitz von Nachrichten zu setzen, die ihr dazu verhelfen könnten, das Verlassen ihres Hauses unter ihr so höchst unangenehmen Umständen abzuwenden. Ueber die Unwahrheit ihrer Antwort dachte sie ebenso wenig nach wie über die Unwahrheit ihrer Bemerkung, daß der äußere Schein sehr wenig mit dem echten Glück zu thun habe. Ihr Zweck war nach ihrer Ueberzeugung ein vollkommen gerechtfertigter; Lydgate's Vorhaben war nicht zu entschuldigen, und sie trug sich mit einem Plane, der, wie sie meinte, wenn sie ihn ganz ausgeführt haben würde, beweisen werde, ein wie falscher Schritt es von Lydgate gewesen sein würde, sich in eine niedrigere Stellung zu begeben.
Bei ihrer Rückkehr nach Hause schlug sie einen Weg ein, der sie an Herrn Borthrop Trumbull's Büreau vorüber führte, wo sie vorzusprechen gedachte. Es war das erste Mal in ihrem Lebens daß Rosamunde sich mit irgend etwas Geschäftlichem befaßte, aber sie fühlte sich den Umständen gewachsen. Der Gedanke, daß sie genöthigt werden solle, etwas zu thun, was ihr gründlichst zuwider war, verwandelte ihren ruhigen Starrsinn in erfinderische Thätigkeit. Hier lag ein Fall vor, wo es nicht genügte, einfach heiter und gelassen zu trotzen, sondern wo sie nach ihrem eigenen Urtheile handeln mußte. Und dieses Urtheil, sagte sie sich, sei richtig. Wenn es das nicht gewesen wäre, würde sie gewiß nicht danach gehandelt haben.
Herr Trumbull befand sich in dem Hinterzimmer seines Büreaus und empfing Rosamunde mit der ausgesuchtesten Höflichkeit, nicht nur weil er für ihre Reize sehr empfänglich war, sondern auch weil seine natürliche Gutmüthigkeit sich bei der Ueberzeugung regte, daß Lydgate in Verlegenheit sei und daß diese ungewöhnlich hübsche Frau, diese junge Dame von der distinguirtesten Erscheinung, wahrscheinlich unter dem Drucke von Umständen, über welche sie nichts vermöge, sehr empfindlich leide. Er bat sie, ihm die Ehre zu erweisen, Platz zu nehmen, und trat, an sich herum stutzend, vor sie hin, indem er dabei eine eifrige überwiegend wohlwollende Beflissenheit zur Schau trug.
Rosamunden's erste Frage war, ob ihr Gatte diesen Morgen bereits Herrn Trumbull besucht habe, um mit ihm von einer Vermiethung ihres Hauses zu reden.
»Ja, Madame, ja, das hat er gethan, er' hat mit mir gesprochen,« erwiderte der gute Auctionator, der seiner Antwort durch die Wiederholungen etwas Milderndes zu geben versuchte. »Ich wollte womöglich seine Ordres schon diesen Nachmittag ausführen. Er bat mich, die Sache nicht aufzuschieben.«
»Ich komme her, um Sie zu bitten, nichts in der Sache zu thun, Herr Trumbull, und auch nicht weiter davon zu reden. Wollen Sie die Güte haben?«
»Gewiß, Frau Lydgate, gewiß. Das Vertrauen, das man mir schenkt, ist mir heilig im Geschäft wie in jeder andern Angelegenheit Soll ich also den Auftrag als zurückgenommen betrachten?« fragte Herr Trumbull, indem er die langen Enden seiner blauen Kravatte mit beiden Händen zurecht stutzte und Rosamunde ehrerbietig ansah.
