Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

18. Kapitel – Gestohlene Briefe

Kurz nachdem ich das vorige Kapitel niederschrieb, hatte ich zufällig eine Unterhaltung mit Mr. Arthur Newton, dem Anwalt, der Alfred Taylor verteidigte, als dieser gleichzeitig mit Oscar Wilde verhaftet wurde. Ich hatte Mr. Newton seit wenigstens sechzehn Jahren nicht gesehen. Er erinnerte mich an eine Episode, die ich schon vollkommen vergessen hatte, daran nämlich, daß ich ihm seinerzeit fünfzig Pfund schickte und ihn bat, dafür die Verteidigung Alfred Taylors zu übernehmen. Taylor war niemals mein Freund, ich kannte ihn eigentlich kaum. Im Verlaufe der Beweisaufnahme bei dem Verfahren gegen Oscar Wilde wurde sogar, sehr zum Kummer des Anwalts der Gegenpartei, festgestellt, daß ich niemals Alfred Taylors Wohnung in der Great-College-Street betreten hatte. Taylor tat mir leid, weil er mittellos, ohne Freunde und ohne Verteidigung im Gefängnis saß. Damals schickte ich Mr. Newton den Scheck und bat ihn, sein möglichstes für Taylor zu tun, trotz der geringen Summe. Hätte Robert Ross von dieser Tatsache gewußt, hätte er sie ohne Zweifel bei dem Ransome-Prozeß gegen mich verwertet und sie als Beispiel meiner Verkommenheit hingestellt; auch dem Richter, Lord Darling, hätte sie noch einen Knüppel mehr in die Hand gegeben, mit dem er mich im Interesse der unparteiischen Gerechtigkeit hätte bearbeiten können. Aber zufällig ist diese anrüchige Tat bis auf den heutigen Tag in Dunkelheit gehüllt geblieben.

Oscar war ungefähr drei Wochen im Holloway-Gefängnis, ehe die Verhandlung im Old-Bailey vor dem Richter Charles begann. Am Tage vorher reiste ich ins Ausland, weil Sir Edward Clarke mich dringend darum bat, mit der Begründung, daß meine Gegenwart seinem Mandanten schädlich sei. Dabei bin ich fest überzeugt, daß es selbst damals noch möglich gewesen wäre, Oscar zu retten, wenn er mir meine flehentliche Bitte, als Zeuge auftreten zu dürfen, erfüllt hätte. Ich weigerte mich jedenfalls, England zu verlassen, ehe mich Oscar selber darum bat, und da er, der Ärmste, »ganz in den Händen seines Rechtsbeistands« war, bat er mich auch mündlich und schriftlich, ins Ausland zu reisen. Auf diese Weise verscherzte er unbewußt seine letzte und einzige Aussicht auf Freisprechung. Ich fuhr nach Calais und stieg im Terminus-Hotel ab. Von dort aus schickte ich ungefähr am dritten Tage nach meiner Ankunft ein Telegramm an Sir Edward Clarke, das gewisse Informationen enthielt, von denen er Gebrauch machen sollte; sie waren sehr kompromittierend für mich, aber ich wollte Oscar so gern nützen, und wieder bat ich ihn, als Zeuge auftreten zu dürfen. Die Antwort darauf war ein »ernster Verweis« von Wildes Anwälten, die mir mitteilten, daß mein Telegramm »im höchsten Grad unschicklich« gewesen sei und Sir Edward Clarke ganz aus der Fassung gebracht hätte. Zugleich beschwor man mich, keine weiteren Schritte zu unternehmen, »da sie Sir Edward Clarkes ohnehin sehr schwere Aufgabe nur noch mehr erschweren würden«. Noch heute aber bin ich fest überzeugt, daß ich Oscar freibekommen hätte, wenn es mir gestattet worden wäre, als Zeuge für ihn aufzutreten. So aber wurde Oscar noch einmal ins Gefängnis zurückgeschickt, um dort auf eine neue Verhandlung zu warten, weil die Geschworenen zu keinem Urteil kommen konnten.

Ein Antrag auf Entlassung gegen Kaution beim Kammergericht wurde diesmal bewilligt. Mein Bruder Percy leistete Bürgschaft für Oscar. Der andere Bürge war ein Geistlicher der anglikanischen Kirche, ein Mr. Stewart Headlam. Es kann jetzt niemandem mehr schaden, wenn ich hier die Tatsache erwähne, daß mein Bruder Mr. Headlam gegen einen etwaigen Verlust seines Geldes sicherstellen mußte, denn Headlam wäre, wenn Oscar die Flucht ergriffen hätte – was immerhin nicht ausgeschlossen war – ruiniert gewesen. So nahm denn Percy die Verantwortung für die ganze Summe – dreitausend Pfund – auf sich. Ich schrieb sofort an ihn und bat ihn, Oscar zu sagen, daß es ihm freistehe zu fliehen, wenn er wolle und könne. Mein Bruder erwiderte, es sei sein aufrichtiger Wunsch, daß Wilde sich aus dem Staube mache, und er erklärte sich gern bereit, »dem Höllenspektakel, der dann entstehen würde, die Stirn zu bieten«. Frank Harris traf die umständlichsten Vorbereitungen, um Oscar ungefährdet ins Ausland zu schaffen; er borgte eine Jacht (von einem Mitglied des Parlaments), die er fahrtbereit in einem Hafen Hegen Heß; dann lotste er Oscar eines Nachts in einen Wagen mit sehr schnellen Pferden und begab sich mit ihm auf die Fahrt nach dem Hafen, aber Oscar weigerte sich standhaft, auszurücken.

