F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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III

» ... Und Ihre einstweilige Muße konnten Sie, mein lieber, unvergeßlicher Arkadij Makarowitsch, gar nicht vorteilhafter verwenden, als Sie es jetzt durch die Niederschrift Ihrer ›Aufzeichnungen‹ getan haben! Sie haben sich sozusagen über Ihre ersten stürmischen, gewagten Schritte auf der Lebensbahn mit vollem Bewußtsein Rechenschaft abgelegt. Ich glaube bestimmt, daß Sie durch diese Darlegung tatsächlich in vieler Hinsicht ›an Ihrer eigenen Erziehung haben arbeiten und sich umbilden‹ können, wie Sie sich selbst ausgedrückt haben. Eigentlich kritische Bemerkungen zu machen, erlaube ich mir selbstverständlich nicht im geringsten, obgleich jede Seite einem zum Nachdenken Anlaß gibt ... zum Beispiel ist der Umstand, daß Sie das Schriftstück so lange und so hartnäckig in Ihrem Besitz behalten haben, im höchsten Grade charakteristisch ... Aber das ist nur eine Bemerkung unter Hunderten, die ich so für mich gemacht habe. Sehr zu schätzen weiß ich es auch, daß Sie mir, und anscheinend mir allein – nach ihrem eigenen Ausdruck – ›das Geheimnis Ihrer Idee‹ haben mitteilen mögen. Aber Ihre Bitte, Ihnen meine Meinung speziell über diese ›Idee‹ kundzutun, muß ich entschieden abschlagen: erstens ist in einem Brief kein Raum dafür, und zweitens bin ich selbst bei mir noch nicht mit der Antwort im reinen, sondern muß die Sache erst noch gründlich verdauen. Ich bemerke nur, daß Ihre ›Idee‹ sich durch Originalität auszeichnet, während die jungen Leute der jetzigen Generation sich größtenteils auf Ideen werfen, die sie nicht selbst ersonnen, sondern fertig vorgefunden haben, und der Vorrat an solchen Ideen ist nur recht klein, und zudem sind sie häufig auch gefährlich. Durch Ihre ›Idee‹ sind Sie zum Beispiel wenigstens für einige Zeit vor den Ideen der Herren Dergatschew u. Co. bewahrt geblieben, die ohne Zweifel nicht so originell sind wie die Ihrige. Und endlich bin ich höchst einverstanden mit der Meinung der hochverehrten Tatjana Pawlowna, einer Dame, die ich zwar bereits persönlich kannte, aber bisher nicht imstande war in dem Maße zu schätzen, wie sie es verdient. Daß Sie, worauf sie dringt, in die Universität eintreten, wird für Sie im höchsten Grade segensreich sein. Die Wissenschaft und das Leben werden zweifellos in drei, vier Jahren den Horizont Ihrer Gedanken und Bestrebungen noch erweitern, und wenn Sie nach Beendigung des Universitätsstudiums den Wunsch haben sollten, sich von neuem Ihrer ›Idee‹ zuzuwenden, so wird dem nichts im Wege stehen.