»Ja, bitte. Ich höre, daß Herr Ned Plymdale ein Haus gemiethet hat, das neben dem Hause des Herrn Hackbutt auf dem St. Peter's Platze steht. Es würde meinem Manne unangenehm sein, wenn seine Ordres unnützer Weise zur Ausführung gebracht würden, und überdies machen noch andere Umstände den Plan überflüssig.«
»Seht gut, Frau Lydgate, sehr gut. Ich stehe zu Ihrer Verfügung, zu jeder gewünschten Dienstleistung,« sagte Herr Trumbull, der sich in der Vermuthung gefiel, daß neue Hülfsquellen sich Lydgate eröffnet haben möchten. »Verlassen Sie sich auf mich; es soll nicht weiter von der Sache die Rede sein.«
Abends fand sich Lydgate wohlthuend berührt, als er beobachtete, daß Rosamunde lebhafter war, als sie es neuerdings gewöhnlich zu sein pflegte, und sogar beflissen zu sein schien, unaufgefordert zu thun, was ihm angenehm war.
Er dachte bei sich: »Wenn sie nur glücklich ist, und ich kann mich durchschlagen, was mache ich mir dann aus Allem? Es ist nur ein kleiner Sumpf, den wir auf einer langen Reise zu passiren haben. Wenn ich nur mein Gemüth wieder frei machen kann, so soll es schon gehen.«
Er fühlte sich so aufgeheitert, daß er anfing, nach einer Erklärung von Experimenten zu suchen, mit der er sich schon lange hatte beschäftigen wollen, die er aber in jener schleichenden Verzweiflung an sich selbst, welche sich im Gefolge kleinlicher Sorgen einstellt, vernachlässigt hatte. Er empfand wieder einmal das Entzücken des sich Versenkens in eine weitreichende Untersuchung, während Rosamunde schöne, ruhig hingleitende Musik spielte, die seinen Meditationen so förderlich war wie das Plätschern eines Ruders bei einer abendlichen Fahrt auf dem See.
Es war spät geworden; er hatte alle seine Bücher bei Seite geschoben und blickte, die Hände im Nacken gefaltet und ganz hingenommen von dem Gedanken an ein neues Experiment, in das Kaminfeuer, als Rosamunde, welche vom Klavier aufgestanden war und in ihren Stuhl zurückgelehnt saß und ihn beobachtete, sagte:
»Herr Ned Plymdale hat schon ein Hans gemiethet.«
Lydgate blickte wie durch einen Mißton aufgeschreckt einen Augenblick schweigend auf, wie ein aus dem Schlaf gestörter Mensch; als er dann aber mit einem unbehaglichen Gefühl wieder zu sich gekommen war, fragte er:
»Woher weißt Du das?«
»Ich habe Frau Plymdale heute Vormittag besucht, und sie erzählte mir, daß er das Haus auf dem St. Peter's Platze neben dem Hause des Herrn Hackbutt gemiethet habe.«
Lydgate schwieg. Er zog die Hände vom Nacken weg, drückte sie gegen sein Haar, das, wie oft, massig über seine Stirn herab hing, während er die Ellbogen auf die Knie stützte. Er fühlte sich bitter enttäuscht, es war ihm, wie wenn er, um aus einem raucherfüllten Zimmer zu flüchten, eine Thür geöffnet und dieselbe von außen vermauert gefunden hätte; zugleich aber war er überzeugt, daß Rosamunde sich über die Ursache seiner Enttäuschung freue. Er zog es vor, sie nicht anzusehen und nicht zu reden, bis er die erste leidenschaftliche Regung von Verdruß überwunden hätte.
»Was kann auch,« sagte er sich bitter, »am Ende einer Frau mehr am Herzen liegen als ihr Haus und ihre Möbel. Was soll sie ohne diese Dinge mit einem Mann anfangen?«
Als er dann aufblickte und sein Haar zurückstrich, hatten seine dunklen Augen einen jammervoll leeren Ausdruck des Verzichts auf jede Sympathie. Er fuhr aber ruhig fort:
»Vielleicht findet sich ein Anderer. Ich habe Trumbull beauftragt, sich umzusehen, wenn es mit Plymdale nichts sein sollte.«
Rosamunde erwiderte nichts. Sie rechnete darauf, daß Lydgate den Auctionator nicht eher wieder sehen werde, bis ein Erfolg ihre Einmischung gerechtfertigt haben werde; auf alle Fälle hatte sie den Eintritt dessen, was sie zunächst fürchtete, verhindert.
