Arthur Conan Doyle
Die Réfugiés
Arthur Conan Doyle

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II. Das Boot der Toten.

Zwei Tage lang lag das ›Goldene Reis‹ bei völliger Windstille auf der Höhe von Kap La Hague. Die Küste der Bretagne erstreckte sich fast längs des ganzen südlichen Horizontes. Am dritten Morgen erhob sich endlich eine frische Brise, und sie trieben so schnell vom Lande ab, daß es bald nur eine undeutliche dunkle Linie wurde, die in die Wolkenbank überging. Hier außen auf dem weiten, freien Ocean, wo der Seewind ihre Wangen kühlte und der salzige Meeresschaum ihre Lippen feuchtete, hätten diese vertriebenen Menschen endlich ihren Kummer von sich werfen und mit neuem Mut einem neuen Leben entgegengehen können, hätten nicht unzerreißbare Bande, wenigstens den einen von ihnen, an das alte gefesselt.

»Ich ängstige mich um meinen Vater, Amory,« sagte Adèle, als sie zusammen an den Wanten standen und nach der dunkeln Wolke am Horizont blickten, welche ihnen noch die Stelle andeutete, wo jenes Frankreich lag, das sie nimmer wiedersehen sollten.

»Aber er ist doch jetzt jeder Gefahr entronnen?«

»Der Gefahr grausamer Gesetze allerdings, aber ich fürchte, er wird das gelobte Land nicht sehen!«

»Wie kommst du darauf, Adèle? Der Onkel ist frisch und rüstig.«

»Ach, Amory, alle Fasern seines Herzens waren mit der Rue St. Martin verwachsen; als sie zerrissen wurden, zerriß auch sein Herz. Paris und das Geschäft waren seine Welt.«

»Allmählich wird er sich an das neue Leben gewöhnen.«

»Wenn er das nur könnte! Aber ich fürchte, ich fürchte, er ist zu alt, um solch einen Wechsel zu ertragen. Er klagt zwar niemals, aber ich sehe es ihm an, daß sein Herz gebrochen ist. Stundenlang blickt er unverwandt nach Frankreich zurück, und die Thränen laufen ihm die Backen herunter. Im Laufe einer Woche ist sein graues Haar schneeweiß geworden.«

Catinat hatte gleichfalls bemerkt, daß der hagere alte Hugenotte noch hagerer, daß die Furchen seines strengen Antlitzes tiefer, seine Haltung gebeugter geworden war. Er wollte jedoch eben einwenden, daß die Seereise seine Gesundheit wohl wieder kräftigen werde, als Adèle einen Schrei der Überraschung ausstieß und über das Backbord hinauswies. Sie war so schön in diesem Augenblick, während der Wind mit ihrem rabenschwarzen Haar spielte, der salzige Gischt, den er ihr ins Gesicht trieb, einen rosigen Schimmer auf ihre blassen Wangen zauberte, ihre Lippen sich in der Erregung leicht öffneten, und ihre weiße Hand ihre Augen beschattete, daß ihr Verlobter sie unverwandt anblickte und an nichts dachte, als an ihre Anmut und Lieblichkeit.

»Aber so sieh doch!« rief sie. »Da schwimmt etwas auf der See. Ich sah es eben auf dem Kamm einer Welle!«

Er schaute nach der angegebenen Richtung, bemerkte aber zuerst nichts. Sie hatten den Wind noch immer im Rücken; die bewegte See hatte eine gesättigt tiefgrüne Farbe, daraus sich die größeren Wellen mit langgestreckten, milchweißen, brodelnden Schaumkronen emporhoben. Ab und zu fing der Wind den Gischt, spritzte ihn über das Deck, netzte die Lippen mit einem Salzgeschmack und brannte prickelnd in den Augen. Plötzlich indes gewahrte er, daß etwas Schwarzes von einem Wellenberge in die Höhe gehoben wurde und dann wieder in ein Wellenthal versank. Es war so weit entfernt, daß er Form und Umriß nicht zu unterscheiden vermochte, aber schärfere Augen hatten es bereits erblickt. Amos Green sah, wie das junge Mädchen ins Meer hinauswies, und beobachtete den Gegenstand, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.

»Kapitän Ephraim,« sagte er, »ein Boot in Sicht über Steuerbord.«

Der neuengländische Schiffer stellte sein Teleskop und stützte es auf das Bollwerk.

