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Achtes Kapitel.


Das Motto zu Kapitel 70 (in dieser Übersetzung Band 4, Kapitel 8):

Our deeds still travel with us from afar,
And what we have been makes us what we are.


Das erste was Bulstrode that, nachdem Lydgate Stone Court verlassen hatte, war, daß er Raffles' Taschen in der sicheren Voraussetzung untersuchte, es würden sich in denselben in Gestalt von Gasthofsrechnungen Spuren der Orte finden, wo er sich aufgehalten habe, falls er etwa nicht die Wahrheit gesagt haben sollte, als er versicherte, er sei direkt von Liverpool gekommen, weil er sich krank gefühlt und kein Geld gehabt habe.

In sein Taschenbuch waren verschiedene Rechnungen eingeklemmt, aber von späterem Datum als Weihnachten und von einem anderen Orte fand sich nur eine, und diese trug das Datum des heutigen Tages. Sie steckte in einer seiner Rockschoßtaschen, in einen Anschlagszettel über einen Pferdemarkt gewickelt, und lautete auf die Kosten eines dreitägigen Aufenthalts in einem Gasthofe in Bilkley, einer wenigstens vierzig Miles von Middlemarch entfernten Stadt, wo der Markt abgehalten war. Die Rechnung war groß und da Raffles kein Gepäck bei sich hatte, schien es wahrscheinlich, daß er seinen Koffer in Zahlung zurückgelassen habe, um wenigstens so viel Geld übrig zu behalten, daß er seine Reise bezahlen könne; denn seine Börse war leer, und er hatte nur ein paar Sixpencestücke und einige Pfennige lose in der Tasche.

Bulstrode fühlte sich bei diesen Anzeichen, daß Raffles sich seit seinem denkwürdigen Besuche um Weihnachten, wirklich von Middlemarch entfernt gehalten habe, einigermaßen beruhigt. Denn welche Befriedigung konnte es Raffles' Neigung zum Prahlen und Peinigen gewährt haben, entfernt wohnenden Leuten, die von Bulstrode nichts wußten, alte Skandalgeschichten über einen Banquier in Middlemarch aufzutischen? Und wenn er doch geschwatzt haben sollte, was konnte es schaden?

Die Hauptsache war jetzt, ihn scharf zu bewachen, so lange Gefahr vorhanden war, daß Raffles wieder in jenes verständliche Gefasel, in jenen unwiderstehlichen Drang der Mittheilung, der ihn Caleb Garth gegenüber beseelt zu haben schien, verfallen könnte, und Bulstrode war sehr besorgt, daß bei Lydgate's Anblick ein solcher Drang wieder über ihn kommen möchte.

Er saß allein bei ihm die Nacht auf und hieß die Haushälterin nur, sich angekleidet niederlegen, so daß sie auf den ersten Ruf bereit sein könne, indem er seine Schlaflosigkeit und seinen Wunsch, die Vorschriften des Arztes genau auszuführen, als Grund seines Aufsitzens angab. Er führte diese ärztlichen Verordnungen denn auch wirklich genau aus, so sehr auch Raffles unaufhörlich nach Branntwein verlangte und erklärte, er sinke in einen Abgrund, die Erde sinke unter ihm weg. Er war ruhe- und schlaflos, aber noch zaghaft und lenksam. Wenn ihm Bulstrode die von Lydgate verordneten Nahrungsmittel anbot, die er ablehnte, und ihm andere Dinge, die er verlangte, verweigerte, schien er nur von dem einen Gefühl der Angst vor Bulstrode beherrscht zu sein, den er unter den feierlichsten Betheuerungen, daß er niemals zu einem Sterblichen ein Wort gegen ihn gesagt habe, anflehte, ihm nicht zu zürnen, ihn nicht aus Rache verhungern zu lassen.

Bulstrode mußte sich sagen, daß es ihm unlieb gewesen wäre, wenn Lydgate auch nur diese Worte gehört hätte; ein beunruhigenderes Zeichen des jähen Wechsels der Vorstellungen in seinem Delirium war es aber, daß Raffles in der Morgendämmerung plötzlich einen Arzt vor sich zu sehen glaubte und demselben erzählte, daß Bulstrode ihn aus Rache dafür, daß er geschwatzt habe, was er doch nie gethan, verhungern lassen wolle.

Bulstrode's angeborenes herrisches Wesen und seine Entschlossenheit kamen ihm hier gut zu Statten. Dieser zartaussehende nervenschwache Mann fand in den seine Thatkraft herausfordernden Umständen die nöthige Energie, und während dieser ganzen schweren Nacht, wo er aussah wie ein galvanisirter, ohne Lebenswärme bewegter Leichnam, behauptete sein Geist durch seine kalte Impassibilität die Herrschaft über sich selbst und war unausgesetzt damit beschäftigt, zu erwägen, gegen was er sich zu schützen und wie er sich zu sichern habe.

Wie heiße Gebete er auch zum Himmel aufsteigen ließ, wie lebhaft er sich auch den jämmerlichen Zustand dieses Menschen und seine Pflicht vergegenwärtigen mochte, sich der von Gott über ihn verhängten Strafe zu fügen und nicht einem Anderen Uebles zu wünschen – durch alle diese Versuche, Worte zu einer wahren innerlichen Ueberzeugung zu verdichten hindurch drängten sich ihm doch unaufhörlich mit unwiderstehlicher Anschaulichkeit die Bilder er Ereignisse auf, die er herbeiwünschte.

