F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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IV

Als in Moskau bereits entschieden war, daß ich nach Petersburg reisen sollte, teilte mir Nikolai Semjonowitsch mit, ich solle die Zusendung des Reisegeldes abwarten. Von wem das Geld kommen würde, danach fragte ich nicht erst; ich wußte, es würde von Wersilow kommen, und da ich damals Tag und Nacht mit starkem Herzklopfen und mit stolzen Plänen von meiner bevorstehenden Begegnung mit Wersilow träumte, so sprach ich überhaupt nicht mehr laut von ihm, nicht einmal mit Marja Iwanowna. Ich erwähne übrigens, daß ich auch eigenes Geld besaß, das für die Reise ausgereicht hätte, aber ich entschloß mich dennoch zu warten; unter anderem glaubte ich, das Geld würde mit der Post kommen.

Eines Tages teilte mir Nikolai Semjonowitsch, als er nach Hause kam, mit (nach seiner Gewohnheit in aller Kürze und ohne große Erklärungen), ich solle am folgenden Tag um elf Uhr vormittags nach der Mjasnizkaja-Straße, in die Wohnung des Fürsten W...skij, gehen; dort sei der aus Petersburg eingetroffene Kammerjunker Wersilow, der Sohn Andrej Petrowitschs, bei seinem früheren Schulkameraden, dem Fürsten W...skij, abgestiegen, und der werde mir das übersandte Reisegeld einhändigen. Die Sache ließ sich anscheinend sehr leicht erklären: es war durchaus verständlich, daß Andrej Petrowitsch seinem Sohn diesen Auftrag gegeben hatte, statt das Geld durch die Post zu senden, aber mich erschreckte und bedrückte diese Nachricht ganz außerordentlich. Es konnte nicht zweifelhaft sein, daß Wersilow mich auf diese Weise mit seinem Sohn, meinem Bruder, zusammenführen wollte; die Absichten und Empfindungen des Mannes, mit dem ich mich in meinen Träumereien so viel beschäftigte, traten deutlich zutage; aber nun entstand für mich eine Frage von gewaltiger Wichtigkeit: wie werde ich mich und wie muß ich mich bei dieser ganz unerwarteten Begegnung benehmen, und wird nicht meiner eigenen Würde dabei irgendwie Abbruch getan?

Am nächsten Tag, pünktlich um elf Uhr, erschien ich in der Wohnung des Fürsten W...skij, einer Junggesellenwohnung, die aber, wie ich merkte, luxuriös ausgestattet war; auch Diener in Livree waren da. Ich blieb im Vorzimmer. Aus den inneren Zimmern drangen die Töne eines lauten Gesprächs und eines starken Gelächters heraus: außer dem Kammerjunker, der dort logierte, waren noch andere Herren beim Fürsten zu Besuch. Ich befahl einem Diener, mich zu melden, und zwar, wie ich glaube, in etwas stolzen Ausdrücken: wenigstens sah er mich, als er hinging, um mich zu melden, in einer eigentümlichen Weise an, ja sogar nach meiner Empfindung nicht so respektvoll, wie es sich gehört hätte. Zu meiner Verwunderung brauchte er zu der Meldung sehr viel Zeit, etwa fünf Minuten; unterdessen aber vernahm ich von dorther immer noch dasselbe Lachen und dieselben Bruchstücke eines Gesprächs.

Ich wartete selbstverständlich stehend, da ich sehr wohl wußte, daß es für mich als »richtigen Herrn« unpassend und unmöglich war, mich in einem Vorzimmer, in dem sich Diener befanden, hinzusetzen. Von selbst aber, auf eigene Faust, ohne besondere Aufforderung, wollte ich um keinen Preis in den Saal hineingehen, aus Stolz; vielleicht aus einem allzu feinen Gefühl des Stolzes, aber es gehörte sich so. Zu meiner Verwunderung erdreisteten sich die zurückgebliebenen Lakaien (zwei an der Zahl), sich in meiner Gegenwart hinzusetzen. Ich wandte mich ab, um es nicht zu bemerken, begann aber doch am ganzen Leib zu zittern; plötzlich drehte ich mich wieder um, ging auf den einen Bedienten zu und befahl ihm in; scharfem Ton, »sofort« hinzugehen und mich noch einmal zu melden. Trotz meiner strengen Miene und meiner starken Erregung sah mich der Bediente lässig an, ohne aufzustehen, und der andere antwortete für ihn:

