F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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Dreizehntes Kapitel

Schluß

I

Jetzt liegt diese Szene schon fast ein halbes Jahr zurück, und viel Wasser ist seitdem ins Meer geflossen; vieles hat sich vollständig verändert, und für mich hat schon lange ein neues Leben begonnen ... Aber ich will das auch dem Leser auseinandersetzen.

Für mich wenigstens war sowohl damals als auch noch lange nachher die wichtigste Frage diese: wie konnte Wersilow mit einem solchen Menschen wie Lambert gemeinsame Sache machen, und welches Ziel hatte er dabei eigentlich im Auge? Allmählich habe ich darüber einigermaßen Klarheit gewonnen: meiner Ansicht nach konnte Wersilow in jenen Augenblicken, das heißt an jenem ganzen letzten Tag und am vorhergehenden, gar kein festes Ziel im Auge haben; ja ich glaube, er hat überhaupt keine Überlegungen angestellt, sondern unter der Einwirkung eines Wirbelsturmes von Gefühlen gehandelt. Daß er übrigens wirklich wahnsinnig gewesen wäre, halte ich nicht für richtig, um so weniger, als er auch jetzt keineswegs wahnsinnig ist. Aber das »Doppelgängertum« halte ich unbedingt für gegeben. Was ist das eigentlich, das Doppelgängertum? Das Doppelgängertum ist, wenigstens nach der Ansicht eines medizinischen Experten, dessen Buch ich später eigens durchgelesen habe, nichts anderes als der erste Grad einer schon ernstlichen Geistesstörung, die zu einem recht üblen Ende führen kann. Auch Wersilow selbst hatte uns in jener Szene bei Mama diese damalige »Spaltung« seiner Gefühle und seines Willens mit erschreckender Offenherzigkeit auseinandergesetzt. Aber ich wiederhole nochmals: jene Szene bei Mama, jene Zerschmetterung des Heiligenbildes, trug sich zwar unstreitig unter der Einwirkung eines echten Doppelgängertums zu, aber es ist mir seitdem immer so vorgekommen, als habe sich zum Teil auch eine Art von schadenfroher Sinnbildlichkeit mit eingemischt, eine Art Haß auf die Erwartungen dieser Frauen, eine Art Zorn gegen ihre Rechte und gegen ihre Stellung als seine Richterinnen, und als hätten sie beide, er und der Doppelgänger, jeder zur Hälfte das Heiligenbild zerschlagen! Es war, als hätte er sagen wollen: ›So werden auch eure Erwartungen zerschmettert werden!‹ Kurz, wenn dabei auch das Doppelgängertum mitwirkte, so war doch auch einfach Mutwille mit im Spiel ... Aber das alles ist nur eine Vermutung von mir; eine sichere Entscheidung dieser Frage ist schwierig.

Allerdings steckte in ihm, obwohl er Katerina Nikolajewna vergötterte, doch immer ein höchst aufrichtiger, tiefer Unglaube an ihre sittlichen Vorzüge. Ich meine bestimmt, er hat damals hinter der Tür mit Spannung darauf gewartet, daß sie sich vor Lambert erniedrigen würde. Aber wollte er das, selbst wenn er darauf wartete? Ich wiederhole es noch einmal: ich bin der festen Überzeugung, daß er damals nichts wollte und nicht einmal Überlegungen anstellte. Er wollte weiter nichts als da sein, dann hervorstürzen, ihr etwas sagen und vielleicht – vielleicht auch sie beleidigen, vielleicht auch sie töten ... Es konnte sich damals alles mögliche zutragen; nur wußte er, als er mit Lambert hinkam, nichts von dem, was geschehen würde. Ich füge hinzu, daß der Revolver Lambert gehörte, er selbst aber ohne Waffe gekommen war. Als er aber ihr würdevolles, stolzes Benehmen sah und vor allem durch die Gemeinheit des sie bedrohenden Lambert in Empörung versetzt wurde, da stürzte er hervor – und darauf verlor er den Verstand. Ob er sie in jenem Augenblick erschießen wollte? Meiner Ansicht nach wußte er das selbst nicht, aber er hätte sie sicherlich erschossen, wenn wir nicht seine Hand beiseite geschlagen hätten.