Gestatten Sie jetzt, daß ich selbst, sogar ohne von Ihnen darum gebeten zu sein, Ihnen offenherzig einige Gedanken und Empfindungen vortrage, die die Lektüre Ihrer so offenherzigen ›Aufzeichnungen‹ in meinem Kopf und in meiner Seele wachgerufen hat. Ja, ich stimme Andrej Petrowitsch darin bei, daß man tatsächlich für Sie wegen der Vereinsamung Ihrer Jugend Befürchtungen hegen konnte. Es gibt solche Jünglinge wie Sie nicht wenige, und ihre Fähigkeiten drohen wirklich immer sich nach der schlechten Seite hin zu entwickeln: entweder zu der Kriecherei eines Moltschalin oder zu dem heimlichen Verlangen nach Unordnung. Aber dieses Verlangen nach Unordnung entspringt vielleicht – und zwar sogar in den allermeisten Fällen – aus einem heimlichen Durst nach Ordnung und ›edler Schönheit‹ (ich gebrauche Ihren eigenen Ausdruck). Die Jugend ist schon deshalb rein, weil sie eben Jugend ist. Vielleicht steckt in diesen so frühen Ausbrüchen von Unverstand gerade dieser Durst nach Ordnung und dieses Suchen nach Wahrheit, und wer ist denn schuld daran, daß manche jungen Leute der Gegenwart diese Wahrheit und diese Ordnung in so dummen, lächerlichen Dingen sehen, daß man gar nicht begreift, wie sie überhaupt daran haben glauben können! Ich bemerke beiläufig, daß man früher, in noch gar nicht weit zurückliegender Zeit, noch vor einem Menschenalter, diese interessanten Jünglinge nicht so besonders zu bedauern brauchte, weil die Sache damals bei ihnen fast immer damit endete, daß sie sich nachher erfolgreich unserer höchsten Kulturschicht anschlossen und mit ihr zu einem Ganzen verschmolzen. Und mochten sie sich auch zum Beispiel am Anfang des Weges ihrer ganzen Unordnung und Zufälligkeit, des gänzlichen Mangels an Vornehmheit wenigstens in ihren Familienverhältnissen und des Mangels an einer Stammestradition und an schönen, vollendeten Formen bewußt sein, so war das doch gerade um so besser, da sie infolgedessen nachher aus eigenem Antrieb bewußt danach trachteten und es eben dadurch schätzen lernten. Heutzutage liegen die Dinge schon wesentlich anders – eben deswegen, weil es so gut wie nichts gibt, woran sie sich anschließen könnten.

Ich will das durch einen Vergleich oder sozusagen durch den Hinweis auf etwas Ähnliches verdeutlichen. Wenn ich ein russischer Romanschriftsteller wäre und Talent besäße, so würde ich meine Helden unbedingt aus dem russischen Erbadel entnehmen, da nur bei diesem einen Typ von gebildeten Russen wenigstens ein Schein von schöner Ordnung und schönem Gefühlsleben zu finden ist, Dinge, die in einem Roman zu einer guten, veredelnden Wirkung auf den Leser unentbehrlich sind. Wenn ich das sage, so meine ich es durchaus nicht scherzhaft, obgleich ich selbst ganz und gar kein Adliger bin, was Ihnen übrigens selbst bekannt ist. Schon Puschkin hat sich in den ›Traditionen einer russischen Familie‹ Stoffe für seine künftigen Romane angemerkt, und Sie können mir glauben, daß dort tatsächlich alles zu finden ist, was es bei uns bisher Schönes gegeben hat. Wenigstens ist dort alles zu finden, was es bei uns auch nur einigermaßen Fertiges gegeben hat. Ich sage das nicht, weil ich so unbedingt von der Richtigkeit und Wahrheit dieser Schönheit überzeugt wäre; aber hier gab es zum Beispiel schon längst vollendete Formen des Ehr- und Pflichtbegriffs, von dem außerhalb des Adels in Rußland nichts Vollendetes, ja nicht einmal ein erster Anfang vorhanden ist. Ich rede als ruhiger, ruheliebender Mensch.

Ob der dort bestehende Ehr- und Pflichtbegriff gut und richtig ist – das bleibt eine andere Frage; aber das wichtigste ist für mich gerade die Vollendung der Form und die wie auch immer beschaffene Ordnung, und zwar eine Ordnung, die ihnen nicht vorgeschrieben ist, sondern die sie sich vor allen Dingen selbst erworben haben. O Gott, das allerwichtigste ist eben bei uns eine wie auch immer beschaffene, aber vor allen Dingen eigene Ordnung! Darin lag unsere Hoffnung und sozusagen unser Augentrost: endlich wenigstens etwas Aufgebautes, nicht dieses ewige Einreißen, nicht die überall umherfliegenden Späne, nicht Schutt und Staub, aus denen nun schon seit zweihundert Jahren sich nichts entwickelt.