»Sie sind gemeldet, beunruhigen Sie sich nicht!«

Ich beschloß, nur noch eine Minute oder womöglich noch nicht einmal eine Minute zu warten, dann aber unter allen Umständen wegzugehen. Man beachte vor allen Dingen, daß ich sehr anständig gekleidet war: mein Anzug und mein Mantel waren neu und meine Wäsche vollständig sauber, wofür Marja Iwanowna bei diesem Anlaß persönlich besonders gesorgt hatte. Aber über diese Lakaien habe ich erst viel später, als ich schon in Petersburg war, zuverlässig erfahren, daß sie durch einen mit Wersilow junior mitgekommenen Diener schon am Abend vorher benachrichtigt worden waren, es werde da »so eine Art illegitimer Bruder, ein Student«, kommen. Das weiß ich jetzt zuverlässig.

Die Minute war vergangen. Es ist ein eigentümliches Gefühl, wenn man zu etwas entschlossen ist und sich nicht entschließen kann: »Fortgehen oder nicht, fortgehen oder nicht?« wiederholte ich mir jede Sekunde fast fiebernd; auf einmal erschien der Diener wieder, der hineingegangen war, um mich zu melden. In der einen Hand hatte er zwischen den Fingern vier rote Banknoten hängen, vierzig Rubel.

»Hier bitte, nehmen Sie diese vierzig Rubel!«

Ich brauste auf. Das war eine unerhörte Beleidigung! Ich hatte die ganze vorhergehende Nacht mir meine Gedanken gemacht, wie die von Wersilow arrangierte Begegnung der beiden Brüder verlaufen würde; ich hatte die ganze Nacht im Fieber darüber nachgedacht, wie ich mich benehmen sollte, ohne mir etwas zu vergeben und ohne den ganzen Ideenkreis preiszugeben, den ich mir in meiner Einsamkeit erworben hatte und auf den ich sogar in jedem beliebigen Kreis der Gesellschaft stolz sein konnte. Ich hatte es mir in Gedanken ausgemalt, wie edel, stolz und melancholisch ich mich zeigen würde, vielleicht sogar in Gegenwart des Fürsten W...skij, und wie ich auf diese Weise ohne weiteres Zutritt zu diesem Gesellschaftskreis erlangen würde – oh, ich schone mich nicht, sei es drum, sei es drum: so muß man dergleichen schildern, genau, mit allen Einzelheiten! Und da wurden mir nun auf einmal vierzig Rubel durch einen Bedienten ins Vorzimmer geschickt, und noch dazu, nachdem ich zehn Minuten hatte warten müssen, und noch dazu in der bloßen Hand, in den Fingern eines Bedienten, nicht auf einem Teller, nicht in einem Kuvert!

Ich schrie den Bedienten dermaßen an, daß er zusammenfuhr und einen Schritt zurücktrat; ich befahl ihm, das Geld unverzüglich wieder zurückzutragen; sein Herr möge es selbst bringen – kurz, meine Forderung hatte natürlich keinen Zusammenhang und war für den Diener natürlich unverständlich. Indes, ich schrie so heftig, daß er hinging. Auch im Saal schien man mein Schreien gehört zu haben, denn das Sprechen und Lachen war auf einmal verstummt.

Fast unmittelbar darauf hörte ich würdevolle, ruhige, weiche Schritte, und die hohe Gestalt eines hübschen, hochmütigen jungen Mannes (er erschien mir damals noch blasser und magerer als bei der heutigen Begegnung) zeigte sich auf der Schwelle der Tür zum Vorzimmer – er blieb sogar noch einen Arschin von der Schwelle entfernt. Er trug einen prachtvollen rotseidenen Schlafrock und Pantoffeln und hatte einen Kneifer auf der Nase. Ohne ein Wort zu sagen, richtete er seinen Kneifer auf mich und begann mich zu betrachten. Ich machte wie ein wildes Tier einen Schritt auf ihn zu, blieb in herausfordernder Haltung stehen und sah ihm unverwandt ins Gesicht. Aber er musterte mich nur ganz kurze Zeit, nur etwa zehn Sekunden lang; auf einmal erschien ein kaum merkliches und doch sehr boshaftes Lächeln auf seinen Lippen; eben weil es kaum merklich war, sah es so boshaft aus. Dann wandte er sich schweigend um und ging wieder in die Wohnung, ebenso langsam, mit ebenso stillen, gleichmäßigen Schritten, wie er gekommen war. O diese Menschen, sie verstehen das Beleidigen schon von klein auf, schon in ihren Familien lernen sie diese Kunst von ihren Müttern! Natürlich war ich fassungslos ... Oh, warum war ich damals fassungslos!