Und diesen Bildern folgte ihre Rechtfertigung. Er konnte nicht anders, als den Tod Raffles' vor sich sehen und in diesem Tode seine eigene Befreiung erblicken. Was lag an dem Abgang dieses elenden Menschen? Er war unbußfertig; aber waren nicht auch entlarvte Verbrecher unbußfertig? ja, aber, über das Geschick dieser Verbrecher entschied das Gesetz. Wenn die Vorsehung in diesem Falle den Tod verhängen sollte, so war es keine Sünde, den Tod als einen wünschenswerthen Ausgang zu betrachten, wenn er nur nichts that, denselben zu beschleunigen, wenn er nur die ärztlichen Vorschriften gewissenhaft befolgte!

Und selbst hier war doch ein Irrthum möglich; waren doch menschliche Vorschriften nichts weniger als unfehlbar! Lydgate hatte ihm gesagt, daß ärztliche Behandlung schon öfter den Eintritt des Todes beschleunigt habe, warum sollte das nicht auch seiner eigenen Methode der Behandlung begegnen können? Aber natürlich konnte es bei der Frage nach Recht oder Unrecht nur auf die Absicht ankommen.

Und Bulstrode bemühte sich, seine Absichten von seinen Wünschen getrennt zu halten. Er sagte sich selbst, er beabsichtige die ärztlichen Vorschriften streng zu befolgen. Aber warum waren ihm überall Zweifel an der Richtigkeit dieser Vorschriften aufgestiegen? Das war eben nur der allen Wünschen gemeinsame Kunstgriff, daß sie sich an jeden noch so unberechtigten Zweifel anklammern, indem sie in jeder Ungewißheit über Wirkungen, in jeder Dunkelheit, die der Abwesenheit eines festen Gesetzes ähnlich sieht, Raum für sich finden. Aber noch befolgte er die ärztlichen Vorschriften.

Seine Seelenangst ließ ihn unablässig an Lydgate denken und seine Erinnerung an das, was Tags zuvor zwischen ihnen vorgefallen, war von Empfindungen begleitet, die sich während jener Begegnung selbst durchaus nicht in ihm geregt hatten. Gestern hatte er sich so wenig um den peinlichen Eindruck, welchen die von ihm proponirte Veränderung in Betreff des Hospitals auf Lydgate hervorbringen mußte, wie darum gekümmert, wie seine nach seiner Ansicht gerechtfertigte Ablehnung einer etwas exorbitanten Zumuthung Lydgate etwa gegen ihn stimmen möchte; jetzt konnte er sich bei der Erinnerung an diese Scene nicht verhehlen, daß er sich Lydgate wahrscheinlich zum Feinde gemacht habe, und sich des Wunsches nicht erwehren, ihn sich wieder geneigt zu machen, oder vielmehr ihm das Bewußtsein einer starken persönlichen Verpflichtung aufzudrängen.

Jetzt bedauerte er es, nicht sofort ein, wenn auch sehr bedeutendes, Geldopfer gebracht zu haben. Denn für den Fall, daß Lydgate Verdacht schöpfen oder gar durch Raffles' irres Geschwätz bestimmte Kunde erlangen sollte, würde Bulstrode das beruhigende Gefühl gehabt haben, Lydgate durch die ihm erwiesene große Wohlthat milde gestimmt zu haben. Aber dieses Bedauern kam nun vielleicht schon zu spät.

Es war ein wunderlicher und kläglicher Konflikt, der sich in der Seele dieses unglücklichen Mannes abspielte, dieses Mannes, der Jahre lang darnach gerungen hatte, besser zu sein, als er war, der seine selbstsüchtigen Leidenschaften in die Zucht genommen und in strenge Gewänder gekleidet hatte, so daß er mit ihnen wie mit einem frommen Chor einherging, bis eben jetzt ein Schrecken unter sie gefahren war und sie nicht mehr singen, sondern nur gemeinsame Hülferufe ausstoßen konnten.

Es war fast Mittag geworden, bevor Lydgate erschien; er sagte, er habe früher kommen wollen, sei aber aufgehalten worden, und sein übles Aussehen fiel Bulstrode auf. Er erkundigte sich aber sofort nach dem Patienten und ließ sich über alles, was mit demselben vorgegangen war, genau berichten. Raffles' Zustand hatte sich verschlimmert, er wollte keine Nahrung zu sich nehmen, war fortwährend wach und phantasirte unaufhörlich, war aber immer noch zahm. Gegen Bulstrode's Befürchtung nahm er wenig Notiz von Lydgate's Gegenwart und fuhr fort, unzusammenhängendes Zeug zu reden oder zu murmeln.

»Wie finden Sie ihn?« fragte Bulstrode, als er mit Lydgate allein war.