Er schrieb mir einen rührenden Brief, in dem er die Gründe für seine Weigerung auseinandersetzte. Mir kamen die Tränen, als ich ihn las; und heute noch kann ich nicht ohne Bewegung daran denken, aber ich habe seitdem mindestens hundertmal gedacht, daß er damals wahnsinnig gewesen sein muß, nicht abzufahren, und daß er im Grunde genommen durch eine Flucht mehr Mut gezeigt hätte als durch sein Bleiben. Oscar sagte in seinem Brief, daß er nicht »ausrücken« oder seine Bürgen »versetzen« könne (dabei wollte mein Bruder schon meinetwegen brennend gern, daß Oscar das Land verließe; Mr. Headlam hätte ja weiter keinen Verlust dadurch gehabt). Aber Oscar meinte: »Ein entehrter Name, das Leben eines Gejagten und Verbannten sind nichts für mich, für einen Menschen, dem du auf jenen klaren Höhen der Schönheit offenbart wurdest.« Er dachte auch, der Ärmste, daß er »ganz gute Aussichten« habe, bei der zweiten Verhandlung freigesprochen zu werden. Wenn er Sir Edward Clarke »versetzt«, sich selbst verteidigt und mich als Zeuge gehabt hätte, wäre vielleicht noch eine schwache Aussicht für einen günstigen Ausgang gewesen, aber so, wie die Dinge standen, war nicht die geringste Hoffnung mehr auf einen Freispruch. Bis zuletzt drang ich in ihn, zu fliehen, und erwartete ihn jeden Augenblick in Paris, sogar damals noch, als ich jenen Brief an ihn schrieb, den Harris als ein Beispiel meiner Herzlosigkeit zitiert, weil ich darin sagte, daß der junge Charlie Hickey – der Sohn des Oberst Hickey – bei mir sei (ein sehr netter Junge, ungefähr zwei Jahre jünger als ich, den Oscar sehr gut kannte). Harris sagt in seinem »Neuen Vorwort« zu »Oscar Wilde, eine Lebensbeichte«, daß Ross ihm die Hickey-Episode ganz falsch dargestellt hätte, und drückt sein Bedauern aus für das Unrecht, das er mir mit seiner irreführenden Schilderung angetan hat.

Als Oscar gegen Kaution aus der Haft entlassen wurde, ging er mit meinem Bruder in ein Hotel und mietete sich dort Zimmer. Doch mein Vater – ich schäme mich heute noch, daß er einer solchen Niederträchtigkeit fähig war, obgleich sein Freund Sir Claude de Crespigny anscheinend seine Handlung für eine lobenswerte hält, auf die man stolz sein müsse – hatte nichts Eiligeres zu tun, als in Oscars Hotel zu gehen und ihn bei dem Besitzer zu denunzieren. Oscar wurde natürlich sofort hinausgeworfen. Er ging dann nach dem Hause seiner Mutter in der Oakley-Street. Sein Bruder Willy, der damals dort wohnte, nahm ihn für eine Nacht auf. In dieser Zeit erbot sich ein jüdisches Ehepaar, Mr. und Mrs. Leverson, Oscar in ihrem behaglichen Heim in Courtfield Gardens zu beherbergen. Er blieb auch bis zu seiner Verurteilung dort. Mrs. Leverson (die »Sphinx«, wie Oscar sie scherzhaft nannte; der Name ist ihr seitdem geblieben) ist als ausgezeichnete und geistreiche Schriftstellerin bekannt. Sie und ihr Gatte zeigten in dieser Zeit einen nachahmungswürdigen Opfermut, feines Taktgefühl und auch – wie ich wohl hinzufügen darf – christliche Nächstenliebe. Die Menschen, die in diesem toleranten, oder besser ausgedrückt, vielleicht weniger bornierten Zeitalter leben, können sich keine Vorstellung machen, welcher Mut damals dazu gehörte, sich mit Oscar Wilde sehen zu lassen oder überhaupt irgend etwas mit ihm zu tun zu haben.