Beschuldigen Sie mich nicht, ein Slawophiler zu sein; ich sage das nur so aus Misanthropie, weil mir schwer ums Herz ist! Jetzt, seit kurzem, geht bei uns etwas vor, was das volle Widerspiel zu dem oben Geschilderten ist. Der Schutt wächst nicht mehr an die höhere Menschenschicht an, sondern im Gegenteil lösen sich von dem schönen Typus mit vergnügter Eilfertigkeit Stückchen und Bröckelchen ab und bilden herabfallend mit den Freunden der Unordnung und den Neidern einen gemeinsamen Haufen. Und es kommt keineswegs nur in vereinzelten Fällen vor, daß die Väter, die Stammhalter alter kultivierter Familien, selbst schon über das lachen, woran ihre Kinder vielleicht noch glauben würden. Ja noch mehr: sie zeigen ihren Kindern mit Begeisterung ihre gierige Freude an dem plötzlich entdeckten Recht auf Ehrlosigkeit, das sie jetzt in Massen aus irgend etwas abgeleitet haben. Ich spreche nicht von den echten Fortschrittsmännern, liebster Arkadij Makarowitsch, sondern nur von jenem unzähligen Gesindel, auf das der Ausspruch zutrifft: Grattez le Russe et vous verrez le tartare. Und glauben Sie mir, echte Liberale, echte, hochherzige Freunde der Menschheit, gibt es bei uns überhaupt nicht so viele, wie wir auf einmal geglaubt hatten.

Aber das alles ist Philosophie: kehren wir zu dem Romanschriftsteller zurück, den wir uns vorstellten! Die Lage unseres Romanschriftstellers würde in einem solchen Fall eine eng umschränkte sein: er könnte in keinem andern Genre schreiben als im historischen, denn der schöne Typus existiert in unserer Zeit nicht mehr, und wenn auch Reste von ihm übrig sind, so sind sie doch nach der jetzt herrschenden Meinung nicht im Besitz der Schönheit verblieben. Oh, im historischen Genre kann man noch eine Menge höchst erfreulicher, wohltuender Einzelheiten schildern! Man kann den Leser sogar dermaßen mit sich fortreißen, daß er das historische Gemälde als etwas auch in der Gegenwart noch Mögliches ansieht. Ein solches von einem hochbegabten Schriftsteller verfaßtes Werk würde nicht so sehr der russischen Literatur als vielmehr der russischen Geschichte angehören. Das wäre ein künstlerisch vollendetes Bild einer russischen Luftspiegelung, die aber für den Leser etwas tatsächlich Existierendes sein würde, bis er einsähe, daß es eben eine Luftspiegelung ist. Der Enkel jener Helden, die in dem Bilde dargestellt wären, welches uns eine russische Familie vom Durchschnitt der oberen Bildungsstufe im Laufe dreier aufeinanderfolgender Generationen und im Zusammenhang mit der russischen Geschichte vor Augen führte, dieser Sprößling seiner Ahnen könnte in seinem modernen Typ nur als ein etwas misanthropischer, vereinsamter und zweifellos trübsinniger Mensch dargestellt werden. Er müßte sogar als eine Art Sonderling erscheinen, so daß der Leser in ihm auf den ersten Blick einen Menschen erkennen könnte, der vom Schlachtfeld gewichen ist und nichts mehr zu hoffen hat. Und in noch späterer Zeit wird auch dieser misanthropische Enkel verschwinden; neue, noch unbekannte Persönlichkeiten und eine neue Luftspiegelung werden erscheinen; aber was für Persönlichkeiten werden das sein? Wenn sie unschön sind, so ist in Zukunft der russische Roman ein Ding der Unmöglichkeit. Aber ach, wird dann nur der Roman ein Ding der Unmöglichkeit sein?