Nach einer Weile sagte sie:
»Wie viel Geld wollen die unangenehmen Menschen von Dir haben?«
»Welche unangenehmen Menschen?«
»Die Leute, die das Verzeichniß gemacht haben, und die andern. Ich meine, wieviel Geld würde sie soweit befriedigen, daß Du Dich nicht mehr zu quälen brauchtest?«
Lydgate sah sie einen Augenblick an, als käme ihr Zustand ihm bedenklich vor, und sagte dann:
»O, wenn ich von Plymdale für die Möbel und als Aufgeld sechshundert Pfund hätte bekommen können, hätte ich mir wohl helfen wollen. Ich hätte Dover zu voll bezahlen und den Andern soviel auf Abschlag geben können, daß sie geduldig gewartet haben würden, wenn wir inzwischen unsere Ausgaben eingeschränkt hätten.«
»Ich frage aber, wie viel Du brauchen würdest, wenn wir in diesem Hause blieben?«
»Mehr als ich wahrscheinlich irgendwoher bekommen kann,« sagte Lydgate in einem beißend sarkastischen Ton.
Es verdroß ihn zu sehen, wie Rosamunde noch immer unausführbare Wünsche nährte, anstatt sich mit der Möglichkeit, ihre Lage durch eigene Bemühungen erträglicher zu gestalten, vertraut zu machen.
»Warum willst Du die Summe nicht nennen?« fragte Rosamunde, die dadurch milde andeutete, daß ihr seine Art und Weise, die Sache zu behandeln, nicht gefalle.
»Nun,« sagte Lydgate in einem Ton, wie wenn er einen ungefähren Ueberschlag mache, »ich würde wenigstens tausend Pfund brauchen, um wieder in Ordnung zu kommen. Aber,« fügte er sehr entschieden hinzu, »es handelt sich für mich um das, was ich ohne diese Summe, nicht um das, was ich mit derselben anzufangen habe.«
Rosamunde sagte nichts weiter. Am nächsten Tage aber brachte sie ihren Plan, an Sir Godwin Lydgate zu schreiben, zur Ausführung. Seit dem Besuch des Hauptmanns hatte sie von ihm und auch von seiner verheiratheten Schwester, Frau Mengan, einen Brief, in welchem dieselbe ihr zu dem Verlust ihres Baby condolirte und in unbestimmten Ausdrücken die Hoffnung aussprach, sie wieder in Quallingham zu sehen. Lydgate hatte ihr zwar gesagt, daß diese Höflichkeitsbezeugung nichts bedeute; sie aber lebte im Geheimen der Ueberzeugung, daß Lydgate selbst jeden etwaigen Mangel an Aufmerksamkeit von Seiten seiner Familie gegen ihn durch sein kaltes geringschätziges Benehmen verschuldet habe, und hatte die Briefe so liebenswürdig wie möglich und in der vertrauensvollen Erwartung beantwortet, daß demnächst eine ausdrückliche Einladung erfolgen werde.
Als dann aber nichts erfolgte, sagte sich Rosamunde, daß der Hauptmann offenbar nicht sehr gewandt mit der Feder sei und daß die Schwestern vielleicht verreist gewesen seien. Indessen war ja gerade jetzt die Jahreszeit, wo man an Besuch von Freunden denken mußte, und jedenfalls würde Sir Godwin, der sie unter das Kinn gefaßt und sie für das Ebenbild der berühmten Schönheit, Frau Croly, die im Jahre 1790 eine Eroberung an ihm gemacht, erklärt hatte, von ihrem Appell an ihn gerührt sein und sich um ihretwillen gern so, wie es sich gebühre, gegen seinen Neffen benehmen.
Rosamunde hatte in ihrer Naivetät eine sehr bestimmte Vorstellung von dem, was ein alter Herr zu thun schuldig sei, um sie vor Verdrießlichkeiten zu bewahren. Und sie schrieb einen nach ihrer Ansicht ungemein verständigen Brief, in welchem sie darauf hinwies, wie wünschenswerth es sei, daß Tertius einen Ort wie Middlemarch mit einem seinen Talenten angemesseneren Orte vertausche; wie der unangenehme Charakter der Bewohner seinen Erfolgen im Wege gestanden habe und wie er in Folge dessen in eine Geldverlegenheit gerathen sei, von welcher ihn völlig zu befreien eine Summe von tausend Pfund erforderlich sein würde.