Oscar und ich schrieben uns, während er bei Leversons wohnte, täglich. Wo mögen eigentlich alle diese Briefe sein? Ich weiß, daß Ross – ich werde später darauf zurückkommen – eine große Anzahl meiner Briefe an Wilde stahl oder »heimlich an sich nahm«, um Falstaff zu zitieren. Alle diejenigen, die mir irgendwie schaden oder meinen Ruf untergraben konnten, verwertete er natürlich gegen mich. Aber er muß doch auch eine ganze Menge besessen haben, die wenigstens gezeigt hätten, wie bereit ich damals war, meine eigenen Interessen, meine persönliche Sicherheit und selbst meine Ehre für Oscar zu opfern, um ihm zu helfen. Da es aber Ross bei dem Ransome-Prozeß darauf ankam, zu beweisen, daß ich Wilde »verlassen« und »ruiniert« hätte, wurden diese Briefe selbstverständlich unterschlagen. Wo sind sie jetzt? frage ich. Als ich im Jahre 1922 meine Klage gegen die »Evening News« gewann, fügten die Geschworenen ihrem Urteil den Zusatz hinzu, daß meine Briefe mir entweder zurückerstattet oder zumindest vernichtet werden müßten. Meine Anwälte, Carter & Bell, schrieben an die Anwälte Lewis & Lewis und ersuchten sie, der Aufforderung der Geschworenen nachzukommen. Lewis & Lewis antworteten, daß die Briefe »nicht in ihrem Besitz« seien. Mr. Comyns Carr, mein damaliger Verteidiger, riet mir, mich an den Obersten Gerichtshof zu wenden, um es durchzusetzen, daß die Briefe entweder vernichtet oder mir zurückgegeben würden, aber meine Erfahrungen mit den Richtern ermutigten mich nicht zu diesem Schritt. Ich wußte, daß ich nichts als zynische Gerechtigkeit von ihnen zu erwarten hatte. Überdies sagte mir Rechtsanwalt Carr, daß es jetzt im Grunde genommen ganz gleichgültig sei, in wessen Händen die Briefe sich befänden, da sie nach dem letzten Urteil der Geschworenen nie wieder gegen mich benutzt werden könnten, ohne vernichtende Folgen für die Gegenpartei zu haben. Darum habe ich keine Schritte unternommen, um diese Briefe zurückzubekommen. Ich möchte mir aber bei dieser Gelegenheit die Bemerkung erlauben, daß es eine anerkennenswerte Handlung des Besitzers oder der Besitzerin der Briefe wäre, sie mir nun zurückzuerstatten. Nichts würde Wilde besser rehabilitieren als die Veröffentlichung aller Briefe, die er und ich ausgetauscht haben. Bisher aber sind nur leider gerade die wenigen bekannt geworden, (zuerst durch meinen Vater, dann durch Robert Ross), die uns schaden mußten. Die bereits veröffentlichten können höchstens fünf Prozent der ganzen Zahl sein. Ich selbst vernichtete mindestens hundertfünfzig von Oscars Briefen und behielt nur die völlig farblosen, die alle in Amerika bei Andrews Clark erschienen sind. Von meinen Briefen an Wilde, die auch eine ganz stattliche Zahl erreicht haben müssen, sind nur die paar bekannt, die auf Ross' Antrag bei dem Ransome-Prozeß verlesen wurden. Ross besaß jedoch einen viel zu ausgeprägten kaufmännischen Sinn, um die übrigen zu vernichten. Wieder frage ich also: Wo sind sie, und was hindert den Betreffenden, der sie jetzt in Händen hat, sie mir zurückzugeben oder sie zu veröffentlichen?

Die Frage des Eigentumsrechts bei Briefen könnte auch als ein Beispiel jener Auffassung gelten, die die Engländer »unenglisch« nennen, die ich aber für typisch englisch halte. Oscar Wildes Briefe und die meines Vaters an mich können ohne weiteres gestohlen und in den Händen jener Personen bleiben, die kein Geheimnis daraus machen und sie behalten, um sie gegebenenfalls gegen mich zu verwerten. Warum dürfen diese Briefe, die mein Eigentum sind, im Besitz eines anderen bleiben? Dasselbe gilt auch von dem ganzen Manuskript von De Profundis (den »unveröffentlichten Teil« inbegriffen), denn es ist nichts weiter als ein von Wilde im Gefängnis geschriebener, an mich gerichteter Brief. Er beginnt mit »Lieber Bosie« und endet »Dein Dich liebender Freund Oscar Wilde«. Ross hat diesen Brief einfach an sich genommen und behalten und mir außerdem zwölf Jahre lang seine Existenz verschwiegen. Er sagt in einem seiner Vorworte, daß Wilde ihm den Brief gab, als er aus dem Zuchthaus kam, aber Ross hat niemals auch nur versucht, mir eine Erklärung für sein Benehmen zu geben, nicht einmal eine Abschrift des Briefes hat er mir geschickt. Jedenfalls gehört das ursprüngliche Manuskript, das jetzt im Britischen Museum ruht und natürlich einen beträchtlichen Wert besitzt, in Wirklichkeit mir. Warum darf das Britische Museum etwas behalten, was mein Eigentum ist? In derselben Weise können Briefe, die ich an meinen Vater, an Wilde, an Ross und andere schrieb, gegen mich bei Gericht vorgebracht werden und auch unbestimmte Zeit in den Händen meiner Feinde bleiben. Anscheinend gehören Wildes und meines Vaters Briefe an mich jedem, dem es gelingt, ihrer habhaft zu werden, und dasselbe gilt für die Briefe, die ich eigenhändig geschrieben habe!


 << zurück weiter >>