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32. Kapitel – Problem der Liebe

Es gibt noch einen anderen Gesichtspunkt, von dem aus man diese Episode meines Lebens betrachten kann; ich will nicht davor zurückschrecken, auch ihn zu erörtern. Meiner Meinung nach ist es heuchlerisch und dumm von einem Mann, der die Geschichte seines Lebens schreibt, gerade das auszulassen, was vom psychologischen Standpunkt aus betrachtet am allerinteressantesten und aufklärendsten ist. Es wäre nicht schwer für mich, ein Buch über mich zu schreiben, das ein ganz falsches Bild von mir geben würde. Bis zu einem gewissen Grad habe ich es bereits einmal getan, und zwar mit Croslands Hilfe in »Oscar Wilde und Ich«. Als ich dieses Buch schrieb, hatte ich mir eingeredet, es enthalte ein wahres Bild von mir. In Wirklichkeit jedoch stellte es mich nur so dar, wie ich zu jener Zeit gern erscheinen wollte. In meinem Alter – und zumal ich glaube, daß der Kampf des Lebens bald für mich vorbei sein wird – lehne ich es entschieden ab, mich der vielen bequemen Deckmäntel und Masken zu bedienen, die die Konvention uns zur Verfügung stellt.

Aus Olives Briefen, die ich zitiert habe, und auch aus meiner Schilderung, wie sie meine Frau wurde, ist es wohl für jeden klar ersichtlich, daß ich die ganze Zeit eher der »Umworbene« als der »Werbende« war. Demgegenüber bin ich fest überzeugt, daß schließlich ich, als wir schon einige Zeit verheiratet waren, meine Frau inniger liebte als sie mich. Ich habe es ihr auch oft gesagt. Aber vor der Ehe umwarb sie mich mehr als ich sie. Die Gründe hierfür sind zweifacher Art. Erstens hatte ich es mir infolge der vielen Kränkungen, denen ich seit Jahren ausgesetzt war, zur Regel gemacht, niemals den Eindruck zu erwecken, als ob ich Annäherungsversuche machte, ganz gleich, ob es sich um eine Freundschaft oder eine Liebe oder eine bloße Bekanntschaft handelte. Zweitens hatte ich, weil ich so empfindlich gegen Beleidigungen geworden war, meine ganze Lebensweise so eingerichtet, daß es schwierig oder gar unmöglich war, mir Kränkungen zuzufügen.

Für eine eventuelle Heirat hatte ich mir folgende Richtlinien gemacht. Ich hatte mir fest vorgenommen, mich niemals um ein junges Mädchen aus meinen Kreisen zu bewerben oder sie zu bitten, mich zu heiraten. Sollte irgendein junges Mädchen mich heiraten wollen, so mußte sie alle die dazu nötigen Schritte selbst tun. Ich muß noch bemerken, daß ich mich damals nicht groß für junge Mädchen interessierte. Vor dem Wilde-Skandal hatte ich zwar sehr viele junge Damen auf Tanzgesellschaften oder in den Landhäusern, in denen ich häufig Gast war, kennengelernt, aber obgleich ich sie ganz gern hatte und sogar für zwei ein lebhafteres Interesse empfand, dachte ich doch nie daran, eine von ihnen zu heiraten.

Nach der Wilde-Affäre war ich zu der Überzeugung gekommen, daß ich niemals eine Engländerin würde heiraten können. Ich würde eine reiche Amerikanerin nehmen (es müßte unbedingt eine Amerikanerin sein), die eine Menge Geld besaß und mich wegen meines Titels und meines historischen alten Namens heiratete, und dann würde ich allen Leuten zeigen, wie leicht es im Grunde genommen sei, wenn man reich war, in jene hohen gesellschaftlichen Kreise wieder aufgenommen zu werden, aus denen ich teilweise verstoßen worden war. Ich brauche mich dieser wenig edlen Beweggründe nicht allzu sehr zu schämen, weil es ja doch immer nur bei Plänen blieb. Außerdem halte ich es für sehr unwahrscheinlich, daß ich jemals ein Mädchen geheiratet hätte, ohne es zu lieben, und wenn es noch so viele Millionen gehabt hätte. Der Mensch faßt allerlei Entschlüsse, aber letzten Endes kommt die Natur und sagt: »Schön, mache nur weiter deine Pläne, mein Kind, du wirst schon merken, wo ich mein Veto einlege.«