»Die Symptome sind schlimmer.«

»Sie haben also weniger Hoffnung?«

»Nein, ich glaube noch immer, daß er durchkommen kann. Werden Sie noch länger hierbleiben?« fragte Lydgate, indem er Bulstrode ansah, mit einer Plötzlichkeit, die diesen unbehaglich machte, obgleich sie in der That durch keine argwöhnische Vermuthung hervorgerufen war.

»Ich denke ja,« erwiderte Bulstrode im Tone ruhiger Ueberlegung, indem er sich zusammen nahm. »Meine Frau weiß, was mich hier zurückhält. Frau Abel und ihr Mann sind nicht erfahren genug in der Krankenpflege, um den Patienten allein warten zu können, und ihre dienstlichen Verpflichtungen gegen mich sind kaum der Art, daß man ihnen eine solche Verantwortlichkeit aufbürden könnte. Sie werden vermuthlich einige neue Verordnungen geben wollen?« .

Die wichtigste neue Verordnung, welche Lydgate zu geben hatte, betraf die Verabreichung außerordentlich kleiner Dosen von Opium für den Fall, daß die Schlaflosigkeit bei Raffles noch mehrere Stunden andauern sollte. Er hatte die Vorsicht gebraucht, das Opium selbst mitzubringen, und gab Bulstrode sehr genaue Instruktionen in Betreff der Dosen und des Moments, in welchem ihre Verabreichung wieder eingestellt werden solle. Er betonte nachdrücklich die Gefahr, welche die Nichtbefolgung dieser letzteren Vorschrift nach sich ziehen würde, und wiederholte seine Ordre, dem Patienten keinen Alkohol zu geben.

»Wie ich den Fall beurtheile,« schloß er, »würde ich nichts so sehr befürchten wie eine Betäubung. Er kann auch bei äußerst geringer Nahrung durchkommen. Er hat noch gute Kräfte.«

»Sie sehen selbst krank aus, Herr Lydgate, das ist ja etwas ganz Ungewöhnliches, ich kann wohl sagen seit meiner Bekanntschaft mit Ihnen noch nicht Vorgekommenes,« sagte Bulstrode im Tone theilnehmenden Interesses, das von seiner Tags zuvor bewiesenen Theilnahmlosigkeit ebenso sehr abstach, wie seine augenblickliche Nichtberücksichtigung seiner eigenen Erschöpfung von seiner gewöhnlichen für sich selbst zärtlich besorgten Aengstlichkeit. »Ich fürchte, Sie sind angegriffen und erregt.«

»Das bin ich allerdings,« antwortete Lydgate brüsk, indem er nach seinem Hute griff und sich zum Fortgehen anschickte.

»Vielleicht gar eine neue Unannehmlichkeit,« forschte Bulstrode, »bitte, nehmen Sie doch Platz.«

»Nein, ich danke Ihnen,« wehrte Lydgate in etwas hochfahrendem Tone ab. »Ich habe dem, was ich Ihnen gestern über den Zustand meiner Angelegenheiten mitgetheilt habe, nichts hinzuzufügen, als daß sich seitdem der Pfändungsbeamte in meinem Hause eingestellt hat. Ein paar kurze Worte wie diese enthalten eine ganze Geschichte von Widerwärtigkeiten. Ich will mich Ihnen empfehlen.«

»Bleiben Sie, Herr Lydgate, bleiben Sie,« sagte Bulstrode; »ich habe mir die Sache noch einmal überlegt; ich war gestern durch Ihre Mittheilung überrascht und beurtheilte sie nur oberflächlich. Meine Frau ist zärtlich besorgt für ihre Nichte, und mich selbst würde eine Veränderung Ihrer Lage zum Schlimmen sehr betrüben. Es werden in der That sehr viele Ansprüche an mich gemacht; aber nach reiflicher Erwägung halte ich es doch für Recht, lieber ein kleines Opfer zu bringen, als Sie ohne Unterstützung zu lassen. Sagten Sie nicht, daß eine Summe von tausend Pfund hinreichen würde, um Sie vollständig aus der Verlegenheit zu reißen und Sie in den Stand zu setzen, wieder auf eigenen Füßen zu stehen?«

»Ja,« sagte Lydgate, dessen Herz in diesem Augenblick so freudig schlug, daß keine andere Empfindung dagegen aufkommen konnte; »damit würde ich alle meine Schulden bezahlen können und noch etwas übrig behalten. Ich könnte Ersparungen in unserer Art zu leben eintreten lassen. Und allmälig wird sich meine Praxis vielleicht heben.«

»Wenn Sie einen Augenblick warten wollen, Herr Lydgate, so will ich Ihnen eine Anweisung zu diesem Belauf ausstellen. Ich weiß, daß die Hülfe in solchen Fällen, wenn sie wirksam sein soll, gründlich sein muß.«

Während Bulstrode schrieb, stellte sich Lydgate ans Fenster und dachte an sein Heimwesen, an sein Leben, das er mit so froher Hoffnung begonnen hatte und dessen Ziele er nun wieder mit frischem Muthe verfolgen durfte.