Sie sagte nicht, daß Tertius von diesem Briefe nichts wisse, denn nach ihrer Ueberzeugung würde die in dem Alten erweckte Vermuthung, daß Lydgate mit dem Briefe einverstanden sei, vortrefflich zu dem stimmen, was sie von seiner großen Achtung für seinen Onkel Godwin als dem Verwandten, der immer sein bester Freund gewesen sei, schrieb. So sah es um die Taktik der armen Rosamunde aus, wenn sie dieselbe in geschäftlichen Angelegenheiten zur Anwendung brachte.
Das war vor der Gesellschaft am Neujahrstage geschehen und noch war keine Antwort von Sir Godwin gekommen. Aber an dem Morgen dieses Tages sollte Lydgate erfahren, daß Rosamunde seine Borthrop Trumbull gegebene Ordre widerrufen habe. In der Ueberzeugung, daß es nothwendig sei, sie allmälig an den Gedanken, das Haus in Lowick Gate verlassen zu müssen, zu gewöhnen, überwand er seine Abneigung, wieder mit ihr über die Sache zu reden, und sagte beim Frühstück zu ihr:
»Ich will versuchen, Trumbull diesen Morgen zu sprechen, und ihm aufgeben, das Haus im ›Pionier‹ und in der ›Trompete‹ anzuzeigen. Wenn das Haus öffentlich angezeigt ist, so bekommt vielleicht jemand, der sonst nicht an eine Veränderung gedacht haben würde, Lust, es zu nehmen; hier in der Provinz bleiben viele Leute in ihren alten Häusern, auch wenn ihre Familien zu groß für dieselben geworden sind, weil sie nicht wissen, wo sie ein anderes finden sollen, und bei Trumbull scheint bis jetzt niemand angebissen zu haben.«
Rosamunde sah, daß der unvermeidliche Augenblick gekommen sei.
»Ich habe Trumbull beordert, sich nicht weiter um die Sache zu bekümmern,« sagte sie in einem behutsam ruhigen Ton, der offenbar zur Abwehr dienen sollte.
Lydgate starrte sie in sprachlosem Erstaunen an; noch vor einer halben Stunde hatte er ihr ihre Flechten aufgesteckt und dabei kleine zärtliche Dinge zu ihr gesagt, welche Rosamunde zwar nicht erwidert, sich doch aber hatte gefallen lassen, indem sie wie ein heiteres und liebliches Heiligenbild dem Anbetenden wunderbar zuzulächeln schien. In einem Augenblick, wo diese Fiber der Zärtlichkeit noch in ihm nachzitterte, konnte der Stoß, den Rosamunde ihm jetzt versetzte, nicht sofort ein entschiedenes Gefühl des Zorns hervorrufen; was er zunächst empfand, war vielmehr ein wirrer Schmerz. Er legte Messer und Gabel nieder, warf sich in seinen Stuhl zurück und sagte nach einer Weile in einem kalt ironischen Ton:
»Darf ich fragen, wann und warum Du das gethan hast?«
»Als ich erfuhr, daß die Plymdales bereits ein Haus gemiethet hatten. Ich ging zu ihm und bat ihn, ihnen Nichts von unserem Hause zu sagen und überhaupt nicht weiter von der Sache zu reden. Ich wußte, daß es Dir großen Schaden thun würde, wenn man erführe, daß Du Dein Haus und Dein Mobiliar aufgeben wollest, und ich war sehr dagegen. Ich denke, das war Grund genug.«
»Es bedeutete Dir also gar nichts, daß ich Dir gebieterische Gründe für die Sache angegeben hatte, gar nichts, daß ich zu einem ganz anderen Schluß gekommen war und demgemäß meine Ordres gegeben hatte?« sagte Lydgate, dessen Augen Blitze schossen, in schneidendem Ton.