Seine Wunde erwies sich nicht als tödlich und heilte; aber er mußte recht lange liegen – natürlich in Mamas Wohnung. Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, ist draußen Frühling, Mitte Mai, ein herrlicher Tag, und die Fenster sind bei uns geöffnet. Mama sitzt neben ihm; er streichelt mit der Hand ihre Wangen und Haare und blickt ihr voller Rührung in die Augen. Oh, das ist nur noch die Hälfte des früheren Wersilow; von Mama geht er jetzt nicht fort und wird er nie mehr fortgehen. Er hat sogar die »Gabe der Tränen« empfangen, wie sich der unvergeßliche Makar Iwanowitsch in seiner Geschichte von dem Kaufmann ausgedrückt hatte; übrigens scheint mir, daß Wersilow noch lange leben wird. Uns gegenüber benimmt er sich jetzt ganz harmlos und offenherzig wie ein Kind, ohne jedoch sein maßvolles Wesen und seine Selbstbeherrschung aufzugeben und ohne überflüssige Worte zu machen. Sein ganzer Geist und seine ganze moralische Anschauungsweise sind unverändert geblieben, obwohl alles, was an idealen Auffassungen in ihm lebte, noch stärker hervorgetreten ist. Ich sage geradeheraus, daß ich ihn niemals so liebgehabt habe wie jetzt, und es tut mir leid, daß mir weder Zeit noch Platz bleibt, um mehr über ihn zu sagen. Indessen will ich doch einen Vorfall erzählen, der sich neulich zugetragen hat (es haben sich viele ähnliche ereignet): zu den Großen Fasten war er schon wieder genesen und erklärte in der sechsten Woche, er wolle sich durch Fasten und Kirchenbesuch zum Abendmahl vorbereiten. Das hatte er, glaube ich, seit dreißig Jahren oder noch länger nicht getan. Mama freute sich sehr; es wurden nun Fastenspeisen bereitet, jedoch ziemlich teure, feine. Ich hörte vom Nebenzimmer aus, wie er am Montag und Dienstag vor sich hinsang: »Siehe, der Bräutigam kommt«, und von der Melodie und dem Text entzückt war. An diesen beiden Tagen sprach er mehrmals sehr schön über Religion, aber am Mittwoch stellte er diese fromme Vorbereitung plötzlich ein. Es hatte ihn auf einmal irgend etwas irritiert, irgendein »amüsanter Kontrast«, wie er sich lachend ausdrückte. Irgend etwas in dem Äußern des Geistlichen, in dem kirchlichen Milieu hatte ihm mißfallen; aber er sagte nur, sobald er nach Hause zurückgekehrt war, mit einem stillen Lächeln: »Meine Freunde, ich liebe Gott sehr, aber ich bin dazu nicht geeignet.« Gleich an demselben Tage gab es zu Mittag Roastbeef. Aber ich weiß, daß Mama sich auch jetzt häufig neben ihn setzt und mit leiser Stimme und einem stillen Lächeln mit ihm manchmal von ganz abstrakten Gegenständen zu reden anfängt; jetzt hat sie auf einmal ihm gegenüber Mut gefaßt, aber wie das gekommen ist, das weiß ich nicht. Sie setzt sich neben ihn und spricht mit ihm, meist im Flüsterton. Er hört lächelnd zu, streichelt ihr Haar, küßt ihre Hände, und die vollste Glückseligkeit leuchtet auf seinem Gesicht. Manchmal kommen bei ihm auch Anfälle vor, die beinahe einen hysterischen Charakter haben. Er nimmt dann ihre Photographie, eben jene, die er an jenem Abend geküßt hat, blickt sie unter Tränen an, küßt sie, überläßt sich seinen Erinnerungen und ruft uns alle zu sich, aber reden tut er in solchen Augenblicken nur wenig ... Katerina Nikolajewna scheint er vollständig vergessen zu haben und hat ihren Namen nicht ein einziges Mal mehr erwähnt. Über seine Eheschließung mit Mama ist ebenfalls bei uns noch kein Wort gesprochen worden. Es war beabsichtigt, ihn zum Sommer ins Ausland zu bringen, aber Tatjana Pawlowna war entschieden dagegen, und er hatte auch selbst keine Lust. Sie werden statt dessen in einer Sommerfrische auf dem Lande leben, in der Umgegend von Petersburg. Beiläufig bemerkt: wir leben einstweilen sämtlich von Tatjana Pawlownas Vermögen. Ich füge noch eines hinzu: es tut mir schrecklich leid, daß ich mir im Laufe dieser Aufzeichnungen oft erlaubt habe, von diesem weiblichen Wesen respektlos und von oben herab zu reden. Aber beim Schreiben habe ich mich selbst so dargestellt, wie ich in jedem der Zeitpunkte war, die ich schilderte. Während ich nun diese Aufzeichnungen zum Abschluß bringe und die letzten Zeilen niederschreibe, ist es mir auf einmal zum Bewußtsein gekommen, daß ich gerade durch den Prozeß des Ins-Gedächtnis-Zurückrufens und Niederschreibens an meiner eigenen Erziehung gearbeitet und mich umgebildet habe. Vieles, was ich geschrieben habe, kann ich jetzt nicht mehr vertreten, namentlich nicht den Ton mancher Sätze und Seiten, aber ich mag kein einziges Wort ausstreichen und umändern.