»Sie können mir dagegen einen Schein ausstellen, Herr Lydgate,« sagte Bulstrode, indem er mit der Anweisung in der Hand auf ihn zutrat, »und ich hoffe, Ihre Verhältnisse werden sich mit der Zeit so gestalten, daß Sie Ihre Schuld gegen mich allmälig werden abtragen können. Inzwischen macht es mir Freude zu denken, daß Sie sich nun von Ihren Verlegenheiten befreien können.«

»Ich bin Ihnen zum innigsten Danke verpflichtet,« sagte Lydgate, »Sie haben mir die Möglichkeit wiedergegeben, mit Freudigkeit und mit der Aussicht, Gutes zu wirken, zu arbeiten.«

Es schien ihm nur natürlich daß Bulstrode von seiner Ablehnung wieder zurückgekommen war. Es entsprach das seiner, bei anderen Gelegenheiten so oft bewährten Freigiebigkeit.

Als er aber auf dem Heimwege sein Pferd in Galopp setzte, um desto rascher nach Hause zu kommen, wo er Rosamunden die gute Nachricht mittheilen wollte, und um sich alsbald von der Bank gegen seine Anweisung baares Geld zu holen, womit er zunächst Dover's Agenten bezahlen könnte, fuhr ihm, wie wenn ein dunkler Schwarm Vögel von übler Vorbedeutung ihm plötzlich die Aussicht verdeckt hätte, der Gedanke durch den Kopf, welche Umwandlung in wenigen Monaten mit ihm vorgegangen sei, daß er sich überglücklich fühle, unter einer so starken persönlichen Verpflichtung von Bulstrode Geld erhalten zu haben.

Bulstrode war sich bewußt, etwas gethan zu haben, um eine Ursache seines Unbehagens zu beseitigen, und fühlte sich doch kaum behaglicher. Er wog nicht die Zahl der krankhaften Motive, welche den Wunsch, Lydgate günstig für sich zu stimmen, in ihm erweckt hatten; aber die krankhaften Motive waren nichts desto weniger noch immer da und wirkten wie ein aufregendes Agens in seinem Blute.

Ein Mensch thut ein Gelübde und entäußerst sich doch nicht der Mittel, sein Gelübde zu brechen. Thut er das mit der bewußten Absicht, es zu brechen? Durchaus nicht; aber die Wünsche, welche auf den Bruch abzielen, arbeiten unbewußt in ihm fort und bahnen sich den Weg zu seiner Einbildungskraft und erschlaffen seine Muskeln gerade in den Momenten, wo er sich die Gründe für sein Gelübde wieder vorhält.

Raffles sollte sich rasch erholen und wieder in den freien Gebrauch seiner hassenswerthen Fähigkeiten gelangen? wie konnte Bulstrode das wünschen? Raffles' Tod, das war die einzige Vorstellung, die ihm Erlösung brachte, und indirekt betete er für diese Art der Erlösung, flehte er, daß wenn es möglich sei, der Rest seiner Tage hienieden von dieser drohenden Schmach befreit werden möge, welche seine Brauchbarkeit als Werkzeug im Dienste Gottes gänzlich zerstören würde.

Lydgate's ärztliche Ansicht stellte diesem Gebete keine Erhörung in Aussicht, und nach und nach, wie eine Stunde des Tages nach der andern verfloß, fing Bulstrode an über die Beharrlichkeit des Lebens in diesem Menschen, den er gern in ein stummes Grab sinken gesehen hätte, zu ergrimmen; sein herrischer Wille erweckte in ihm mörderische Gelüste gegen dieses viehische Leben, über welches der Wille allein nichts vermochte. Er sagte sich, daß es ihn doch auf die Dauer zu sehr angreife; er wolle daher die nächste Nacht nicht bei dem Patienten aufsitzen, sondern ihn Frau Abel überlassen, die, wenn es erforderlich sein sollte, ihren Mann zu Hülfe rufen könnte.

Als Raffles um sechs Uhr Abends noch immer nur kurze Momente eines krampfhaften unruhigen Schlafes gehabt hatte, aus welchen er stets wieder zu neuer Ruhelosigkeit und fortwährenden Klagerufen, daß er versinke, erwachte, fing Bulstrode an, ihm nach Lydgate's Vorschrift Opium zu verabreichen. Nach Verlauf etwa einer halben Stunde rief er Frau Abel und sagte ihr, daß er sich außer Stande fühle, noch länger zu wachen. Er müsse jetzt den Patienten ihrer Pflege überlassen, worauf er ihr dann Lydgate's Vorschrift in Betreff der Quantität jeder Dosis wiederholte.

Frau Abel hatte bis jetzt noch nichts mit Lydgate's Verordnungen zu thun gehabt; sie hatte einfach bereitet und gebracht, was Bulstrode beorderte. Sie fing jetzt an zu fragen, was sie noch außer der Verabreichung des Opiums thun solle.

»Augenblicklich nichts, als daß Sie ihm von Zeit zu Zeit die Suppe und das Soda-Wasser anbieten; Sie können sich dann weitere Instructionen bei mir holen. Wenn nicht eine bedeutende Veränderung in seinem Zustande eintritt, werde ich während der Nacht nicht wieder herkommen. Wenn es erforderlich sein sollte, müssen Sie Ihren Mann zu Hülfe rufen. Ich muß früh zu Bett gehen.«

»Ihnen thut Schlaf gewiß sehr Noth, Herr Bulstrode,« sagte Frau Abel, »und Sie sollten auch etwas Kräftigeres zu sich nehmen, als Sie es bis jetzt gethan haben.«

Bulstrode ging jetzt, unbesorgt wegen dessen, was Raffles in seinen Fieberphantasien etwa schwatzen möchte, fort; denn seine Reden waren nur noch ein unzusammenhängendes Gemurmel, das nicht leicht zu gefährlichen Vermuthungen Anlaß geben konnte. Unter allen Umständen mußte er es darauf ankommen lassen.

