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Elftes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 73 (in dieser Übersetzung Band 4, Kapitel 11):

Pity the laden one; this wandering woe
May visit you and me.


Nachdem Lydgate Frau Bulstrode durch die Mittheilung beruhigt hatte, daß ihr Mann in der Versammlung etwas unwohl geworden sei, daß es aber nichts zu bedeuten habe und daß er am nächsten Tage wiederkommen werde, wenn sie nicht vorher zu ihm schicke, ging er direkt nach Hause, setzte sich zu Pferde und ritt wohl eine Stunde weit zur Stadt hinaus, um allein zu sein. Er fühlte, daß er leidenschaftlich aufgeregt, wie von rasenden Schmerzen gepeinigt, vernünftigen Vorstellungen unzugänglich werde; er fluchte dem Tage, an dem er nach Middlemarch gekommen war. Alles, was ihm hier begegnet war, erschien ihm jetzt nur als Vorbereitung zu diesem letzten verhängnißvollen Ungemach, welches wie ein Mehlthau auf das ehrenwerthe Streben seines Ehrgeizes gefallen war und selbst Leuten von sehr bescheidenen Ehrbegriffen seinen Ruf als unheilbar geschädigt erscheinen lassen mußte.

In solchen Augenblicken ist es schwer für einen Mann, nicht bitter zu sein. Lydgate betrachtete sich selbst als einen Dulder und Andere als die feindseligen Werkzeuge seines Schicksals. Alles hatte sich nach seiner Meinung anders gestalten sollen, und Andere hatten sich ihm in den Weg gestellt und hatten seine Zwecke vereitelt.

Seine Ehe erschien ihm wie ein vollendetes Unglück, und er fürchtete sich, bevor er seinem Zorne in der Einsamkeit Luft gemacht habe, zu Rosamunden zu gehen, deren bloßer Anblick ihn vielleicht erbittern und verleiten würde, sich in einer nicht zu rechtfertigenden Weise gegen sie zu benehmen. Es giebt Momente in dem Leben der meisten Menschen, wo der beste Theil ihres Wesens durch die quälenden Sorgen, die ihr Inneres erfüllen verschleiert erscheint.

Lydgate's Weichheit des Herzens äußerte sich in diesem Augenblicke nicht als Antrieb zu zärtlichen Gefühlen, sondern nur in der ängstlichen Besorgniß, gegen den Zug seines Herzens zu handeln, denn er fühlte sich sehr unglücklich. Nur die, welche ein wahres Geistesleben kennen, das Leben, welches die Aussaat veredelnder Ideen und Zwecke in sich trägt, können den Schmerz eines Menschen ganz ermessen, der von der reinen Höhe dieser Thätigkeit durch den verzehrenden, die Seelenkraft lähmenden Kampf mit kleinlichen irdischen Sorgen herabgezogen wird.

Wie sollte er weiter leben unter Menschen, die ihn einer niedrigen Handlungsweise ziehen, wenn es ihm nicht gelang, sich zu rechtfertigen? Wie konnte er sich in der Stille aus Middlemarch entfernen, als wolle er sich einer gerechten Verurtheilung entziehen? Und doch, wie sollte er es anfangen, sich zu rechtfertigen?

Denn die Scene, der er eben in der Versammlung beigewohnt hatte, war, obgleich er über die nähern Umstände nichts erfahren hatte, doch hinreichend gewesen, ihm seine Situation völlig klar zu machen. Bulstrode hatte sich vor compromittirenden Enthüllungen von Seiten Raffles' gefürchtet. Das genügte Lydgate, um sich die wahrscheinliche Beschaffenheit des Falles nach allen Richtungen hin auszumalen.

›Er fürchtete, es möchte in meiner Gegenwart etwas verrathen werden; sein ganzes Absehen war daher darauf gerichtet, mich durch eine starke Verpflichtung zu fesseln; daher sein plötzlicher Uebergang von Härte zu Freigiebigkeit. Und wer weiß, ob er sich nicht an dem Patienten vergriffen und meine Vorschriften absichtlich unbefolgt gelassen hat? Ich fürchte sehr, daß das der Fall gewesen ist. Aber wie dem auch sei, die Welt glaubt, daß er den Mann, wenn man auch nicht genau weiß, wie, vergiftet hat und daß ich dabei ein Auge zugedrückt, wenn nicht mitgeholfen habe. Und doch hat er sich dieses Verbrechens vielleicht nicht schuldig gemacht, und es ist ganz möglich, daß sein verändertes Benehmen gegen mich die Folge einer milderen Stimmung war, die Wirkung eines weiteren Nachdenkens über meine Angelegenheit, wie er es selbst bezeichnete. Oft ist das, was wir ›allenfalls möglich‹ nennen, gerade das Wahre und das, was wir eher glaublich finden, durchaus falsch. Trotz meines gegentheiligen Verdachts kann Bulstrode doch in seinen letzten Berührungen mit diesem Menschen seine Hand rein gehalten haben.‹