Der Zorn Anderer hatte auf Rosamunde immer nur die Wirkung, daß sie sich in kalte Abneigung verschanzte und nur um so correcter und ruhiger in ihrem Benehmen wurde, da sie, was auch immer Andere thun mochten, sich unter keinen Umständen unpassend benehmen wollte.
Sie erwiderte:
»Ich denke doch, ich hatte das größte Recht über einen Gegenstand zu reden, der mich mindestens so viel angeht wie Dich.«
»Gewiß, Du hattest ein Recht zu reden; aber nur mit mir. Du hattest kein Recht, im Geheimen meine Ordres zu widerrufen und mich zu behandeln wie einen Narren,« sagte Lydgate in demselben Ton wie zuvor. »Sollte es nicht möglich sein,« fügte er höhnisch hinzu, »Dir begreiflich zu machen, was die Folgen sein werden? Soll ich versuchen, Dir noch einmal zu sagen, warum wir das Haus, wenn irgend möglich, aufgeben müssen?«
»Du brauchst mir das nicht noch einmal zu sagen,« entgegnete Rosamunde mit einer Stimme, die sich anhörte wie herabsickernde kalte Regentropfen. »Ich erinnere mich Deiner Worte noch sehr gut. Du sprachst damals grade so leidenschaftlich wie jetzt. Das kann mich aber nicht bestimmen, meine Ansicht zu ändern, daß Du jedes andere Mittel lieber versuchen solltest, als einen Schritt thun, der mir so peinlich ist. Und das Haus öffentlich anzeigen lassen, würde Dich, glaube ich, in der Meinung der Leute geradezu herabsetzen.«
»Und wenn ich nun Deine Ansicht mißachtete, wie Du die meinige mißachtest?«
»Natürlich kannst Du das thun; eben ich glaube, Du hättest mir vor unserer Verheirathung sagen müssen, daß Du mich lieber in die schlimmste Lage bringen würdest, als auf Deinen Eigenwillen verzichten.«
Lydgate sagte nichts, sondern warf nur ungeduldig den Kopf nach der einen Seite und kniff in Verzweiflung die Mundwinkel zusammen. Als Rosamunde sah, daß er ihr keinen Blick gönne, stand sie auf und setzte seine Tasse Kaffee vor ihn hin; er aber nahm keine Notiz davon und ließ sich in seinen traurigen Betrachtungen nicht stören, bei welchen er dann und wann unruhig auf seinem Stuhle hin und her rückte, während er den einen Arm auf den Tisch stützte und sich mit der Hand durch das Haar fuhr. Es drängte sich in ihm eine Fülle von Gedanken und Gefühlen zusammen, die es weder zuließen, daß er seinem Zorne Luft mache, noch daß er einfach in kalter Entschlossenheit verharre.
Rosamunde machte sich sein Schweigen zu Nutze und sagte:
»Als wir uns heiratheten, hielt Jedermann Deine Stellung für eine sehr ausgezeichnete. Da konnte es mir nicht einfallen, daß Du unsere Möbel würdest verkaufen und ein Haus in Bride-Street nehmen wollen, wo die Zimmer wahre Vogelbauer sind. Wenn wir so leben müssen, laß uns wenigstens von Middlemarch fortziehen.«
»Das würde sehr zu erwägen sein,« sagte Lydgate halb ironisch, während er mit bleichen Lippen dasaß und seine Tasse ansah, ohne zu trinken, »wenn ich nicht zufällig verschuldet wäre.«
»Es sind doch gewiß schon viele Menschen so verschuldet gewesen; wenn sie aber respectabel sind, geben ihnen die Leute Credit. Ich erinnere mich, Papa sagen gehört zu haben, daß die Sorbits verschuldet seien, und doch kamen sie sehr gut fort. Es kann nicht gut thun, übereilt zu handeln,« sagte Rosamunde im Ton erhabener Weisheit.
Lydgate saß von widersprechenden Antrieben wie gelähmt da; als er sah, daß er mit keinem Raisonnement Rosamunden's Zustimmung erlangen könne, ergriff ihn das Verlangen, entweder an einen Gegenstand durch Zerschmettern und Zermalmen einen Eindruck hervorzubringen, oder Rosamunden brutal zu erklären, daß er ihr Herr sei und daß sie ihm gehorchen müsse. Aber er fürchtete nicht nur die Wirkung eines so extremen Schrittes auf ihr Verhältniß, er fürchtete auch mehr und mehr, daß Rosamunden's ruhiger, ausweichender Eigensinn eine Geltendmachung seiner ehelichen Gewalt unwirksam machen würde.