»Richtig, es ist ein Boot,« sagte er, »aber ein leeres. Vielleicht ist es von einem Schiff weggespült worden oder von der Küste abgetrieben. Halten Sie gerade darauf los, Herr Tomlinson, denn es trifft sich zufällig, daß ich eben ein Boot brauche.«

Eine halbe Minute später hatte das »Goldene Reis« beigedreht und trieb schnell dem schwarzen Flecke zu, der noch immer auf den Wogen tanzte und schaukelte. Beim Näherkommen sah man etwas über den Rand hervorstehen.

»Ein Menschenkopf!« rief Amos Green.

Doch Ephraims ernsthaftes Gesicht wurde finster. »Es ist ein Menschenfuß,« sagte er. »Bringt das Mädchen lieber in die Kajüte!«

Unter feierlichem Schweigen legten sie neben dem stillen Schifflein bei, das eine so unheilverkündende Flagge aufgehißt hatte. Der Fockmast wurde eingeholt, und sie schauten herab auf die grause Mannschaft.

Das Boot war eine kleine Nußschale, dreizehn Fuß lang, sehr breit für seine Länge und mit so flachem Boden, daß es augenscheinlich nur für Strom- und Binnenschiffahrt bestimmt gewesen war. Dicht aneinander gedrängt unter den Bänken lagen drei Personen, ein Mann in der Tracht eines ehrbaren Handwerkers, eine Frau desselben Standes und ein kleines, etwa einjähriges Kind. Das Boot war bis zur Hälfte mit Wasser gefüllt, und die Frau und das Kindchen lagen mit dem Gesicht nach unten. Die blonden Härchen des Kleinen und die dunklen Locken der Mutter spülten wie Seetang auf der Oberfläche hin und her. Der Mann kehrte sein bleifarbenes Antlitz himmelwärts; mit vorgestrecktem Kinn, offenen, verdrehten Augen, so daß man fast nur das Weiße darin sah, lag er da, sein Mund stand weit offen und ließ die verschrumpfte, rissige Zunge, die einem verwelkten Blatte glich, sehen. Ganz zusammengesunken kauerte im Bug ein sehr kleiner, schwarzgekleideter Mann. Seine Hand umklammerte noch ein Ruder, ein offenes Buch lag über seinem Gesicht, und ein starres Bein streckte sich aufwärts, so daß die Ferse des Fußes zwischen den Ruderpflöcken steckte. Diese seltsame Gesellschaft schwankte und schaukelte auf den langen, grünen Schlingern des atlantischen Oceans umher.

Ein Boot des »Goldnen Reises« beförderte die Verunglückten bald an Deck. Es fanden sich weder Speise noch Trank, noch irgend welche Habseligkeiten vor, außer dem einen Ruder und der offenen Bibel. Der Mann, die Frau und das Kind waren schon mindestens seit einem Tage tot, deshalb wurden sie unter den kurzen, damals auf See üblichen Gebeten vom Schiffe aus im Meer bestattet. Der kleine Mann machte anfangs auch den Eindruck eines Toten, aber Amos Green entdeckte an ihm einen schwachen Herzschlag, und als ihm ein Uhrglas vorgehalten wurde, zeigte sich daran eine leichte Trübung. Nun wurde er in trockene Decken gewickelt, neben den Mast gelegt, und der Maat flößte ihm alle paar Minuten ein Paar Tropfen Rum ein, damit der schwach glimmende Lebensfunken wieder zur Flamme angefacht werde.

Mittlerweile hatte Ephraim Savage den Befehl erteilt, seine beiden Gefangenen von Honfleur an Deck zu bringen. Sie machten ziemlich alberne Gesichter, als sie in dem langentwöhnten Tageslicht mit den Augen blinzelten und zwinkerten.

»Thut mir aufrichtig leid, Herr Hauptmann,« sagte der Schiffer, »aber sehen Sie mal, entweder: wir nahmen Sie mit, oder: wir mußten bei Ihnen bleiben! Da ich aber in Boston erwartet werde, konnte ich mich wirklich nicht aufhalten.«

Der Franzose zuckte die Achseln und blickte sich um. Sein Gesicht wurde immer länger. Er und sein Korporal waren von der Seekrankheit ganz erschöpft und so elend, wie es nur ein Franzose sein kann, wenn er entdeckt, daß Frankreich seinen Augen entschwunden ist.