Lydgate's Lage hatte etwas Entsetzliches. Selbst wenn er jede andere Erwägung als die seiner Rechtfertigung außer Acht ließ, wenn er das Achselzucken, die kalten Blicke und das Ausweichen der Menschen als Anklage auffaßte und derselben entgegenträte, indem er alle Thatsachen, wie sie ihm bekannt waren, öffentlich mittheilte, wer würde sich dadurch überzeugen lassen? Er würde sich nur zum Narren machen, wenn er sein eigenes Zeugniß zu seinen eigenen Gunsten anbieten und sagen wollte: »Ich habe mich mit dem Gelde nicht bestechen lassen.« Die Umstände würden immer ein stärkeres Gewicht haben als seine Behauptung.

Und überdies würde ein solches Auftreten mit rückhaltlosem Sebstbekenntniß nothwendig auch Erklärungen in Betreff Bulstrode's in sich schließen müssen, welche den Verdacht Anderer gegen Diesen nur verstärken würden. Er würde erklären müssen, daß ihm Raffles' Existenz ganz unbekannt gewesen sei, als er zuerst seines dringenden Geldmangels gegen Bulstrode Erwähnung that, und daß er das Darlehen ahnungslos als die Folge dieser Mittheilung betrachtet und nicht gewußt habe, daß Bulstrode in dem Augenblick, wo er ihn als Arzt zu jenem Menschen rufen ließ, vielleicht ein neues Motiv für seine Freigiebigkeit gehabt habe. Und doch konnte am Ende sein Argwohn gegen Bulstrode's Motive unbegründet sein.

Aber nun entstand die Frage, ob er denn wirklich ganz ebenso gehandelt haben würde, wenn er das Geld nicht genommen hätte? Sicherlich würde er, wenn er bei seinem zweiten Besuche Raffles noch am Leben und in einem für weitere ärztliche Behandlung empfänglichen Zustande gefunden hätte, und wenn er dann auf den Gedanken gekommen wäre, daß Bulstrode sich eine Nichtbefolgung seiner Vorschriften habe zu Schulden kommen lassen, eine strenge Untersuchung angestellt und sich, wenn er seine Vermuthung begründet gefunden hätte, trotz seiner schweren Verpflichtung gegen Bulstrode von der Behandlung des Kranken losgesagt haben.

Aber wenn er kein Geld bekommen, wenn Bulstrode seinen kühlen Rath, Bankerott zu machen, nicht zurückgenommen hätte, würde er, Lydgate, sich auch dann, als er den Mann todt fand, jeder weiteren Nachfrage enthalten haben? Würde die Scheu, Bulstrode zu beleidigen, würde der zweifelhafte Erfolg aller ärztlichen Behandlung und das Bewußtsein, daß seine Behandlung von der Mehrzahl seiner Berufsgenossen für die falsche gehalten werden würde, in diesem Falle ebenso entscheidend auf ihn gewirkt haben?

Das war der einzige Punkt, in Betreff dessen Lydgate sich vor sich selbst nicht völlig gerechtfertigt fühlte, als er die Thatsachen Revue passiren ließ und jeden Vorwurf von sich abzuwehren suchte. Wenn er unabhängig gewesen wäre, würden diese Fragen in Betreff der Behandlung eines Patienten und die feste Regel, daß er das, was er für das ihm anvertraute Leben am dienlichsten halte, thun oder gethan sehen müsse, das gewesen sein, worauf er am unbeugsamsten bestanden hätte.

Jetzt aber hatte er sich bei der Erwägung beruhigt, daß die Nichtbefolgung seiner Vorschriften, gleichviel in welcher Veranlassung, nicht für ein Verbrechen gelten könne, daß nach der herrschenden ärztlichen Ansicht die Befolgung seiner Vorschriften mindestens ebenso verhängnißvoll hätte werden können und daß es sich hier nur noch um eine Etiquettenfrage handele.

Während er sich in den Tagen seiner Freiheit wieder und wieder laut gegen die Verkehrung pathologischer Zweifel in moralische Zweifel erklärt und gesagt hatte: ›Das gewagteste Experiment bei einer ärztlichen Behandlung kann sich immer noch mit vollkommener Gewissenhaftigkeit vertragen; mein Beruf ist es, das Leben zu erhalten und für diese Erhaltung Alles zu thun, was mir die Wissenschaft an die Hand giebt; Wissenschaft ist ihrer Natur nach gewissenhafter als der Glaube; der Glaube enthält einen Freibrief für den Irrthum, aber die Lebensluft der Wissenschaft ist der Kampf mit dem Irrthum, der das Gewissen rege erhält.‹

Ach! während er früher so gedacht und gehandelt hatte, war jetzt sein wissenschaftliches Gewissen in die unwürdige Gesellschaft von Geldverpflichtungen und egoistischen Rücksichten gerathen.

