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Am nächsten Morgen wurde Amos Green von einer Hand, die sich auf seine Schulter legte, aufgeweckt. Sich rasch aufrichtend, sah er Catinat neben sich. Die überlebende Mannschaft lag in tiefem Schlafe um das Boot herum. Der rote Rand der Sonnenscheibe hob sich eben über die Wasserlinie empor. Himmel und Meer waren in Scharlach und Orange-Gluten getaucht, vom blendenden Golde des Horizontes an bis zur lichten Rosenfarbe im Zenith. Die ersten Strahlen des Morgenlichts schossen geradeswegs in die Höhle, glitzerten und funkelten auf den Eiskristallen und färbten die Grotte mit satten, warmen Tönen. Kein Feenschloß konnte reizender sein, als dieses schwimmende Asyl, das die Natur für sie geschaffen hatte.
Aber weder der Amerikaner noch der Franzose hatten jetzt Zeit, der Neuheit und Schönheit ihrer Lage auch nur einen Gedanken zuzuwenden. Des letzteren Gesicht war ernst, und sein Freund las in seinen Augen, daß er eine Gefahr befürchtete.
»Was giebt es?« forschte er.
»Der Eisberg! Er fällt zusammen!«
»Unsinn, Mensch! Er ist fest wie eine Felseninsel.«
»Ich habe ihn beobachtet. Sehen Sie jene Spalte, welche vom Ende der Grotte in das Eis hineingeht? Vor zwei Stunden konnte ich kaum meine Hand hineinschieben. Jetzt kann ich mit Leichtigkeit hindurchschlüpfen. Ich sage Ihnen, der Berg spaltet sich mitten durch.«
Amos Green schritt bis ans Ende der trichterförmigen Höhle, und fand, wie sein Freund gesagt hatte, daß ein grüner, gewundener Spalt sich rückwärts in den Eisberg erstreckte, der entweder durch die brandenden Wellen, oder durch den gewaltsamen Zusammenprall mit ihrem Fahrzeuge entstanden war. Er weckte nun auch Kapitän Ephraim und machte ihn auf die Gefahr aufmerksam.
»Ja, ja, wenn er das Lecken kriegt, dann ist's um uns geschehen,« sagte dieser. »Er taut ohnehin ziemlich fix,«
Sie konnten jetzt deutlich sehen, daß die Eismauern, die ihnen im Mondlicht wie glatte Flächen erschienen, in Wirklichkeit durch unablässig herabrinnende Bäche von Schmelzwasser voller Furchen und Runzeln waren, wie ein Greisenantlitz. Die ganze ungeheure Masse war brüchig und löcherig und unsicher. Man konnte deutlich ringsum ein verhängnisvolles Tröpfeln und das Plätschern der kleinen Flüßchen vernehmen, die in den Ocean herabfielen.
»Hallo, was ist das?« rief Amos Green mit einem Mal.
»Was denn?«
»Habt Ihr nichts gehört?«
»Nein.«
»Ich möchte darauf schwören, daß ich eine Stimme hörte.«
»Unmöglich! Wir sind ja alle hier.«
»Dann muß ich es mir eingebildet haben.«
Kapitän Ephraim schritt nach der seewärts gelegenen Seite der Grotte und ließ seine Blicke über den Ocean schweifen. Der Wind hatte jetzt ganz nachgelassen, und die See dehnte sich glatt und eben nach Osten aus, durch nichts unterbrochen, als ein einzelnes großes schwarzes Rundholz, welches nahe der Stelle herumschwamm, wo das »Goldene Reis« untergegangen war.
»Wir könnten am Ende im Fahrwasser gewisser Schiffe liegen,« sagte der Kapitän nachdenklich, »der Kabeljau- und Heringsfischer zum Beispiel. Nach meiner Berechnung sind wir aber zu weit südlich dazu. Dagegen könnten wir höchstens etwa zweihundert Meilen von Port Royal in Akadia entfernt sein, und auf der Linie des Handels nach dem St. Lorenz. Wenn ich nur ein paar tüchtige Bergtannen hier hätte, Amos, und hundert Ellen Leinwand, so wollte ich dem Berg hier wohl eine Takelage aufsetzen, die ihn mit Hurra nach Boston Bai hineinjagen sollte! – Aber was gibt's, Amos?«
Der junge Waldläufer stand da, den Kopf vorgestreckt, die Augen seitwärts gedreht, wie ein Mensch, der angestrengt lauscht. Er war im Begriff zu antworten, als Catinat aufschrie und auf die Hinterwand der Grotte wies.