Er ging zunächst in das getäfelte Wohnzimmer hinunter und fing an zu überlegen, ob er sich nicht sein Pferd satteln und unbekümmert um weitere irdische Folgen bei Mondschein nach Hause reiten solle. Dann bedauerte er, Lydgate nicht gebeten zu haben, Abends noch einmal hinaus zu kommen. Vielleicht würde er jetzt anderer Meinung sein und sich dahin aussprechen, daß Raffles' Zustand hoffnungsloser geworden sei. Sollte er nach Lydgate schicken? Bulstrode fühlte, daß er, wenn es mit Raffles wirklich schlimmer geworden sein und er langsam sterben sollte, ruhig zu Bette gehen und dankbar gegen Gott schlafen könnte.

Aber, stand es wirklich schlimmer mit Raffles? Lydgate würde vielleicht einfach erklären, daß es mit Raffles gehe, wie er es erwartet habe, und voraussagen, daß er nach und nach in einen festen Schlaf versinken und sich erholen werde. Wozu sollte er also nach ihm schicken?

Bulstrode schreckte vor einem solchen Ausspruch, wie er ihn sich eben als möglich dachte, zurück. Keine Ideen, keine Ansichten konnten ihn davon abbringen, die eine Wahrscheinlichkeit ins Auge zu fassen, daß der wiederhergestellte Raffles wieder derselbe sein würde wie zuvor, derselbe frisch gekräftigte Peiniger, der ihn zwingen würde, sein Weib fortzubringen, auf daß sie ihre Tage, fern von ihrer Heimath und ihren Freunden, mit einem entfremdenden Argwohn gegen ihn im Herzen, einsam verbringe!

In diesem inneren Kampf hatte er wohl anderthalb Stunden bei dem Schein des Kaminfeuers gesessen, als ihm plötzlich etwas einfiel, in Folge dessen er aufstand und das Licht, das er mit hinunter gebracht hatte, anzündete. Was ihm einfiel war, daß er Frau Abel nicht gesagt habe, wann sie mit dem Opium einhalten müsse.

Er ergriff den Leuchter, blieb aber dann lange regungslos stehen. Vielleicht hatte sie ihm schon mehr gegeben, als Lydgate verordnet hatte. Aber sein jetziger erschöpfter Zustand machte es entschuldbar, daß er einen Theil einer Ordre vergessen hatte.

Er ging, den Leuchter in der Hand hinauf – noch ungewiß, ob er direkt auf sein Zimmer gehen und sich zu Bett legen oder ob er sich in das Zimmer des Patienten begeben und das Vergessene nachholen solle. Er blieb auf dem Corridor, das Gesicht nach Raffles' Zimmer hin gekehrt, stehen und konnte ihn stöhnen und murmeln hören. Er schlief also noch immer nicht. Wer konnte wissen, ob es nicht besser sei, Lydgate's Vorschrift zu übertreten als zu befolgen, da die Schlaflosigkeit noch immer nicht beseitigt war?

Er ging auf sein Zimmer. Noch bevor er sich völlig entkleidet hatte, klopfte Frau Abel an die Thür; er öffnete sie ein wenig, um hören zu können, was die Haushälterin leise sagte.

»Entschuldigen Sie, Herr, darf ich dem armen Menschen denn keinen Branntwein und nichts geben? Ihm ist zu Muth, als wenn er versänke und er will nichts anderes zu sich nehmen, – es würde ihm auch wenig Kraft geben –, als das Opium. Und er sagt immerfort, er sinke tiefer und tiefer in die Erde hinein.«

Zu ihrem Erstaunen antwortete Bulstrode nicht. Er kämpfte mit sich.

»Ich glaube, er muß aus Mangel an etwas Kräftigem sterben, wenn es so mit ihm weiter geht. Als ich meinen armen Herrn Robinson pflegte, mußte ich ihm fortwährend Portwein und Branntwein geben und immer ein großes Glas auf einmal,« fügte Frau Abel in einem halb vorwurfsvollen Tone hinzu.

Aber wieder antwortete Bulstrode nicht gleich und sie fuhr fort:

»Es ist keine Zeit zum Sparen, wenn die Leute am Tode liegen, und das ist doch gewiß auch nicht Ihr Wille, Herr. Sonst würde ich ihm aus unserer eigenen Rumflasche geben. Aber wenn Sie schon bei ihm gewacht haben, Herr, und Alles gethan haben, was in Ihrer Macht steht – –«

In diesem Augenblick kam ein Schlüssel durch die Thürspalte zum Vorschein, und Bulstrode sagte mit heiserer Stimme: »Das ist der Schlüssel zum Weinkühler So die wörtliche Übersetzung; gemeint ist natürlich der Wein keller. – Anm.d.Hrsg.. Da finden Sie Branntwein in Fülle.«

Am nächsten Morgen, früh um sechs Uhr stand Bulstrode auf und brachte einige Zeit mit Beten zu. Glaube Niemand, daß das Gebet im einsamen Kämmerlein auch nothwendig aufrichtig sein, daß es den Handlungen des Betenden auf den Grund gehen müsse; das Gebet im einsamen Kämmerlein ist eine vernehmbar gesprochene Rede, und jede Rede ist ihrer Natur nach eine Wiedergabe; wer aber kann sich, selbst in seinen eigenen Gedanken, treu wiedergeben.