»Aber giebt es wohl unter allen Middlemarcher Aerzten einen einzigen, der sich selbst so scharf ins Verhör nehmen würde, wie ich es thue?« sagte sich der arme Lydgate mit einem erneueten Ausbruch der Empörung über sein hartes Loos. »Und doch werden sie sich Alle für berechtigt halten, sich durch eine weite Kluft von mir geschieden zu betrachten, als ob ich ein Aussätziger wäre! Meine Praxis und mein Ruf sind dahin, das sehe ich deutlich. Selbst wenn ich die bündigsten Beweise für meine Unschuld beibringen könnte, so würde das für das Urtheil der braven Leute hier doch nur sehr wenig verschlagen. Ich bin in ihren Augen einmal mit einem Makel behaftet und würde trotz alledem von ihnen gering geschätzt werden.«

Bereits waren reichliche Anzeichen dafür vorhanden, die Lydgate sich aber bisher nicht zu erklären gewußt hatte, daß gerade jetzt, wo er seine Schulden abbezahlte und sich heiteren Muthes wieder auf eigene Füße zu stellen im Begriff war, die Leute in der Stadt ihm aus dem Wege gingen oder ihn sonderbar ansahen, und in zwei Fällen war es zu seiner Kenntniß gekommen, daß seine Patienten zu einem anderen Arzte geschickt hatten. Jetzt waren ihm die Gründe eines solchen Verhaltens nur zu klar, seine Verfehmung hatte ihren Anfang genommen.

Kein Wunder, daß Lydgate's energische Natur durch das, Bewußtsein einer ihm widerfahrenden, falschen Beurtheilung, gegen deren Ungerechtigkeit er nichts vermochte, zu eigensinnigem Widerstande gereizt wurde. Der mürrische Zug, der sich gelegentlich auf seiner breiten Stirn lagerte, war nichts bedeutungslos Zufälliges. Schon als er nach jenem Ritt, den er in den ersten qualvoll schmerzlichen Stunden unternommen hatte, in die Stadt zurückkehrte, war er entschlossen, dem Schlimmsten, was ihm begegnen könne, zum Trotz in Middlemarch auszuharren. Er wollte der Verläumdung nicht weichen, wie wenn er dieselbe als berechtigt anerkenne; er wollte ihr bis zum Aeußersten trotzen und durch nichts verrathen, daß er sich fürchte.

Sein großherziger Sinn und der natürliche Trotz seines Wesens trieben ihn gleichmäßig zu dem Entschluß, sich nicht davor zu scheuen, seinen Gefühlen der Dankbarkeit gegen Bulstrode rückhaltlosen Ausdruck zu geben. Freilich war die Verbindung mit diesem Manne ihm verhängnißvoll geworden, freilich würde er, wenn er die tausend Pfund noch in Händen gehabt hätte und alle seine Schulden noch unbezahlt gewesen wären, Bulstrode das Geld wiedergegeben und den Bettelstab einer durch den Verdacht der Bestechung befleckten Verbesserung seiner Lage vorgezogen haben; denn man vergesse nicht, daß er einer der stolzesten Menschen war. Nichtsdestoweniger wollte er sich jetzt nicht von diesem unglücklichen Nebenmenschen abwenden, von dem er sich hatte helfen lassen, und wollte nicht den kläglichen Versuch machen, sich seine Freisprechung dadurch zu erwirken, daß er in das allgemeine Verdammungsurtheil gegen einen Anderen mit einstimmte.

»Ich werde thun, was ich für Recht halte, und Niemandem eine Erklärung geben. Sie werden es versuchen, mich auszuhungern, aber –«

Er wollte seinen eigensinnigen Entschluß weiter verfolgen, aber eben näherte er sich seinem Hause, und der Gedanke an Rosamunde trat wieder in den Vordergrund, aus welchem er eine Weile durch das verzweifelte Ringen mit seiner verletzten Ehre und seinem Stolz verdrängt worden war.

Wie würde Rosamunde das Alles aufnehmen? Der arme Lydgate fühlte bei diesem Gedanken den furchtbaren Druck einer schweren Kette und war wenig geneigt, Rosamunden's stumme Herrschaft zu tragen. Er fühlte sich nicht aufgelegt, ihr zu sagen, welche Verdrießlichkeiten ihrer beider harrten. Er zog es vor, die zufällige Enthüllung abzuwarten, welche die Ereignisse nur zu bald herbeiführen mußten.



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