»Seht jetzt einmal den Spalt an!«
Derselbe war wohl einen Fuß breiter geworden, seitdem sie ihn zuletzt bemerkt hatten, es war jetzt nicht mehr ein bloßer Spalt, es war ein Durchgang.
»Lassen Sie uns hindurchgehen,« meinte der Kapitän.
Er ging voran, die beiden andern folgten ihm. Es wurde sehr dunkel, als sie tiefer hineindrangen. Auf beiden Seiten erhoben sich senkrechte, überrieselte Eismauern, und hoch oben lief im Zickzack ein ganz schmaler Riß, durch den der blaue Himmel auf sie herab sah. Glitschend und tastend und stolpernd gelangten sie endlich an eine Stelle, wo der Paß sich plötzlich erweiterte und auf eine viereckige offene Fläche öffnete. Diese bildete den Mittelpunkt des Eisberges, von welcher aus derselbe nach allen Seiten zu hohen Klippen emporstrebte, die ihn ringsum begrenzten. Nach drei Seiten hin war diese Abdachung sehr steil, an der vierten aber senkte sie sich ganz allmählich, und das unaufhörliche Tauen hatte in der Oberfläche zahllose kleine Unebenheiten hervorgebracht, vermöge deren ein behender Kletterer wohl hinaufzuklimmen vermochte. Gleichzeitig begannen alle drei zu klettern, und binnen kurzem standen sie nicht weit vom Rand der Klippe, fünfzig Fuß über dem Meeresspiegel mit einem Rundblick, der gute fünfzig Seemeilen umfaßte. In diesem ganzen Umkreise zeigte sich auch keine Spur menschlichen Lebens, nichts als das Glitzern der Sonne auf tausend und aber tausend kräuselnden Wellchen.
Kapitän Ephraim pfiff vor sich hin: »Wir haben mal eben kein Glück,« bemerkte er.
Amos Green blickte verwunderten Auges um sich, »Es ist unbegreiflich,« sagte er. »Schwören hätte ich mögen – aber, um Gott, hört ihr das?«
Der klare Ton eines militärischen Hornsignales klang in die Morgenluft hinaus. Mit einem Schrei der Überraschung stürzten alle drei vorwärts und blickten über den Felsrand.
Ein großes Schiff lag gerade unter dem Schatten des Eisberges. Das schneeweiße Deck war von Messingkanonen eingefaßt und mit Matrosen besetzt. Eine Abteilung Soldaten stand auf dem Hinterdeck und exerzierte, und aus ihrer Mitte war das Hornsignal so urplötzlich den Schiffbrüchigen ins Ohr geklungen.
Während sie noch etwas vom Rande entfernt standen, hatten sie nicht nur über die Mastspitzen dieses willkommenen Nachbars hinweggeblickt, sondern waren auch selbst vom Schiffsdeck aus nicht sichtbar gewesen. Jetzt aber bewies ein lauter Chor von Aus- und Zurufen von unten, daß die Entdeckung eine gegenseitige war.
Die Dreie warteten keinen Augenblick länger. Sie glitschten, kletterten und stürzten mit lautem Geschrei den schlüpfrigen Hang hinab und durch den Eisspalt in die Höhle, wo sie ihre Gefährten ganz erregt durch den fernen Trompetenstoß bei ihrem trübseligen Frühstück fanden. Ein paar hastige Worte wurden gewechselt, die lecke Barkasse rasch umgestürzt, die wenigen Habseligkeiten hineingeschleudert, und so waren sie noch einmal flott. Als sie nun um das Vorgebirge des Eisblocks herumruderten, befanden sie sich unmittelbar unter dem Hinterdeck einer stattlichen Korvette, von deren Bord eine Reihe freundlicher Gesichter herabblickte, während das große, weiße Banner mit den goldenen Lilien Frankreichs an der Spitze der Gaffel flatterte. In wenigen Minuten war das Boot herangeholt, und sie befanden sich an Bord des »St. Christoph«, welcher den Marquis von Denonville, den Generalstatthalter von Canada, seinem neuen Arbeitsgebiet zuführte.