Und wieder hatte sie ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen, als sie ihm zu verstehen gab, daß sie bei ihrer Verheirathung mit ihm durch falsche Vorstellungen getäuscht worden sei, und wenn er erklärt hätte, daß er ihr Herr sei, wäre das nicht wahr gewesen. Selbst in dem Entschlusse, zu welchem er sich mit Hülfe seiner Logik und eines ehrenhaften Stolzes aufgerafft hatte, war er durch die Berührung mit ihrem ertödtenden Wesen schon wieder wankend geworden.
Er trank rasch seinen Kasse halb hinunter und stand dann auf um fortzugehen.
»Ich darf Dich wenigstens bitten, jetzt nicht zu Trumbull zu gehen, bis es sich gezeigt haben wird, ob uns keine anderen Mittel zu Gebote stehen«, sagte Rosamunde. Obgleich sie gerade nicht furchtsam war, hielt sie es doch für sicherer, nicht zu verrathen, daß sie an Sir Godwin geschrieben habe. »Versprich mir, daß Du in den nächsten Wochen nicht zu ihm gehen willst, ohne es mir zu sagen.«
Lydgate lachte kurz auf. »Ich dächte, es wäre an mir, von Dir das Versprechen zu verlangen, daß Du nichts ohne mein Wissen thun willst,« erwiderte er, indem er ihr scharf ins Gesicht sah, und ging dann nach der Thür.
»Du denkst doch daran, daß wir heute bei Papa zu Mittag essen,« sagte Rosamunde in dem Wunsch, er möge umkehren und ihr eine umfassendere Concession machen. Er aber antwortete nur ungeduldig »Ja, wohl!« und ging fort.
Sie fand es sehr häßlich von ihm, daß er sich nicht wenigstens damit begnügt habe, ihr seine für sie so schmerzlichen Vorschläge zu machen, sondern sich noch überdies so unliebenswürdig gegen sie benommen habe. Und wie grausam war es von ihm, an ihre bescheidene Bitte, daß er fürs erste nicht wieder zu Trumbull gehen möge, ihr nicht zu sagen, was er zu thun beabsichtige. Sie war überzeugt, in jeder Beziehung recht gehandelt zu haben, und jedes scharfe oder zornige Wort Lydgate's vergrößerte nur noch das Register der ihr widerfahrenen Kränkungen, das sie in ihrem Kopfe führte.
Die arme Rosamunde hatte seit Monaten angefangen, mit dem Gedanken an ihren Mann das Gefühl der Enttäuschung zu verbinden, und das schrecklich unbeugsame Verhältniß der Ehe hatte seinen Reiz schöner, hoffnungsreicher Träume verloren. Die Ehe hatte sie zwar von den Unannehmlichkeiten des väterlichen Hauses befreit, ihr dafür aber keineswegs alles gegeben, was sie gewünscht und gehofft hatte. Der Lydgate, den sie geliebt hatte, war für sie der Inbegriff wonniger Vorstellungen gewesen, die aber jetzt fast alle zerronnen waren und an deren Stelle die kleinlichen Sorgen des täglichen Lebens traten, welche langsam von Stunde zu Stunde durchlebt und nicht unter raschem Wechsel freundlicher Bilder im Fluge durcheilt sein wollen.
Lydgate's schon durch seinen Beruf gegebenen Lebensgewohnheiten, seine häusliche absorbirende Beschäftigung mit wissenschaftlichen Gegenständen, die ihr fast wie eine krankhafte vampyrartige Liebhaberei erschien, seine eigenthümlichen Ansichten über viele Dinge, die in seinen Liebeserklärungen niemals vorgekommen waren, alle diese fortwährend entfremdenden Momente würden ihr, auch abgesehen von der Thatsache, daß er sich seine Stellung in der Stadt verdorben hatte, und auch ohne den argen Stoß, den ihr die Mittheilung über die Schuld an Dover zuerst versetzt hatte, seine Gegenwart langweilig gemacht haben.
