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Sagen der Chassidim
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38. Die Fürbitte des Trunkenbolds

Über alle Juden war einmal eine grausame Verfolgung hereingebrochen, und aus allen Städten eilten Abgesandte zum heiligen Rabbi Boruch von Miedziborz, dem Enkel des heiligen Baal-Schem, damit er vom Allmächtigen Hilfe für das Volk Israel erflehe. Und Rabbi Boruch befahl ihnen, sofort in ein gewisses Dorf, einige Meilen von Miedziborz entfernt, zu fahren und dort einen Mann aufzusuchen, der mit seinem Namen und Vatersnamen soundso hieße. Sie sollten ihn um jeden Preis aufsuchen, und sobald sie ihn gefunden hätten, nicht eher ruhen, als er zum Allmächtigen um die Errettung des Volkes Israel beten würde.

Als die Abgesandten Rabbi Boruch, seligen Angedenkens, verließen, glaubten sie in ihren Herzen, daß der Mann, zu dem sie geschickt waren, ein gar heiliger Wundertäter sein müsse. Wie sie in das Dorf kamen, fragten sie die Leute: »Wo wohnt hier der wundertätige Rabbi mit Namen soundso?« Niemand konnte ihnen aber Antwort geben, und alle sagten, daß es in ihrem Dorf keinen Rabbi mit diesem Namen gebe. Die Abgesandten waren sehr verwundert; da sie aber wußten, daß ihr heiliger Rabbi Boruch sich nicht irren konnte, fragten sie die Dorfleute, ob bei ihnen überhaupt ein Mann mit diesem Namen und Vatersnamen wohne. Und sie fragten so lange herum, bis sie schließlich jemand fanden, der ihnen sagte: »Ich kenne wohl einen Menschen mit diesem Namen. Er ist aber ein großer Trunkenbold. Was kann euch der Trunkenbold nützen? Er liegt ständig betrunken da und weiß überhaupt nicht, was sich um ihn tut!«

Die Abgesandten begaben sich trotzdem ins Haus des Trunkenbolds und erzählten, daß sie vom heiligen Rabbi Boruch geschickt seien. Die Frau des Trunkenbolds sagte ihnen: »Meine lieben Juden, macht euch doch über mich nicht lustig! Seht selbst: mein Mann liegt betrunken. Wie sollte der heilige Rabbi zu ihm schicken?« Und die Frau erzählte ihnen, daß ihr Mann früher sehr reich gewesen wäre und erst, nachdem er zu trinken angefangen habe, verarmt sei. Er pflege sich täglich zu betrinken und sich dann sofort schlafen zu legen; und sobald er seinen Rausch ausgeschlafen habe, sich sofort einen neuen anzutrinken; so lebe er schon seit mehreren Monaten. »Und wenn ihr mit ihm reden wollt«, sagte das Weib, »müßt ihr warten, bis er aufwacht, denn nur in diesem Augenblick, bevor er sich wieder angetrunken hat, könnt ihr mit ihm reden. Wenn ihr aber weggeht, so wird er sich gleich nach dem Aufwachen wieder betrinken, und ihr werdet mit ihm gar nicht reden können.«

Die Abgesandten wunderten sich sehr. Sie erkundigten sich auch nach seiner früheren Lebensweise und bekamen über seine ganze Vergangenheit kein einziges gutes Wort zu hören. Sie konnten daher gar nicht verstehen, warum die Fürbitte eines solchen Menschen im Himmel wirksam sein könnte. Nur weil ihr Vertrauen zu Rabbi Boruch sehr stark war, blieben sie da, um den Mann zu bewegen, das von Rabbi Boruch befohlene Gebet zu sprechen.

Endlich war der Trunkenbold erwacht. Er griff sofort nach einer Branntweinflasche, um sich wieder zu betrinken. Die Boten faßten ihn aber bei den Händen und sagten ihm, daß der heilige Rabbi Boruch sie zu ihm geschickt hätte, damit er vom Himmel Abhilfe gegen das große, über das ganze Volk hereingebrochene Unglück erflehe. Der Trunkenbold sagte darauf: »Ich will aber zuvor etwas Branntwein trinken!« Doch die Abgesandten erwiderten: »Wir lassen dich nicht trinken, bevor du das Gebet gesprochen hast.«

Da sprach der Trunkenbold: »Der Schöpfer möchte in seiner großen Gnade das Unglück von euch abwenden! Und jetzt laßt mich in Ruhe.« Die Abgesandten merkten sich genau die Stunde, in der er diese Worte gesprochen hatte, und reisten heim. Da erfuhren sie, daß im selben Augenblick, als der Trunkenbold seine Bitte ausgesprochen hatte, dem Volke Israel geholfen wurde. Darob waren sie nicht wenig erstaunt; sie gingen zum heiligen Rabbi Boruch und sagten ihm:

»Die Sache ist uns sehr wunderlich, denn der Mann ist ein großer Trunkenbold und Taugenichts. Wir erkundigten uns auch nach seinem jetzigen und früheren Lebenswandel und bekamen kein gutes Wort zu hören. Der Mann versteht beinahe nicht mehr zu beten, und er betet auch nicht. Und schließlich sahen wir doch die wunderbare Wirkung seiner Fürbitte: kaum hatte er die Worte gesprochen, als uns sofort geholfen wurde. Wie ist das zu erklären?«