»Was möchten Sie lieber: mit uns nach Amerika segeln, oder zurück nach Frankreich gehen?«

»Zurück nach Frankreich, wenn ich nur wüßte wie! O ich muß wieder nach Frankreich, wäre es auch nur, um mit dem verdammten Kanonier ein Wörtchen zu sprechen!«

»Na, sehen Sie, wir haben ihm einen Eimer voll Wasser über Lunte und Zündschnur gegossen, da hat er am Ende nicht mehr thun können, als er that. Da drüben aber, wo die dichte Luftschicht liegt, da ist Frankreich.«

»Ich sehe, ich sehe es! Ach, möchte mein Fuß doch erst wieder seinen Boden betreten!«

»Hier liegt ein Boot neben uns, das können Sie haben.«

»Mein Gott, welches Glück! Korporal Lemoine, ins Boot! Lassen Sie uns sofort abstoßen!«

»Aber zuvor brauchen Sie doch noch allerlei! Guter Gott! wer hat je gehört, daß ein Mensch so ohne weiteres in See gestochen wäre! Tomlinson, schaffen Sie doch eine Tonne mit Wasser, und ein Fäßchen voll Fleisch und Schiffszwieback ins Boot. Hiram Jefferson, zwei Ruder ins Achterteil! Es wird Arbeit kosten, der Wind bläst euch gerade in die Zähne, aber bis morgen abend kommt ihr hin, und das Wetter wird schön bleiben.«

Bald waren die beiden Franzosen mit allem versehen, was sie mutmaßlich brauchen würden, und unter vielem Hüteschwenken und »bon voyage«-Rufen stießen sie ab. Die Raa ward straffgezogen, und das »Goldene Reis« wandte sein Bugspriet westwärts. Stundenlang konnte man das Boot noch verfolgen, wie es von einem Wellenkamm zum anderen kleiner wurde und schließlich in der dämmernden Ferne verschwand. Mit ihm schwand das allerletzte Glied, das sie mit der alten Welt, die sie verließen, verbunden hatte.

Während all dieser Vorgänge hatte der bewußtlose Mann unter dem Mast mit den Augenlidern gezuckt, mühsam Atem geholt und schließlich die Augen geöffnet. Seine Haut glich grauem, glatt über die Knochen gezogenem Pergament, und die Glieder, welche aus seinen Kleidern hervorsahen, schienen einem schwächlichen Kinde anzugehören. Schwach wie er war, sprach aber doch ein Ausdruck von Kraft und Würde aus den großen, schwarzen Augen, mit denen er um sich schaute. Der alte Catinat war aufs Deck gekommen, und sobald er den Mann und seine Kleidung gewahrte, eilte er auf ihn zu, hob ehrfurchtsvoll seinen Kopf empor und stützte ihn in seinen Armen.

»Er ist einer der Glaubenshelden,« rief er, »einer unserer Seelsorger. Ja, jetzt wird Gott wahrlich seinen Segen geben zu unserer Reise!«

Aber der Mann lächelte sanft und schüttelte matt den Kopf.

»Ich fürchte, ich werde diese Reise nicht mit euch machen dürfen,« erwiderte er; »denn der Herr hat mich zu einer längeren, weiteren Reise berufen. Ich habe den Ruf vernommen und bin bereit. Ich war Pastor der Gemeinde von Isigny. Als wir von dem Befehl des gottlosen Königs hörten, machten wir uns auf, ich und zwei treue Freunde mit ihrem Kindchen, in der Hoffnung, England zu erreichen. Doch schon am ersten Tage schwemmte eine Welle uns das eine Ruder und alles andere weg, was noch im Boot war, unser Brot und unser Wasserfäßchen, und es blieb uns keine Hoffnung, als auf Ihn. Und dann fing er an, einen nach dem andern von uns zu Sich zu nehmen; zuerst das Kind, dann das Weib, dann den Mann, bis ich allein übrig blieb, obwohl ich fühle, daß mein Stündlein auch vorhanden ist. Aber ihr gehört ja auch den Auserwählten an, könnte ich euch nicht noch irgendwie dienen, ehe denn ich scheide?«

Der Kaufherr schüttelte verneinend das Haupt, dann aber durchzuckte ihn ein plötzlicher Gedanke, Freudestrahlend flüsterte er Amos Green etwas zu. Amos lachte und schritt zum Kapitän hinüber.