Bulstrode war über das Gewirre der während der letzten vier und zwanzig Stunden auf ihn eingestürmten Gedanken noch nicht mit sich in's Reine gekommen. Er ging wieder auf den Corridor und vernahm ein schweres röchelndes Athmen.

Dann ging er in den Garten und betrachtete den Frühreif auf dem Grase und auf dem jungen Grün der Bäume.

Als er wieder in das Haus trat, kam ihm Frau Abel entgegen und erschreckte ihn durch ihr Erscheinen.

»Nun wie geht es Ihrem Patienten, er schläft wohl, wie?« sagte er in einem erzwungen heiteren Ton.

»Er schläft, schläft ganz fest, Herr,« antwortete Frau Abel. »Zwischen drei und vier Uhr Morgens ist er langsam eingeschlafen. Wollen Sie nicht gefälligst hinaufgehen und nach ihm sehen? Ich dachte, es thäte nichts, wenn ich ihn jetzt allein ließe. Mein Mann ist auf's Feld gegangen, und unser kleines Mädchen ist allein in der Küche.«

Bulstrode ging hinauf. Auf den ersten Blick sah er, daß Raffles' Schlaf nicht der sei, aus dem es ein Erwachen giebt, sondern der Schlaf, der tiefer und tiefer in den Abgrund des Todes führt. Er blickte im Zimmer umher und sah eine Flasche mit etwas Branntwein darin und das fast leere Opiumfläschchen.

Er setzte das Fläschchen bei Seite, die Branntweinflasche aber nahm er mit hinunter und verschloß sie wieder in den Weinkühler.

Beim Frühstück überlegte er sich, ob er gleich nach Middlemarch reiten, oder Lydgate's Ankunft abwarten wolle. Er entschloß sich zu letzterem und sagte Frau Abel, sie könne an ihre Arbeit gehen, er wolle im Krankenzimmer bleiben.

Als er wieder dort saß und den Feind seiner Ruhe an der Schwelle des ewigen Schweigens angelangt sah, fühlte er sich beruhigter, als er es seit vielen Monaten gewesen war. Das Schweigen des Todes, der eben jetzt wie ein Engel mit ausgebreiteten Fittigen zu seiner Befreiung herab zu steigen schien, beschwichtigte sein Gewissen.

Er nahm sein Notizbuch zur Hand um verschiedene Memoranda durchzusehen, die er sich in Betreff seiner, im Hinblick auf die bevorstehende Abreise von Middlemarch projektirten und schon theilweise ausgeführten Arrangements gemacht hatte, und überlegte sich, wie weit er dieselben jetzt, wo seine Abwesenheit nur von kurzer Dauer sein würde, bestehen lassen oder zurücknehmen wolle. Einige ihm wünschenswerth erscheinende Einschränkungen mochten immerhin durch seinen temporären Rücktritt von der Verwaltung motivirt bleiben, und er hoffte noch immer, daß Frau Casaubon die Kosten des Hospitals zu einem guten Theil übernehmen werde.

Auf diese Weise verging die Zeit, bis plötzlich eine so merkliche Veränderung in dem Röcheln des Sterbenden eintrat, daß er seine Aufmerksamkeit wieder ganz dem Sterbelager zuwenden und nothgedrungen an das entschwindende Leben des Mannes denken mußte, dessen niedrige Gesinnung und Bereitwilligkeit, ihm zu schlechten Zwecken zu dienen, ihm einst willkommen gewesen war. Und was ihm einst die Dienste dieses Menschen willkommen gemacht hatte, ließ ihn jetzt den nahenden Tod desselben willkommen heißen.

Und wer konnte behaupten, daß Raffles' Tod beschleunigt worden sei? Wer konnte wissen, was ihn gerettet haben würde?

Lydgate kam um halb eilf Uhr, eben noch zu rechter Zeit, um Raffles ausathmen zu sehen. Als er ins Zimmer trat, bemerkte Bulstrode, daß sich auf seinem Gesichte plötzlich ein Ausdruck, nicht sowohl des Erstaunens als der Erkenntniß, daß er den Fall nicht richtig beurtheilt habe, malte. Er stand eine Zeitlang schweigend am Bett, die Augen auf den Sterbenden geheftet; aber mit jenem Ausdruck geistiger Spannung, der auf einen inneren Kampf deutet.

»Wann ist diese Veränderung zuerst eingetreten?« fragte er Bulstrode, indem er zu ihm aufsah.