Daß ich überhaupt eine Engländerin heiratete, ist schon an und für sich erstaunlich. Um dieses Wunder zu vollführen, mußte ein junges Mädchen mich so innig lieben, daß es den Mut aufbrachte, der Gesellschaft die Stirn zu bieten und allen den daraus entstehenden Unannehmlichkeiten zu trotzen. Außerdem mußte sie die ersten Annäherungsversuche machen, und nicht nur die ersten, sondern eine ganze Menge der darauffolgenden. Obendrein darf man nicht vergessen, daß ich sehr wählerisch war und ein Mädchen niemals angesehen hätte, das nicht aus sehr guter Familie stammte, schön, außerordentlich sympathisch und sehr intelligent war und noch dazu Verständnis für Gedichte und Literatur besaß. Da ich immer ein schlechter Rechner war, will ich gar nicht erst versuchen, auszurechnen, wie viele Chancen ich hatte, ein Mädchen zu finden, das alle diese Bedingungen erfüllte! Und doch hatte sich ein solches gefunden!

Die zweite Ursache der außergewöhnlichen Begleitumstände unserer Heirat ist, glaube ich, in der oft unbegreiflichen Psychologie der Geschlechter zu suchen. Meiner Meinung nach ist jeder Mensch mehr oder minder zweigeschlechtig. Bis vor zwei oder drei Jahren habe ich immer mit Entrüstung und Zorn alle Andeutungen, daß ich irgend etwas Weibliches an mir hätte, zurückgewiesen. Schon als Kind brauchte jemand, wenn er mich ärgern wollte, nur eine solche Andeutung zu machen. In der Schule war ich immer so fest entschlossen, »männlich« zu sein, daß ich absichtlich im Winter zu leicht gekleidet umherlief. Lieber zitterte ich vor Kälte, als daß ich mich wärmer anzog, es sei denn, daß sich jemand die Mühe gab, darauf zu bestehen, was in der Schule natürlich nie vorkam. Obgleich ich von Natur ein nervöser und ängstlicher Junge war, zwang ich mich, unempfindlich gegen Schmerzen zu sein, und gewöhnte es mir an, keiner Gefahr, die mir drohte, auszuweichen. Harris spricht in seinem Buch, auf das ich so oft angespielt habe, von meinem »unsinnigen Mut« und meiner »aristokratischen Verachtung der Konventionen«.

Nun, in den letzten zwei oder drei Jahren, seitdem ich abseits vom Weltgetriebe lebe, habe ich Zeit gehabt, über alle diese Dinge nachzudenken, und bin zu dem Schluß gekommen, daß ich tatsächlich immer sehr viel Weibliches in meiner Natur gehabt habe. Ich bin sogar überzeugt, daß ich gerade dann Erfolg im Leben hatte, wenn ich meiner Natur treu blieb, das heißt, wenn ich dieser Seite meiner Natur gestattete, sich zu behaupten, oder mit anderen Worten: »mich gehen ließ«. Jeder sollte natürlich bestrebt sein, sich zu beherrschen und seine Natur im Zaum zu halten; aber zu versuchen, sie allzusehr zurückzudrängen, sie in falsche Bahnen zu leiten, ist meiner Meinung nach ein großer Fehler.

Es ist mir auch klar geworden, daß das, was Harris »unsinnigen Mut und aristokratische Gleichgültigkeit gegen die Konventionen« nennt, im Grunde genommen viel mehr weibliche als männliche Eigenschaften sind. Die Durchschnittsfrau ist viel tapferer als der Mann. Die gewöhnliche Art Mut – das heißt, der des Soldaten, der der Todesgefahr trotzt – ist eigentlich eine Eigenschaft, die die Männer zu allerletzt haben. Ich gebe natürlich zu, daß sie im Notfall diesen Mut aufbringen können und es dann auch ohne viel Aufhebens tun. Der moralische Mut fehlt den meisten Männern jedoch ganz. Unter tausend Männern gibt es vielleicht einen, der dem vollen Ansturm der öffentlichen Meinung die Stirn bieten würde. Frauen andererseits bringen diesen Mut auf, zum Beispiel, wenn sie lieben, oder wenn es gilt, ihre Kinder zu verteidigen. Ich dachte früher, daß der Engländer das moralisch feigste Geschöpf auf Gottes Erde sei. Aber ich glaube jetzt, daß ich ihm unrecht getan habe. Nicht allein die Engländer sind moralisch feige, sondern die Franzosen, die Italiener und andere Nationen. Die moralisch mutigsten Männer sind fast immer diejenigen, die viel Weibliches in ihrer Natur haben. Wiederum besitzen natürlich diese Männer jene Fehler, die von ihren guten Eigenschaften unzertrennlich sind.

