F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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IV

Es traten zwei Damen ein, beides junge Mädchen; die eine war die Stieftochter eines Vetters von der verstorbenen Frau des Fürsten oder so etwas Ähnliches, eine Pflegetochter von ihm, der er bereits eine Mitgift zugeteilt hatte und die (ich bemerke das für später) auch selbst Vermögen besaß; die andere war Anna Andrejewna Wersilowa, die Tochter Wersilows, die drei Jahre älter war als ich, bei Frau Fanariotowa wohnte und die ich bisher nur einmal in meinem Leben flüchtig auf der Straße gesehen hatte, obgleich ich mit ihrem Bruder schon in Moskau eine allerdings ebenfalls nur unbedeutende Affäre gehabt hatte (es ist sehr möglich, daß ich diese Affäre in der Folge erwähnen werde, wenn ich dafür Platz haben sollte, denn eigentlich ist sie es nicht wert). Diese Anna Andrejewna war von ihrer Kindheit an ein besonderer Liebling des Fürsten gewesen (die Bekanntschaft Wersilows mit dem Fürsten stammte aus weit zurückliegender Zeit). Ich war durch das soeben Geschehene dermaßen verwirrt, daß ich beim Eintritt der Damen nicht einmal aufstand, obgleich der Fürst sich zu ihrer Begrüßung erhoben hatte; dann aber dachte ich, es sei beschämend, so nachträglich aufzustehen, und blieb auf meinem Platz sitzen. Hauptsächlich war ich darüber bestürzt, daß der Fürst mich drei Minuten vorher so angeschrien hatte, und ich wußte immer noch nicht: sollte ich weggehen oder dableiben. Aber der alte Herr hatte nach seiner Gewohnheit schon alles vollständig vergessen und war beim Anblick der jungen Damen ganz munter und vergnügt geworden. Er hatte mir sogar mit schnell veränderter Miene und geheimnisvollem Blinzeln unmittelbar vor ihrem Eintritt noch eilig zugeflüstert:

»Sieh dir mal Olimpiada an, sieh sie dir ganz genau an, recht genau... ich werde dir nachher den Grund sagen...«

Ich sah sie recht genau an, konnte aber nichts Besonderes an ihr finden: sie war von nicht gerade großer Statur, hatte rundliche Formen und sehr rote Backen. Das Gesicht machte übrigens einen angenehmen Eindruck; es war eines von den Gesichtern, die den Materialisten gefallen. Vielleicht lag ein Ausdruck von Gutmütigkeit darin, wenn auch nicht von unbedingter. Durch besondere Intelligenz zeichnete sie sich nicht aus; ich meine aber dabei nur Intelligenz im höchsten Sinne, denn daß sie schlau war, konnte man ihr an den Augen ansehen. Sie konnte nicht über neunzehn Jahre alt sein. Kurz, nichts Bemerkenswertes. Bei uns auf dem Gymnasium hätte man gesagt: »Eine Schlummerrolle.« (Wenn ich alles so ausführlich beschreibe, so tue ich es einzig und allein, weil es für das Folgende vonnöten ist.)

Übrigens zielt auch alles, was ich bisher mit scheinbar unnötiger Ausführlichkeit beschrieben habe, auf das Folgende hin und wird dort erforderlich sein. An seinem Platz wird auf alles Bezug genommen werden; ich sah keine Möglichkeit, es hier zu übergehen; wenn es aber langweilig ist, bitte ich, es nicht zu lesen.

Eine ganz andere Erscheinung war Wersilows Tochter. Sie war hochgewachsen, sogar ein wenig hager, das Gesicht länglich und auffallend blaß, das Haar schwarz und üppig, die Augen dunkel und groß, der Blick tief, die Lippen des frischen Mundes klein und dunkelrot. Sie war das erste weibliche Wesen, das mir durch seinen Gang keinen Widerwillen einflößte, aber sie war eben auch schlank und hager. Der Ausdruck ihres Gesichts war nicht eigentlich gutmütig, aber würdevoll; sie war zweiundzwanzig Jahre alt. Fast in keinem Teil ihres Gesichts war eine äußere Ähnlichkeit mit Wersilow zu finden; dagegen hatte sie wunderbarerweise im Ausdruck des Gesichts eine außerordentliche Ähnlichkeit mit ihm. Ich weiß nicht, ob sie schön war; das kommt auf den Geschmack an. Beide Damen waren sehr einfach gekleidet, so daß es nicht der Mühe wert ist, das zu beschreiben. Ich erwartete, daß Fräulein Wersilow mich sogleich durch einen Blick oder eine Geste beleidigen würde, und bereitete mich schon darauf vor; hatte mich doch ihr Bruder in Moskau gleich bei unserem ersten Zusammentreffen im Leben beleidigt. Von Gesicht konnte sie mich nicht kennen, aber sie hatte jedenfalls gehört, daß ich regelmäßig zum Fürsten kam. Alles, was der Fürst vorhatte und tat, erregte sogleich bei dem Schwarm von Verwandten und »Anwärtern« das lebhafteste Interesse und wurde als wichtiges Ereignis betrachtet – um wieviel mehr seine plötzliche Zuneigung zu mir. Es war mir zuverlässig bekannt, daß der Fürst sich sehr für Anna Andrejewnas Schicksal interessierte und einen Bräutigam für sie suchte. Aber für Fräulein Wersilowa einen Bräutigam zu finden, war schwerer als für die Kanevasstickerinnen.

