F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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IV

Als ich auf die Straße hinaustrat, wandte ich mich nach links und schritt ziellos vorwärts. In meinem Kopf war ein Wirrwarr von Gedanken. Ich ging langsam und hatte, glaube ich, schon eine ziemliche Strecke, etwa fünfhundert Schritte, zurückgelegt, als ich auf einmal fühlte, daß mich jemand leicht auf die Schulter schlug. Ich wandte mich um und erblickte Lisa: sie hatte mich eingeholt und mir einen leichten Schlag mit dem Sonnenschirm versetzt. Eine große Heiterkeit, der ein bißchen Schelmerei beigemischt war, lag in ihrem strahlenden Blick.

»Nun, wie freue ich mich, daß du nach dieser Seite gegangen bist; sonst wäre ich heute mit dir nicht zusammengetroffen!« Sie war von dem schnellen Gehen ein wenig außer Atem.

»Wie du außer Atem bist!«

»Ich bin so furchtbar gelaufen, um dich einzuholen.«

»Lisa, das warst du doch, die ich soeben gesehen habe?«

»Wo denn?«

»Beim Fürsten ... beim Fürsten Sokolskij ...«

»Nein, das bin ich nicht gewesen, mich hast du nicht gesehen ...«

Ich schwieg, und so gingen wir etwa zehn Schritte. Lisa fing furchtbar an zu lachen.

»Ich bin es gewesen, ich bin es gewesen, natürlich bin ich es gewesen! Hör mal, du hast mich doch selbst gesehen; du hast mir in die Augen gesehen und ich dir; wie kannst du da erst noch fragen, ob ich es gewesen bin! Na, bist du ein Mensch! Aber weißt du, ich hätte beinahe laut aufgelacht, als du mir da in die Augen sahst; du sahst furchtbar komisch aus.«

Sie lachte gewaltig. Ich fühlte, wie aller Kummer auf einmal aus meinem Herzen wich.

»Aber sag mal, wie kommt es denn, daß du dort warst?«

»Ich war bei Anna Fjodorowna.«

»Bei was für einer Anna Fjodorowna?«

»Bei Frau Stolbejewa. Als wir in Luga wohnten, saß ich manchmal den ganzen Tag bei ihr; sie empfing auch Mama bei sich und kam sogar zu uns zu Besuch. Und doch besuchte sie dort fast niemanden. Mit Andrej Petrowitsch ist sie entfernt verwandt; auch mit dem Fürsten Sokolskij ist sie verwandt, sie ist eine Art Großtante des Fürsten.«

»Also wohnt sie beim Fürsten?«

»Nein, der Fürst wohnt bei ihr.«

»Wem gehört denn die Wohnung?«

»Die gehört ihr; sie hat die ganze Wohnung schon seit einem Jahr. Der Fürst ist eben erst angekommen und logiert bei ihr. Auch sie selbst ist erst seit vier Tagen in Petersburg.«

»Na ... weißt du was, Lisa, sie mitsamt ihrer Wohnung ist mir ganz gleichgültig ...«

»Nicht doch, sie ist eine sehr nette Frau ...«

»Meinetwegen, in Gottes Namen! Wir sind selbst sehr nette Leute! Sieh nur, was ist heute für ein prächtiger Tag! Wie schön ist alles! Und wie schön bist du selbst heute, Lisa. Aber du bist doch noch das reine Kind.«

»Arkadij, sag bloß mal, das arme junge Mädchen von gestern.«

»Ach, es ist traurig, Lisa; ach, es ist traurig!«

»Ach ja, es ist traurig! Welch ein Schicksal! Weißt du, es ist ordentlich sündhaft, daß wir so vergnügt spazierengehen, wo ihre Seele jetzt, mit der Sünde und ihrem Leid beladen, irgendwo in der Finsternis, in der bodenlosen Finsternis umherfliegt ... Arkadij, wer ist an ihrer Sünde schuld? Ach, wie schrecklich das ist! Denkst du wohl manchmal an diese Finsternis? Ach, wie ich mich vor dem Tod fürchte, und wie sündhaft das ist! Ich kann die Dunkelheit nicht leiden; was ist die Sonne doch für eine schöne Sache! Mama sagt, diese Furcht sei sündhaft ... Arkadij, kennst du Mama genau?«

»Nur wenig, Lisa; ich kenne sie nur wenig.«

»Ach, was ist sie für ein gutes Wesen; du mußt sie kennenlernen! Man muß erst ein ganz besonderes Verständnis für sie gewinnen ...«

»Ja, siehst du wohl, auch dich habe ich früher nicht gekannt, und jetzt kenne ich dich vollständig. In einem Augenblicke habe ich dich vollständig kennengelernt. Wenn du dich auch vor dem Tod fürchtest, Lisa, so bist du doch sicherlich stolz, kühn und mutig. Du bist besser als ich, weit besser als ich! Ich hab dich furchtbar lieb, Lisa. Ach, Lisa! Mag der Tod kommen, sobald es sein muß, aber bis dahin laß uns leben, leben! Jene Unglückliche wollen wir bedauern, aber das Leben wollen wir doch segnen, nicht wahr? Nicht wahr? Ich habe eine »Idee«, Lisa. Lisa, du weißt doch, daß Wersilow auf die Erbschaft verzichtet hat?«

»Na, das sollte ich nicht wissen! Mama und ich – wir haben uns schon geküßt.«

»Du kennst meine Seele nicht, Lisa; du weißt nicht, was dieser Mann für mich bedeutet hat ...«