Um die Psychologie des Geschlechts richtig zu beurteilen, muß man über der Tyrannei der Sinne stehen. Ich will nicht etwa damit sagen, daß man geschlechtlos oder vom geschlechtlichen Trieb frei sein muß. Ein Mann oder eine Frau, die wirklich so veranlagt sind, können gar nicht mitsprechen, geschweige denn etwas davon verstehen. Keuschheit ist für einen solchen Mann oder eine solche Frau keine Tugend, sondern einfach ein gleichgültiger Zustand. Aus religiösen Gründen habe ich seit vierzehn Jahren keusch gelebt, darum kann ich mich in dieser Beziehung objektiv beurteilen. Wenn ich von diesen ruhigen Höhen herabblicke, sehe ich, daß die leitenden Triebfedern in meinem Leben, als ich mitten im Strudel der Welt stand und ehe ich Katholik wurde, das Verlangen nach Bewunderung und die Gefallsucht waren. Früher hätte ich diese Feststellung mit Entrüstung zurückgewiesen, aber sie entspricht doch der Wahrheit. Jetzt, da es zu spät ist, begreife ich, daß diese Gefühle und Instinkte, die mir ganz natürlich waren und für die ich so wenig verantwortlich war wie für die Farbe meines Haars – doch auch mit absoluter Keuschheit und Reinheit verbunden, hätten existieren können. Wenn ich sage, sie hätten existieren können, sage ich zu wenig. Sie haben auch wirklich existiert und beeinflußten mich in vielen Fällen auch in geschlechtlicher Beziehung. Ob ich es wollte oder nicht, zog ich jahrelang beide Geschlechter gleich stark an. Als ich in Oxford war, litt ich sogar sehr unter der Eifersucht meiner Freunde. Jeder wollte durchaus als mein einziger Freund gelten. Es war für mich eine alltägliche Erfahrung, daß ein Freund mich vor dem anderen warnte, so alltäglich sogar, daß ich mich jedesmal, wenn es vorkam, heimlich vor Lachen schüttelte. Dann, wenn dieser Freund sich klar wurde (was oft nicht zu vermeiden war), daß er nicht mein alleiniger Freund war, nahm er es mir oft sehr übel und haßte mich zum Schluß.

Die Hauptursache, die mich zu dieser Zeit meines Lebens (etwa von 1900 bis 1902), der Epoche, die ich jetzt in meinen Memoiren erreicht habe, von den jungen Mädchen fernhielt, einige seltene zufällige Liaisons ausgenommen, ist wohl dem Umstand zuzuschreiben, daß ich mich nicht mit einem geringeren Grad von Bewunderung und Liebe und Anbetung zufrieden geben wollte als dem, den ich ohne irgendwelche bewußte Bemühungen meinerseits von unzähligen Freunden gewohnt war. Ich wollte auf keinen Fall ein Mädchen heiraten, das nicht mindestens ebenso für mich schwärmte wie meine Oxforder und späteren Freunde. Mit anderen Worten, ich war sehr verwöhnt und war wohl entschlossen – wenn ich überhaupt darüber nachdachte –, daß ich mich mit nichts Geringerem als mit der Crème de la crème der ehelichen Liebe zufrieden geben würde.

Da ich solche Empfindungen hegte (obgleich sie halb unbewußt waren), war es nicht verwunderlich, daß ich das erhielt, was ich wollte. Ebenso gewann ich die Freundschaft von Oscar Wilde, dem berühmtesten, geistreichsten Mann seiner Zeit. Ich habe niemals nach seiner Liebe gestrebt, wie Harris behauptet. Hätte Harris Wildes und meine Psyche besser verstanden, dann müßte er wissen, daß Wilde, gerade weil ich mich nicht im geringsten bemühte, sein Interesse zu erwecken, so vernarrt in mich wurde. Es bedurfte eines vollen Jahres angestrengtester Bemühungen und des Aufwandes seines ganzen außergewöhnlichen Intellekts, um mich so weit zu bekommen, daß ich nur halb so viel für ihn übrig hatte, wie er vom ersten Augenblick an für mich.