Ich habe bereits erwähnt, daß er von Katerina Nikolajewna kein Wort sagt; aber ich glaube sogar, daß er von seiner Leidenschaft vielleicht vollständig geheilt ist. Von Katerina Nikolajewna sprechen nur ich und Tatjana Pawlowna manchmal, und auch wir nur insgeheim. Jetzt befindet sich Katerina Nikolajewna im Ausland. Ich bin vor ihrer Abreise einige Male bei ihr gewesen und habe mit ihr gesprochen. Aus dem Ausland habe ich schon zwei Briefe von ihr erhalten und sie beantwortet. Aber über den Inhalt unserer Briefe sowie über das, worüber wir vor ihrer Abreise beim Abschied gesprochen haben, schweige ich: das ist bereits eine andere Geschichte, eine ganz neue Geschichte, und sie gehört vielleicht in ihrer ganzen Ausdehnung noch der Zukunft an. Ich bewahre über gewisse Themen sogar Tatjana Pawlowna gegenüber Stillschweigen; aber genug hiervon. Ich füge nur noch hinzu, daß Katerina Nikolajewna nicht verheiratet ist und mit der Familie Pelischtschew zusammen reist. Ihr Vater ist gestorben, und sie ist nun eine der reichsten Witwen, die es gibt. Augenblicklich befindet sie sich in Paris. Ihr Bruch mit Bjoring vollzog sich schnell und sozusagen von selbst, das heißt auf höchst natürliche Weise. Aber ich will das doch erzählen.

An dem Vormittag, an welchem sich jene furchtbare Szene abspielte, hatte der Pockennarbige, eben jener, zu dem Trischatow und sein Freund übergegangen waren, Zeit gefunden, Bjoring von dem beabsichtigten Attentat zu benachrichtigen. Das war so gekommen: Lambert hatte ihn trotz seines Sträubens doch zur Teilnahme überredet und, nachdem er sich damals des Schriftstücks bemächtigt hatte, ihm alle Einzelheiten und näheren Umstände des Unternehmens mitgeteilt und zuletzt auch das allerletzte Stück ihres Planes, das heißt die List, die Wersilow ersonnen hatte, um Tatjana Pawlowna zu täuschen. Aber im entscheidenden Augenblick hatte der Pockennarbige, der klüger als die andern alle war und vorhersah, daß ihre Projekte zu einem kriminellen Verbrechen führen konnten, an Lambert Verrat begangen. Die Hauptsache war: er hielt Bjorings Dankbarkeit für sehr viel sicherer als den phantastischen Plan des ungeschickten, hitzigen Lambert und des von seiner Leidenschaft fast verrückten Wersilow. Alles das habe ich später von Trischatow erfahren. Beiläufig bemerkt: ich weiß nicht und verstehe nicht, in welchem Verhältnis Lambert zu dem Pockennarbigen stand und warum Lambert nicht ohne ihn zurechtkommen konnte. Aber weit mehr interessiert mich die Frage: warum bedurfte Lambert Wersilows, während Lambert doch, da er das Schriftstück in Händen hatte, die Sache gänzlich ohne dessen Beihilfe hätte erledigen können? Die Antwort ist mir jetzt klar: er bedurfte Wersilows erstens deshalb, weil dieser alle Verhältnisse genau kannte, und besonders bedurfte er seiner für den Fall, daß Lärm oder irgendein Unglück entstand, um die ganze Verantwortung auf ihn abzuwälzen. Und da Wersilow keine Geldforderung stellte, so hielt Lambert seine Beihilfe sogar für sehr willkommen. Aber Bjoring traf damals nicht zur rechten Zeit ein. Er kam erst eine Stunde nach dem Schuß, als Tatjana Pawlownas Wohnung bereits einen ganz andern Anblick bot. Nämlich etwa fünf Minuten, nachdem Wersilow blutbedeckt auf den Teppich gefallen war, hatte Lambert, den wir alle für tot gehalten hatten, sich aufgerichtet und war aufgestanden. Er hatte erstaunt um sich geblickt, auf einmal schnell seine Gedanken gesammelt und war, ohne ein Wort zu sagen, in die Küche hinausgegangen; dort hatte er seinen Pelz angezogen und war für immer verschwunden. Das »Schriftstück« hatte er auf dem Tisch liegenlassen. Ich habe gehört, daß er nicht einmal eigentlich krank, sondern nur ein bißchen unwohl gewesen ist: der Schlag mit dem Revolver hatte ihn betäubt und eine blutende Wunde verursacht, ohne ihm weiteren Schaden zuzufügen. Inzwischen war Trischatow schon weggelaufen, um einen Arzt zu holen; aber noch ehe dieser eintraf, war auch Wersilow wieder zur Besinnung gekommen, und noch bevor dies geschehen war, hatte Tatjana Pawlowna Katerina Nikolajewna ins Bewußtsein zurückgerufen und nach Hause bringen können. So befanden sich denn, als Bjoring zu uns hereingestürzt kam, in Tatjana Pawlownas Wohnung nur ich, der Arzt, der verwundete Wersilow und Mama, zu der Trischatow ebenfalls hingelaufen war und die trotz ihrer noch nicht behobenen Krankheit in größter Aufregung zu Wersilow geeilt war. Bjoring sah sich verständnislos um, und als er erfahren hatte, daß Katerina Nikolajewna schon weggefahren sei, begab er sich, ohne uns ein Wort zu sagen, sogleich zu ihr.