Der heilige Rabbi Boruch, seligen Angedenkens, sagte ihnen darauf:

»Ich werde euch erzählen, welche Kraft man durch ein gottgefälliges Werk erlangen kann. Der Mann war früher Großkaufmann und hatte ein sehr großes Geschäft. Dabei war er ein so stattlicher Mann, wie man nicht oft einen zweiten sieht. Einmal kam er zu einer vornehmen Gräfin, einer Witwe. Und als sie ihn erblickte, gefiel er ihr sehr, denn er war ein sehr schöner Mann. Die Gräfin sagte ihm: &›Ich will dich zum Mann haben. Was taugt dir deine Frau? Ich bin aber eine vornehme Gräfin, und alle meine Städte und Dörfer werden dir gehören. Viele hohe Würdenträger werden dir die größten Ehren erweisen, und du wirst sie durch deine Weisheit alle übertreffen‹. Der Jude versprach der Gräfin, sie zum Weib zu nehmen, verlangte aber von ihr, daß sie zuerst ein großes Fest mache und alle Grafen und Fürsten einlade, damit sie ihn als vornehmen Herrn kennenlernten. Und die Gräfin versprach ihm, dieses Verlangen zu erfüllen. Sie bestimmten also den Tag für das Fest, und in den Tagen vor dem Feste überlegten sie sich beide ihr Vorhaben. Der Jude entschloß sich, die Gräfin zu heiraten, denn es gelüstete ihn sehr nach den Ehren im Staate.

Am Tage des Festes kam er zur Gräfin und traf dort viele Grafen, Fürsten und hohe Würdenträger. Alle unterhielten sich sehr gut den ganzen Tag und die ganze Nacht. Am Morgen nach dem Feste trat der Jude in den Hof hinaus, um wie ein Herr und Besitzer nach der Wirtschaft zu sehen. Wie er durch den Schloßhof ging, hörte er aus einem Verließ Ächzen und Stöhnen von Menschen. Er trat näher und fragte die Leute wofür sie eingekerkert seien. Und sie antworteten ihm, sie seien Juden, und die Gräfin hätte sie in den Kerker geworfen, weil sie die Pachtzinsen nicht pünktlich bezahlt hätten; sie säßen schon seit langer Zeit da und gingen schuldlos zugrunde. Der Mann fühlte großes Mitleid mit den Menschen. Er eilte zur Gräfin und sagte ihr, daß er an seinem Freudentage kein Seufzen hören wolle, und die Gräfin möchte daher den Eingekerkerten ihre Schulden erlassen und die Freiheit wiedergeben. Die Gräfin sagte ihm darauf: &›Du darfst tun, was dir beliebt, denn von nun an gehört alles dir.‹ Der Mann ließ sofort mehrere Wagen anspannen, setzte die gefangenen Schuldner auf die Wagen und entließ sie alle in Frieden. Er schenkte noch einem jeden Geld für die Wegzehrung.

Als nun der Mann die Leute aus dem Kerker befreit und viele jüdische Seelen vom Tode erlöst hatte, begann ihm dieses gute Werk auf dem Herzen zu brennen. Und er sagte sich: &›Was tue ich da? Soll ich mich wirklich mit der Tochter eines fremden Volkes versündigen und dafür ewige Qualen in der Hölle leiden? Nein, eine so große Sünde werde ich nicht tun!‹ Und er nahm seinen Wagen und verließ den Schloßhof, ohne gesündigt zu haben.

Als er diese beiden gottgefälligen Dinge getan hatte, – er hatte nämlich erstens Menschen aus dem Kerker befreit und jüdische Seelen vom Tode errettet, und zweitens sein Vorhaben bereut, der Versuchung widerstanden und sich mit der fremden Frau nicht versündigt, – wurde am himmlischen Gerichtshof der Beschluß gefaßt, daß jede Bitte, die er vorbringen würde, zu erfüllen sei. Darob gab es einen großen Lärm bei den himmlischen Heerscharen, und der himmlische Ankläger machte beim Gerichtshof den sonst wenig gottgefälligen Lebenswandel des Mannes geltend. Darauf faßte der himmlische Gerichtshof einen zweiten Beschluß, nämlich daß der Mann dem Trunke verfallen solle: im Trunke werde er niemals wissen, was er bitten solle und welche Beschlüsse des himmlischen Gerichtshofes durch seine Fürbitte rückgängig zu machen seien.« Und Rabbi Boruch sagte noch zu den Leuten:

»Es ist fürwahr sehr bedenklich, sich an diesen Mann zu wenden, damit er die Beschlüsse des Himmels rückgängig mache. Da es sich aber um ein ganz großes Unglück handelte, das über das ganze Volk Israel hereingebrochen war, mußte ich euch zu diesem Menschen schicken.«

Aus dieser Geschichte kann man lernen, wie groß die Kraft eines guten Werkes ist, denn man kann dadurch im Himmel vieles erreichen. Der Schöpfer möchte uns in seiner großen Gnade helfen, immer gute Werke zu tun. Amen.


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