»Wieso weiß ich es nicht? Ich weiß alles.«

»Du weißt alles? Na, wie solltest du auch nicht? Du bist klug; du bist klüger als Wassin. Du und Mama, ihr habt durchdringende, humane Augen, das heißt einen solchen Blick, nicht solche Augen; ich rede Unsinn ... Ich habe in vieler Hinsicht meine Mängel, Lisa.«

»Man muß dich leiten, das ist das Ganze!«

»Leite mich, Lisa! Welch ein Vergnügen es ist, dich heute anzusehen! Weißt du auch, daß du sehr hübsch bist? Ich habe noch nie deine Augen gesehen. Erst jetzt sehe ich sie zum erstenmal ... Wo hast du sie heute hergenommen, Lisa? Wo hast du sie gekauft? Was hast du dafür bezahlt? Lisa, ich habe keinen Freund gehabt und halte die Idee der Freundschaft überhaupt für Unsinn, aber eine Freundschaft mit dir ist kein Unsinn ... Ist es dir recht, daß wir Freunde werden? Du verstehst, was ich sagen will? ...«

»Ich verstehe sehr gut.«

»Und, weißt du, ohne besondere Abmachungen, ohne einen Kontrakt – laß uns ganz einfach Freunde sein!«

»Ja, ganz einfach, ganz einfach, nur eines wollen wir verabreden: sollte es einmal dahin kommen, daß wir einander Vorwürfe machen, daß wir mit etwas am andern unzufrieden sind, daß wir selbst böse und schlecht gegeneinander werden, daß wir sogar alles dies vergessen – so wollen wir doch niemals diesen Tag und besonders nicht diese Stunde vergessen! Wir wollen uns das Wort darauf geben! Wir wollen uns das Wort darauf geben, daß wir immer dieses Tages gedenken werden, an dem ich und du Arm in Arm gingen und so lachten und so vergnügt waren ... Ja? Willst du? Ja?«

»Ja, Lisa, ja, ich verspreche es dir; aber Lisa, mir ist, als hörte ich dich zum erstenmal reden ... Lisa, hast du viel gelesen?«

»Du hast mich ja bisher nicht gefragt! Gestern, als ich einen falschen Ausdruck gebrauchte, geruhten Sie, mein gnädiger, kluger Herr, zum erstenmal mich Ihrer Beachtung zu würdigen.«

»Aber warum hast du nicht selbst mit mir zu reden angefangen, wenn ich ein solcher Dummkopf war?«

»Ich habe immer darauf gewartet, daß du klüger werden solltest ... Ich habe Sie gleich zu Anfang durchschaut, Arkadij, und als ich Sie durchschaut hatte, da dachte ich: »Er wird schon kommen; das Ende wird gewiß sein, daß er kommt«, na, und da beschloß ich, die Ehre, den ersten Schritt zu tun, lieber Ihnen selbst zu überlassen. »Nein«, dachte ich, »jetzt kannst du mir erst ein bißchen nachlaufen.««

»Ach, du Kokette! Na, Lisa, bekenne mal offen: hast du dich über mich während dieses Monats lustig gemacht?«

»Ach, du bist sehr komisch, Arkadij, furchtbar komisch! Und weißt du, ich habe dich vielleicht in diesem Monat gerade deswegen besonders liebgehabt, weil du ein so schnurriger Kauz bist. Aber du hast auch deine schlechten Seiten – das will ich dir nur sagen, damit du nicht stolz wirst. Und weißt du, wer noch über dich gelacht hat? Mama hat über dich gelacht, Mama und ich zusammen: »So ein schnurriger Kauz«, flüsterte sie mir manchmal zu, »nein, was für ein schnurriger Kauz!« Und du saßest dabei und dachtest, daß wir dasäßen und vor dir zitterten.«

»Lisa, wie denkst du über Wersilow?«

»Ich schätze ihn sehr; aber weißt du, wir wollen jetzt nicht von ihm sprechen. Das ist heute nicht die rechte Zeit, nicht wahr?«

»Ganz richtig! Nein, du bist furchtbar klug, Lisa! Du bist unbedingt klüger als ich. Aber warte nur, Lisa, ich werde mit dieser ganzen Geschichte ein Ende machen, und dann werde ich dir vielleicht auch etwas sagen ...«

»Warum machst du denn ein so finsteres Gesicht?«

»Ich mache weiter kein finsteres Gesicht, Lisa; das ist nur so äußerlich ... Siehst du, Lisa, ich will es dir lieber geradeheraus sagen: es ist eine Eigentümlichkeit von mir, daß ich es nicht gerne mag, wenn jemand diesen oder jenen empfindlichen Punkt in meiner Seele mit den Fingern berührt ... oder ich will lieber so sagen: wenn man gewisse Gefühle oft an die Öffentlichkeit treten läßt, damit alle Leute sie beschauen, so ist das doch ein Benehmen, dessen man sich schämen muß, nicht wahr? Darum ziehe ich es manchmal vor, ein finsteres Gesicht zu machen und zu schweigen; du bist ja klug, du mußt dafür Verständnis haben.«

»Ja, mehr noch, ich bin selbst ganz ebenso; ich habe vollständiges Verständnis für dich. Weißt du, daß auch Mama ganz ebenso ist?«

»Ach, Lisa! Wenn man nur recht lange auf der Welt lebte! Wie? Was hast du gesagt?«

»Ich habe nichts gesagt.«

»Du siehst mich ja so an?«

»Du siehst mich ja auch so an. Ich sehe dich an und hab dich gern.«

Ich begleitete sie bis fast nach Hause und gab ihr meine Adresse. Beim Abschied küßte ich sie zum erstenmal in meinem Leben.


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