Bei Olive war es natürlich ganz anders. Ich verliebte mich Hals über Kopf in sie, nicht vielleicht auf den ersten Blick, aber schon nach einer sehr kurzen Bekanntschaft. Und später, nachdem wir bereits verheiratet waren, liebte ich sie sogar viel mehr als sie mich. Da war ich natürlich verloren, soweit meine Erhabenheit in ihren Augen in Frage kam. Als es so weit kam, war ich sehr unglücklich, aber ich weiß nicht, wie ich es hätte vermeiden oder ändern können. Und selbst wenn ich damals das gewußt hätte, was ich jetzt weiß, es hätte nur die Qual unserer Liebe noch verstärkt. Wie konnte ich wissen oder ahnen, daß ich gerade das, was sie am meisten an mir liebte, immerfort zu unterdrücken bestrebt war, das heißt, das Weibliche an mir. Sobald wir verheiratet waren, gab ich mir Mühe, das Männliche immer mehr zu betonen. Und je »männlicher« ich wurde, desto weniger gefiel ich Olive. Wenn ich auf jene Zeit zurückblicke, wird mir klar, daß sie fortwährend verzweifelt versuchte, mein wahres Selbst wiederzufinden, das sie geahnt, gesehen und geliebt hatte, und das jetzt nur hin und wieder einmal flüchtig zum Vorschein kam. Hätten wir uns nicht geheiratet, würden wir uns sicher unser ganzes Leben lang abgöttisch geliebt haben. Aber die Ehe, die meines Erachtens mit der Keuschheit verglichen eine »zweitbeste« Institution ist (darin stimme ich mit Paulus überein), hat unsere Liebe allmählich zerstört und vernichtet. Wenn ich sage, daß sie unsere Liebe vernichtete, so meine ich natürlich nur unsere Leidenschaft, denn die Liebe besteht heute noch zwischen uns. Mein einziger Trost ist, daß ich jetzt endlich überzeugt bin, Olives Enttäuschung wäre, wenn sie einen andern geheiratet hätte, noch schneller erfolgt und tausendmal grausamer und tiefer gewesen. Überdies, wer vermag ein verliebtes Paar zu überzeugen, daß sie ihre Liebe zueinander nur bewahren, wenn sie nicht heiraten, daß diese Liebe vom Augenblick ihrer Heirat an der Zerstörung entgegengeht? Doch bin ich ganz sicher, daß dies bei geistig hochstehenden Menschen der Fall ist:

»Love is a flame whose fuel is the flesh,
Which, burning in that unconsuming fire,
Distils the milky due of chaste desire
Whose secret sap wells ever sweet and fresh.« Liebe ist Flamme. Alle Sinne sind
Raub ihres Feuers, welches nicht zerstört
Und nie den keuschen Quell der Lust verzehrt,
Der ewig frisch aus ihren Gluten rinnt.

Erhebt man hier den Einwand, daß ich offensichtlich die Ehe herabsetzen wolle, dann erwidere ich nur, daß mir nichts ferner hegt. Ich stelle lediglich Tatsachen fest, die ich für Tatsachen halte. Ich wünschte es ebenso brennend wie jeder andere, daß die eheliche Liebe ewig sein könnte und sich nicht selbst verzehren würde. Daß sie nicht ewig ist und sich selbst verzehrt, ist ein Teil des über Adam und Eva ausgesprochenen Fluches, von dem wir uns nicht befreien können, es sei denn durch den Schmerz des Verzichts, aus dem eine andere Art Liebe geboren wird. Hierüber habe ich die gleiche Auffassung wie über die Hölle. Die modernen Menschen behaupten, die Hölle sei »undenkbar« und viel zu schrecklich, als daß sie wahr sein könnte. Aber gibt es überhaupt etwas so Furchtbares, daß man es sich nicht vorstellen könnte? Was hat es für einen Sinn, an etwas nicht zu glauben, weil es einem nicht gefällt?

Ähnlich verhält es sich vielleicht mit diesem furchtbarsten aller Flüche, nämlich mit der Unhaltbarkeit der ehelichen Liebe, der Unmöglichkeit, die Frau oder den Mann im gleichen Grad bis ans Lebensende zu heben. Vielleicht gibt es irgend etwas, was diesen Fluch schließlich aufzuheben und alles zum Guten zu wenden vermag. Zuweilen geschieht, nach großem Leid, auch wenn es selbst verschuldet ist, ein Wunder, und ein Born lebendigen Wassers quillt aus der Wildnis, und die Wüste frohlockt und blüht auf wie eine Rose.


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