Statt mich in die Ferne zu verlieren, kehre ich zu Ihrem Manuskript zurück. Betrachten Sie zum Beispiel die beiden Familien des Herrn Wersilow (Sie müssen mir diesmal schon erlauben, ganz offenherzig zu reden). Erstens: über Andrej Petrowitsch selbst will ich nicht weiter sprechen; aber immerhin ist er doch das Oberhaupt eines adligen Geschlechts. Er ist ein Edelmann vom alten Schlage und gleichzeitig ein Pariser Kommunard. Er ist eine echte Dichternatur und liebt Rußland, aber dafür negiert er es auch vollständig. Er ist ohne alle Religion, aber er ist beinahe imstande, für etwas ganz Unbestimmtes zu sterben, das er nicht einmal zu benennen weiß, aber an das er nach dem Vorbild vieler russisch-europäischer Zivilisatoren der Petersburger Periode der russischen Geschichte leidenschaftlich glaubt. Aber genug von ihm selbst; sehen wir nun seine legitime Familie an: von seinem Sohn will ich gar nicht reden, er ist dieser Ehre nicht würdig. Wer Augen im Kopfe hat, der weiß im voraus, wohin solche Buben schließlich geraten und, nebenbei gesagt, auch manchen mit sich reißen. Aber da ist seine Tochter Anna Andrejewna – entschieden ein Mädchen mit festem Charakter. Eine Persönlichkeit von der energischen Art der Äbtissin Mitrofanija – selbstverständlich traue ich ihr keine verbrecherische Handlung zu; das wäre von meiner Seite eine Ungerechtigkeit. Wenn Sie mir jetzt sagen könnten, Arkadij Makarowitsch, daß diese Familie eine zufällige Erscheinung sei, so würde ich mich von Herzen freuen. Aber sollte nicht im Gegenteil die Annahme richtiger sein, daß schon eine große Menge solcher unzweifelhaft altadliger russischer Familien mit unwiderstehlicher Gewalt in die Gattung der zufälligen Familien übergehen und mit ihnen in allgemeiner Unordnung und Verwirrung zusammenfließen? Den Typ dieser zufälligen Familie zeigen zum Teil auch Sie selbst in Ihrem Manuskript. Ja, Arkadij Makarowitsch, Sie sind ein Mitglied einer zufälligen Familie, im Gegensatz zu den noch vor nicht allzu langer Zeit bei uns bestehenden legitimen adligen Typen, die eine von der Ihrigen so verschiedene Kinder- und Knabenzeit gehabt haben.

Ich muß gestehen, ich möchte kein Romanschriftsteller sein, dessen Held zu einer zufälligen Familie gehört.

Das ist eine undankbare Arbeit, und sie ermangelt der schönen Form. Und ferner sind diese Typen jedenfalls etwas noch im Werden Begriffenes und können darum nicht in künstlerisch vollendeter Weise dargestellt werden. Es besteht die Möglichkeit, daß man bedeutende Fehler begeht, dies und das übertreibt, dies und das übersieht. Jedenfalls erwüchse einem die Aufgabe, sehr vieles zu erraten. Aber was soll am Ende ein Schriftsteller tun, der keine Lust hat, nur im historischen Genre zu schreiben, und von Schmerz über die gegenwärtige Entwicklung erfüllt ist? Er muß zu erraten suchen und ... sich irren.

Aber solche ›Aufzeichnungen‹ wie die Ihrigen könnten, glaube ich, als Material für ein künftiges Kunstwerk, für ein künftiges Bild einer unordentlichen, aber bereits vergangenen Periode dienen. Oh, wenn der Zorn des Tages vorbei ist und die Zukunft anbricht, dann wird ein zukünftiger Künstler sogar für die Darstellung der vergangenen Unordnung und Verwirrung schöne Formen finden. Dann, dann wird man solche ›Aufzeichnungen‹ wie die Ihrigen nötig haben, und sie werden ein brauchbares Material liefern – trotz all ihrer Verwirrung und Zufälligkeit, wenn sie nur aufrichtig sind ... Es werden doch wenigstens ein paar richtige Züge darin stecken, so daß man aus ihnen erraten kann, was in der Seele manches Jünglings in der damaligen trüben Zeit verborgen lag – eine Kenntnis, die nicht ganz wertlos ist, denn aus denen, diesen Jünglingen, bilden sich die Generationen ...«


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