Fast in demselben Augenblick erschien wieder eben jener Lakai mit denselben Banknoten in der Hand.

»Bitte nehmen Sie, es ist für Sie aus Petersburg gekommen; Sie selbst zu empfangen ist dem Herrn nicht möglich; vielleicht ein andermal, wenn er mehr Zeit hat.« Ich merkte, daß er diese letzten Worte von sich aus hinzufügte. Aber meine Fassungslosigkeit dauerte immer noch an. Ich nahm das Geld und ging zur Tür; eben infolge meiner Fassungslosigkeit hatte ich es genommen, denn ich hätte es nicht nehmen dürfen; aber der Lakai erlaubte sich, natürlich in der Absicht, mich zu verletzen, eine recht bedientenhafte Frechheit: er riß auf einmal die Tür vor mir hastig auf, und sie weit geöffnet haltend, sagte er, während ich an ihm vorüberging, würdevoll und nachdrücklich:

»Bitte sehr!«

»Schurke!« brüllte ich ihn an und holte mit der Hand aus, ohne jedoch zuzuschlagen, »und dein Herr ist ebenfalls ein Schurke! Bestelle ihm das sofort!« fügte ich hinzu und ging schnell auf die Treppe hinaus.

»Seien Sie nicht so dreist! Wenn ich das dem Herrn bestelle, dann könnten Sie sofort mit ein paar Begleitzeilen nach der Polizeiwache spediert werden. Und wagen Sie nicht, so mit der Hand auszuholen ...«

Ich stieg die Treppe hinunter. Es war die Haupttreppe, die ganz frei im Treppenhaus lag, und man konnte mich, während ich auf dem roten Teppich hinunterging, von oben vollständig sehen. Die Lakaien waren alle drei herausgekommen und beugten sich oben über das Geländer. Ich beschloß natürlich zu schweigen: mich mit den Bedienten herumzuzanken, das war völlig ausgeschlossen. Ich stieg die ganze Treppe hinab, ohne meinen Schritt zu beschleunigen; ich glaube sogar, daß ich ihn noch verlangsamte.

Oh, mag es auch Philosophen geben (Schande über sie!), die da sagen werden, das seien alles Lappalien, die törichte Empfindlichkeit eines Milchbartes – meinetwegen, aber für mich war das eine Wunde, eine Wunde, die bis jetzt noch nicht vernarbt ist, nicht einmal in dem jetzigen Augenblick, wo ich dies schreibe und wo schon alles beendet ist und ich mich sogar gerächt habe. Oh, ich schwöre es: ich bin nicht nachtragend und nicht rachsüchtig. Ohne Zweifel habe ich immer den Wunsch, den geradezu krankhaften Wunsch, mich zu rächen, wenn ich beleidigt werde; aber ich schwöre es: nur durch Edelmut. Mag ich es dem Beleidigten auch nur durch Edelmut vergelten; Wenn er es nur fühlt und versteht, dann bin ich hinreichend gerächt! Bei der Gelegenheit füge ich hinzu: ich bin nicht rachsüchtig, aber ich bin nachtragend, trotz meines Edelmutes: ob das auch bei andern Menschen vorkommt? Damals aber, oh, damals war ich mit edelmütigen Gefühlen hingekommen; mochten sie auch lächerlich sein, immerhin: besser, sie waren lächerlich, aber edelmütig, als nicht lächerlich und gemein, ordinär, vulgär! Von meinem Erlebnis bei dieser Begegnung mit meinem »Bruder« habe ich zu keinem Menschen ein Sterbenswort gesagt, nicht einmal zu Marja Iwanowna, nicht einmal in Petersburg zu Lisa; diese Begegnung betrachtete ich wie eine schmachvoll empfangene Ohrfeige. Und nun begegnete mir dieser Herr auf einmal, als ich ihn am allerwenigsten zu treffen erwartete, lächelte mir zu, nahm den Hut ab und sagte ganz freundschaftlich: »Bonsoir!« Das gab mir allerdings zu denken ... Aber die Wunde war wieder aufgegangen!


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