»War auch höchste Zeit!« brummte dieser.

Darauf gingen beide mit ihrer geflüsterten Mitteilung zu Amory von Catinat. Der that einen Luftsprung, und seine Augen funkelten vor Entzücken. Dann gingen sie zu Adèle in die Kajüte. Als sie hörte, um was es sich handle, erschrak sie und errötete, wandte das holde Antlitz ab und strich sich über das Haar nach Mädchenart, wenn ein plötzliches Ansinnen sie überrascht. Da aber Eile not that, – denn über das einsame Meer war schon der unsichtbare Bote unterwegs, der jeden Augenblick ihre Absicht vereiteln konnte – geschah es, daß binnen wenigen Minuten der kühne Mann und die reine Frau Hand in Hand vor dem sterbenden Pastor knieten, der mühsam den kraftlosen Arm zum Segen über sie erhob, während er die Worte murmelte, die sie auf ewig einander zu eigen gaben.

Adèle hatte sich im stillen, wie wohl jedes junge Mädchen, ihre Hochzeit ausgemalt. Oft hatte sie sich in ihren Träumen neben Amory vor dem Altar der Kapelle in der St. Martinsstraße knien sehen. Zuweilen hatte die Phantasie sie auch in eine der kleineren Provinzialkirchen versetzt, in eine jener Zufluchtsstätten, in denen eine Hand voll Bekenner sich versammelte und wohin ihre Gedanken diesen Höhepunkt des Frauenlebens verlegten. Wann aber hätte sie an eine solche Trauung, wie diese, gedacht: unter sich ein weißes, schwankendes Deck, über sich die schwirrenden Taue, das Mövengeschrei ringsumher statt das Kirchenchor, und ihr Hochzeitslied der uralte Sang der Wasser und Winde! Nie vergaß sie die geringste Einzelheit! Die gelben Masten, die gebauschten Segel so wenig wie das graue, erstarrende Gesicht des sterbenden Pastors und die hagern, ernsten Züge ihres Vaters, der ihn noch immer kniend unterstützte – dann Amory in seinem schon verschossenen, von Wind und Wetter beschädigten hellblauen Rock, Kapitän Savage mit seinem emporgerichteten Gesicht, das hölzerner aussah, denn je; und Amos mit den Händen in den Taschen und einem lustigen Blinzeln in den blauen Augen! Hinter dieser Gruppe standen der lange, magere Schiffsmaat Tomlinson mit den übrigen Matrosen, mit ihren Panamahüten und ernsthaften Gesichtern.

So war es denn geschehen, und gutgemeinte Glückwünsche in rauher, fremder Sprache, der Druck kräftiger, wetterharter Hände hatten das junge Paar begrüßt. Catinat und seine junge Frau lehnten nebeneinander am Schiffsrand, als alles vorüber war, und sahen, wie der schwarze Bug sich hob und senkte und wie das grüne Wasser an ihm vorüberschoß.

»Wie seltsam, unbegreiflich kommt mir alles vor,« sagte sie, »unsre Zukunft ist so ungewiß und dunkel, wie jene dunkeln Wolkenberge, die sich vor uns auftürmen.«

»Soweit es auf mich ankommt,« antwortete er, »soll deine Zukunft so froh und hell sein, wie der Sonnenschein, der über den schaumigen Kronen der Wellen tanzt. Die Heimat, die uns verstieß, liegt weit hinter uns, aber da drüben jenseits des Meeres wartet unser ein neues, schöneres Heimatland, und jeder Windhauch bringt uns ihm näher. Dort wohnt die Freiheit, und wir bringen Jugend und Liebe mit uns! Was kann Mann oder Weib mehr verlangen?«

So standen sie und plauderten, während leise die Dämmerung heraufzog und die ersten Sterne im dunkelnden Himmel zu schimmern begannen. Ehe jene Sterne wieder erblichen, fand an Bord des »Goldnen Reises« ein müder Pilger die ewige Ruhe, und der Pastor von Issigny war den zerstreuten Schäflein seiner Herde wiedergegeben.


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