»Ich habe die vorige Nacht nicht bei ihm gewacht,« antwortete Bulstrode. »Ich war übermüdet und überließ ihn der Pflege von Frau Abel. Sie sagt mir, er sei zwischen drei und vier Uhr eingeschlafen. Als ich kurz vor acht Uhr herkam, war er schon nahezu in diesem Zustande.«

Lydgate fragte nicht weiter, sondern beobachtete den Sterbenden schweigend und sagte endlich:

»Es ist vorbei.«

Lydgate war diesen Morgen in einer durch die wiedergewonnene Hoffnung und Freiheit gehobenen Stimmung. Er hatte sein Tagewerk mit der ganzen alten Geistesfrische begonnen und fühlte sich stark genug, alle Unzulänglichkeiten seines ehelichen Lebens zu tragen. Auch war er erfüllt davon, daß Bulstrode sich ihm als sein Wohlthäter erwiesen habe.

Aber dieser Fall machte ihn stutzig; er hatte einen solchen Ausgang nicht erwartet. Und doch konnte er Bulstrode nicht wohl befragen, ohne ihn zu beleidigen. Und wenn er die Haushälterin befragte? – nun, der Mann war ja todt. Es konnte zu nichts führen, wenn er zu verstehen gab, daß Unwissenheit oder Unvorsichtigkeit Raffles' Tod verschuldet habe. Und am Ende konnte er sich ja auch geirrt haben.

Er ritt mit Bulstrode nach Middlemarch zurück, und sie unterhielten sich von vielerlei Dingen, hauptsächlich von der Cholera und den Chancen der Reformbill im Oberhause und der Entschlossenheit der politischen Vereine. Von Raffles war weiter keine Rede, außer daß Bulstrode der Nothwendigkeit gedacht, sein Grab für ihn auf dem Lowicker Kirchhofe zu beschaffen, und dabei bemerkte, daß der arme Mensch, so viel er wisse, keinen anderen Verwandten gehabt habe als Rigg, der aber, wie ihm der Verstorbene gesagt habe, unfreundlich gegen ihn gesinnt gewesen sei.

Als Lydgate wieder zu Hause war, besuchte ihn Farebrother. Der Pfarrer war Tags zuvor nicht in Middlemarch gewesen; aber die Nachricht, daß Lydgate gepfändet werden solle, war gegen Abend von Herrn Spicer, dem Schuhmacher und Küster, (der sie von seinem Bruder, dem respectablen Glockenmacher in Lowickgate hatte,) überbracht, nach Lowick gelangt.

Seit jenem Abend, wo Lydgate mit Fred Vincy aus dem Billardzimmer hinunter gekommen war, hatte sich Farebrother ziemlich trübe Gedanken über ihn gemacht. Bei einem anderen Manne würde es wenig zu bedeuten gehabt haben, ob er einmal oder auch öfter im ›Grünen Drachen‹ Billard gespielt hätte; aber bei Lydgate war das nur eines von verschiedenen Anzeichen, daß er auf dem Wege sei, sich selber untreu zu werden. Er fing an, Dinge zu thun, von denen er früher nur mit höhnender Geringschätzung gesprochen hatte.

Was auch immer der unbefriedigende Zustand seiner Ehe, über welchen das alberne klatschsüchtige Gerede auch zu Farebrother's Ohren gedrungen war, mit dieser Veränderung zu thun haben mochte, Farebrother war überzeugt, daß dieselbe hauptsächlich auf die Schulden zurückzuführen sei, von denen ein immer bestimmter auftretendes Gerücht meldete, und er fing an zu fürchten, daß jeder Gedanke an verborgene Hülfsquellen und Freunde, auf welche Lydgate rechnen könne, ganz illusorisch sei. Die Art, wie Lydgate Farebrother's ersten Versuch, sein Vertrauen zu gewinnen, zurückgewiesen hatte, machte ihn wenig geneigt, diesen Versuch zu wiederholen; aber die Nachricht von einer in Lydgate's Hause vor sich gehenden Pfändung ließ den Pfarrer sein Widerstreben überwinden.

Lydgate hatte eben einen armen Patienten, für den er sich lebhaft interessirte, entlassen und kam jetzt dem Pfarrer mit ausgestreckter Hand und mit einem Ausdruck offener Heiterkeit entgegen, welche diesen überraschte. Sollte auch das nur eine andere Art stolzer Zurückweisung jeder Sympathie und jeder Hülfe sein? Gleichviel; er wollte es an dem Anerbieten seiner Sympathie und seiner Hülfe nicht fehlen lassen.

»Wie geht es Ihnen, Lydgate? Ich komme Sie zu besuchen, weil ich etwas gehört habe, was mich für Sie besorgt macht,« sagte der Pfarrer in einem gut brüderlichen Ton, ohne eine Spur von Vorwurf.