Es gab eine andere Gegenwart, die ihr von den ersten Tagen ihrer Verheirathung an bis vor etwa vier Monaten eine angenehme Aufregung gewährt hatte, die aber leider jetzt nicht mehr vorhanden war. Rosamunde wollte sich selbst nicht eingestehen, wie viel die dadurch in ihrem Leben entstandene Lücke zu der entsetzlichen Langweile ihres Daseins beitrug. Es schien ihr, und vielleicht hatte sie darin Recht, daß eine Einladung nach Quallingham und die Eröffnung einer Aussicht für Lydgate, sich anderswo als in Middlemarch niederzulassen, in London oder an irgend einem andern Orte, wo sie nur nicht unangenehme Verhältnisse zu gewärtigen hätte, sie zufriedenstellen und sie über die Abwesenheit Will Ladislaw's, dem sie seine Schwärmerei für Frau Casaubon nicht ganz vergessen konnte, völlig trösten würde.
So standen die Dinge zwischen Lydgate und Rosamunden am Neujahrstage, als sie bei ihrem Vater zu Mittag aßen und sie, seines unartigen Benehmens beim Frühstück eingedenk, ihm gegenüber ein mildes passives Gesicht machte, während ihn sein innerer Konflikt, in welchem jene Morgenscene nur eines von vielen Stadien bezeichnete, viel tiefer berührte. Sein gezwungenes Wesen im Gespräch mit Farebrother, sein Bemühen, sich das Ansehen zu geben, als huldige er dem cynischen Grundsatze, daß alle Arten Geld zu verdienen, wesentlich auf dasselbe hinauslaufen und daß die Macht des Zufalls die Wahl einer bestimmten Art zu einer lächerlichen Illusion mache, war nur das Symptom wankend gewordener Entschlüsse, eine stumpfe Abwehr seiner frühern enthusiastischen Antriebe.
Was sollte er thun? Noch lebhafter als Rosamunde empfand er, wie trübselig es für sie sein würde, das kleine Haus in Bride-Street zu beziehen, wo sie, von dürftigem Mobiliar umgeben, innerlich unzufrieden sein würde; ein Leben voll Entbehrungen und ein Leben mit Rosamunde waren zwei für ihn immer unvereinbarer gewordene Vorstellungen, seit das drohende Gespenst der Entbehrung ihm nahe getreten war. Aber selbst wenn es seiner Energie gelungen wäre, diese beiden Vorstellungen mit einander zu verbinden, so waren ihm doch für's Erste noch nicht einmal die nöthigen Vorbereitungen zu einem so harten Wechsel erreichbar.
Und obgleich er Rosamunden das von ihr erbetene Versprechen nicht gegeben hatte, ging er doch nicht wieder zu Trumbull. Er dachte sogar daran nach Quallingham zu reisen und Sir Godwin zu besuchen. Er hatte früher geglaubt, daß nichts ihn würde bewegen können, seinen Onkel um Geld anzugehen; aber damals hatte er die Alternative noch viel unangenehmerer Dinge noch nicht in ihrer vollen Schwere empfunden. Er durfte sich dabei nicht auf die Wirkung eines Briefes verlassen; nur bei einer persönlichen Begegnung, so unangenehm ihm auch dieselbe sein mochte, konnte er seine Lage gründlich darlegen und die Bethätigung verwandschaftlicher Gefühle erproben.
Aber kaum hatte Lydgate angefangen sich mit dem Gedanken an diesen Schritt als den leichtesten zu beschäftigen, als auch alsbald wieder die innere Entrüstung darüber in ihm reagirte, daß er, der seit lange fest entschlossen war, sich von solchen niedrigen Berechnungen, solchen eigennützigen Bemühungen um die Neigung und die Taschen von Leuten fern zu halten, mit denen es sein Stolz gewesen war, nichts gemein zu haben, nicht nur auf eine Stufe mit ihnen herabsinken, sondern sogar in das Verhältniß eines Bittstellers zu ihnen treten solle.