Aber siehe da, die Sache kam ganz anders, als ich erwartet hatte. Nachdem Fräulein Wersilowa dem Fürsten die Hand gedrückt und mit ihm ein paar heitere Worte im Stil der vornehmen Gesellschaft gewechselt hatte, sah sie sehr neugierig nach mir hin, und da sie bemerkte, daß auch ich sie ansah, machte sie mir lächelnd eine Verbeugung. An sich war daran nichts Ungewöhnliches: sie war soeben eingetreten und machte mir eine Verbeugung, aber ihr Lächeln war so freundlich, daß es augenscheinlich schon vorher beabsichtigt sein mußte. Ich hatte dabei, wie ich mich erinnere, eine höchst angenehme Empfindung.

»Und dies... und dies ist mein lieber junger Freund Arkadij Andrejewitsch Dol...«, stammelte der Fürst, da er sah, daß sie mir eine Verbeugung gemacht hatte und ich immer noch dasaß – und plötzlich verstummte er: vielleicht wurde er darüber verlegen, daß er mich ihr vorstellte (also, genaugenommen, den Bruder der Schwester). Die Schlummerrolle machte mir ebenfalls eine Verbeugung, aber ich brauste auf einmal in sehr dummer Weise auf und sprang von meinem Platz in die Höhe: es war ein Anfall gekünstelten ganz sinnlosen Stolzes, alles nur aus falschem Selbstgefühl.

»Entschuldigen Sie, Fürst, ich heiße nicht Arkadij Andrejewitsch, sondern Arkadij Makarowitsch«,- bemerkte ich in scharfem Ton und vergaß dabei ganz, daß ich die Verbeugung der Damen erwidern mußte. Weiß der Teufel, wie unpassend ich mich in diesen Minuten benahm!

»Mais. .. tiens!« rief der Fürst und stieß sich mit dem Finger gegen die Stirn.

»Wo haben Sie studiert?« hörte ich vor mir die ziemlich dumme, gedehnte Frage der Schlummerrolle, die geradeswegs an mich herangetreten war.

»In Moskau, auf dem Gymnasium.«

»Ah! Ich habe davon gehört. Wird dort guter Unterricht erteilt?«

»Jawohl, sehr guter.«

Ich stand da und antwortete wie ein Soldat beim Rapport.

Die Fragen dieses jungen Mädchens waren ohne Zweifel nicht sehr tiefsinnig, aber sie hatte doch ein Mittel gefunden, meine dumme Heftigkeit zu vertuschen und die Verlegenheit des Fürsten zu mildern, der unterdessen schon mit fröhlichem Lächeln anhörte, was ihm Fräulein Wersilowa vergnügt ins Ohr flüsterte; auf mich hatte es offenbar keinen Bezug. Aber ich fragte mich: warum sucht denn dieses mir gänzlich unbekannte junge Mädchen meine dumme Heftigkeit und alles übrige zu vertuschen? Unmöglich konnte ich denken, daß sie sich so ganz ohne Grund an mich gewandt hatte: da steckte eine Absicht dahinter. Sie blickte mich sehr neugierig an, als wünsche sie, daß ich sie ebenfalls recht sehr beachten möchte. Alles dies habe ich mir nachher so zurechtgelegt, und ich habe mich nicht geirrt.

»Wie? Wirklich heute schon?« rief der Fürst auf einmal und sprang von seinem Platz auf.

»Also haben Sie es nicht gewußt?« fragte Fräulein Wersilowa erstaunt. »Olympe! Der Fürst hat nicht gewußt, daß Katerina Nikolajewna heute ankommt. Wir wollten ja doch jetzt eben zu ihr kommen, weil wir glaubten, sie wäre schon mit dem Frühzug gefahren und längst zu Hause. Aber wir sind mit ihr eben an der Haustür zusammengetroffen; sie kam direkt von der Bahn und sagte uns, wir möchten nur zu Ihnen gehen; sie selbst werde auch gleich kommen... Da ist sie ja schon!«

Eine Seitentür öffnete sich, und – jene Frau erschien!

Ich kannte ihr Gesicht schon von dem wundervollen Porträt, das im Arbeitszimmer des Fürsten hing; ich hatte dieses Porträt den ganzen Monat über studiert. In ihrer Gegenwart verbrachte ich jetzt in dem Arbeitszimmer etwa drei Minuten und wandte meine Augen auch nicht eine Sekunde von ihrem Gesicht. Aber wenn ich das Porträt nicht gekannt hätte und nach Ablauf dieser drei Minuten gefragt worden wäre, wie sie aussähe, so hätte ich nichts antworten können, so benommen war ich.

Ich erinnere mich aus diesen drei Minuten nur an eine tatsächlich sehr schöne Frau, die der Fürst küßte und bekreuzigte und die auf einmal, unmittelbar nach ihrem Eintritt, anfing, mich anzublicken. Ich hörte deutlich, wie der Fürst mit einem kleinen, leisen Lachen etwas von dem neuen Sekretär murmelte, wobei er offenbar auf mich zeigte, und wie er meinen Familiennamen nannte. Sie warf das Gesicht in eigentümlicher Weise zurück, musterte mich auf abscheuliche Art und lächelte so frech, daß ich mich auf einmal in Bewegung setzte, zum Fürsten hintrat und heftig zitternd, kein Wort zu Ende aussprechend und wahrscheinlich mit den Zähnen klappernd, murmelte: »Ich muß jetzt... ich habe jetzt für mich zu tun... Ich gehe.«

Damit drehte ich mich um und ging hinaus. Niemand sagte ein Wort, auch der Fürst nicht; alle sahen mich nur an. Der Fürst hat mir später gesagt, ich sei so blaß geworden, daß er es »geradezu mit der Angst bekommen habe«.

Das hatte nun allerdings nichts zu sagen!


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