Beide hatten sich gesetzt, und Lydgate antwortete sofort:

»Ich weiß, wovon Sie reden. Sie werden gehört haben, daß ich gepfändet werden solle?«

»Ja, ist das wahr?«

»Es ist wahr gewesen,«« sagte Lydgate mit einem Ausdruck von Befreiung, wie wenn es ihm jetzt nicht mehr unangenehm sei, von der Sache zu reden. »Aber die Gefahr ist vorüber, die Schuld ist bezahlt. Ich bin jetzt wieder aus aller Verlegenheit. Ich werde keine Schulden mehr haben und werde hoffentlich im Stande sein, ein neues verständigeres Leben zu führen.«

»Das freut mich außerordentlich,« sagte der Pfarrer, indem er sich in seinen Stuhl zurücklehnte und in jenem leisen, raschen Ton sprach, der oft der Ausdruck einer Herzenserleichterung ist. »Die Nachricht gefällt mir besser als alle Neuigkeiten der ›Times‹. Ich gestehe Ihnen offen, daß ich mich mit schwerem Herzen zu Ihnen aufgemacht habe.«

»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind,« sagte Lydgate herzlich. »Ich kann Ihre Freundlichkeit um so besser würdigen, je glücklicher ich mich fühle. Ich bin gehörig gequetscht worden. Ich fürchte, die Quetschungen werden noch eine Zeit lang weh thun,« fügte er mit einem etwas traurigen Lächeln hinzu; »in diesem Augenblick aber habe ich nur das Gefühl, daß ich die Folterschraube los bin.«

Farebrother schwieg einen Augenblick und sagte dann ernst: »Lieber Freund, erlauben Sie mir eine Frage. Verzeihen Sie mir, wenn ich mir eine Freiheit nehme.«

»Ich bin überzeugt, daß Sie mich nichts fragen werden, was mich verletzen könnte.«

»Nun denn – ich muß darüber Gewißheit haben, wenn ich mich ganz beruhigt fühlen soll – Sie haben sich doch nicht – wie? – um Ihre Schulden bezahlen zu können, eine andere Schuld aufgeladen, die Sie vielleicht mit der Zeit noch mehr quälen wird?«

»Nein,« sagte Lydgate, leicht erröthend. »Ich sehe nicht ein, warum ich Ihnen nicht sagen sollte (da es doch einmal der Fall ist) daß Bulstrode der Mann ist, dem ich jetzt verschuldet bin. Er hat mir einen schönen Vorschuß gemacht – tausend Pfund – und mit der Rückbezahlung hat es ja bei ihm keine Eile.«

»Nun das ist nobel,« sagte Farebrother, indem er sich Mühe gab, dem Manne, der ihm zuwider war, seine Anerkennung nicht zu versagen. Sein Zartgefühl ließ nicht einmal die Erinnerung daran, daß er Lydgate stets dringend ermahnt hatte, jedes persönliche Verhältniß zu Bulstrode zu vermeiden, aufkommen.

Er fügte sofort hinzu:

»Und es ist nur natürlich, daß Bulstrode sich für Ihr Wohlergehen interessirt, nachdem Sie in einer Weise mit ihm gearbeitet haben, die Ihr Einkommen wahrscheinlich, anstatt es zu vermehren, geschmälert hat. Es freut mich zu hören, daß er demgemäß gehandelt hat.«

Auf Lydgate machten diese freundlichen Voraussetzungen einen unangenehmen Eindruck; sie brachten ihm die unbehagliche Vorstellung, die sich ihm zuerst vor einigen Stunden aufgedrängt hatte, daß Bulstrode bei einer ihm so unmittelbar nach der Kundgebung der kältesten Gleichgültigkeit erwiesenen Liberalität vielleicht von rein egoistischen Motiven geleitet worden sei, nur noch zu klarerem Bewußtsein. Er ließ Farebrother's freundliche Voraussetzungen auf sich beruhen; er konnte ihm die Geschichte des Darlehns nicht erzählen, ihm selbst aber trat sie lebendig vor die Seele, wie nicht minder die Thatsache, welche der Pfarrer aus Zartgefühl ignorirte, daß es dieses auf einer Verschuldung beruhende persönliche Verhältniß zu Bulstrode war, welches zu meiden Lydgate früher fest entschlossen gewesen war.

Statt auf Farebrother's Bemerkungen näher einzugehen, fing er an, von seinen beabsichtigten Oekonomien und davon zu reden, wie er jetzt dahin gelangt sei, sein Leben aus einem anderen Gesichtspunkte als früher anzusehen.

»Ich werde zu dispensiren Lehmanns Gebrauch des Wortes als intransitives Verb ist im Deutschen neologistisch; er meint: »verzichten«. – Anm.d.Hrsg. anfangen,« sagte er. »Ich glaube wirklich, meine Bestrebungen in dieser Richtung waren verfehlt. Und wenn Rosamunde nichts dagegen hat, werde ich einen jungen Mediciner in die Lehre nehmen. Ich bin kein Freund von diesen Dingen; aber wenn man gewissenhaft dabei zu Werke geht, sind sie nicht erniedrigend. Ich habe mich gleich zu Anfang bös geschunden, das wird mich gegen diese kleinen Reibungen unempfindlich machen.«

Der arme Lydgate! Das ›wenn Rosamunde nichts dagegen hat‹, welches ihm unwillkürlich als Theil seines Gedankens entschlüpft war, war sehr bezeichnend für das Joch, unter das er sich beugen mußte. Aber Farebrother, der Lydgate's Hoffnungen von ganzem Herzen theilte und der nichts von ihm wußte, was ein trübes Vorgefühl bei ihm hätte erwecken können, verließ denselben mit den herzlichsten Glückwünschen.



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