Er war sehr beunruhigt; er glaubte mit Bestimmtheit, daß jetzt skandalöses Aufsehen und häßliches Gerede fast unvermeidlich seien. Ein skandalöses Aufsehen erregte der Vorfall jedoch nicht, es kamen nur Gerüchte in Umlauf. Daß ein Schuß abgefeuert worden war, das zu verbergen gelang allerdings nicht; aber die Hauptsache an der Geschichte, ihr eigentlicher Kern, blieb fast unbekannt; Nachforschungen Neugieriger ergaben nur, daß ein gewisser W., obwohl Familienvater und fast fünfzigjährig, in sinnloser Leidenschaft einer höchst achtenswerten Dame eine Liebeserklärung gemacht habe; die Dame habe jedoch seine Gefühle ganz und gar nicht geteilt, und da habe er in einem Anfall von Geistesstörung auf sich selbst geschossen. Weiter drang nichts in die Öffentlichkeit, und in dieser Gestalt gelangte die Nachricht durch dunkle Gerüchte auch in die Zeitungen, ohne Eigennamen, nur mit den Anfangsbuchstaben der Familiennamen. Wenigstens weiß ich, daß zum Beispiel Lambert in keiner Weise belästigt wurde. Nichtsdestoweniger bekam Bjoring, der die Wahrheit kannte, einen Schreck. Und da mußte es sich auch noch gerade damals treffen, daß er von jener Zusammenkunft erfuhr, die Katerina Nikolajewna mit dem in sie verliebten Wersilow zwei Tage vor jener Katastrophe unter vier Augen gehabt hatte. Das regte ihn sehr auf, und er erlaubte sich Katerina Nikolajewna gegenüber die recht unvorsichtige Bemerkung, wenn sie sich so benehme, so wundere er sich nicht mehr darüber, daß sich mit ihr so phantastische Geschichten zutragen könnten. Katerina Nikolajewna löste sofort das Verhältnis zu ihm, ohne Zorn, aber auch ohne Schwanken. Ihre ganze vorgefaßte Meinung von der Vernünftigkeit einer Ehe mit diesem Menschen verschwand wie Rauch. Vielleicht hatte sie ihn auch schon lange vorher durchschaut, und vielleicht hatten sich auch infolge der Erschütterung, die sie durchgemacht hatte, manche ihrer Ansichten und Gefühle geändert. Aber bei diesem Punkt verstumme ich wieder. Ich füge nur noch hinzu, daß Lambert nach Moskau verschwand, und ich habe gehört, daß er dort bei irgend etwas abgefaßt worden ist. Trischatow aber habe ich schon lange, fast unmittelbar von jener Zeit an, aus den Augen verloren, trotz meiner bis jetzt fortgesetzten Bemühungen, seine Spur aufzufinden. Er ist nach dem Tod seines Freundes »le grand dadais« verschwunden: dieser hat sich erschossen.


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