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Es war zum zweitenmal Herbst geworden seit Werners Abreise, und wieder einmal waren Gäste im Hause gewesen. Sanna und Käthe hatten musiziert, und alle Anwesenden waren voll Entzücken und Lob gewesen, sogar Frau Geheimrat Papperitz, die einen leisen Groll gegen Sanna hegte, seitdem diese sich so auffallend von ihrer Gesellschaft zurückgezogen hatte. Nur Seraphine hatte kein Wort der Anerkennung gehabt und war mit einem sehr verbissenen Gesicht aus dem Zimmer gegangen. Das kam daher, weil Käthe Verhagen bei Tisch wieder einmal sehr unehrerbietig gegen sie gewesen war.
Am nächsten Tage, als sie mit Sanna beim Frühstück saß, zog Tante Phine schärfer als sonst der jungen Frau gegenüber gegen Käthe ins Feld. Sie gebrauchte harte, gehässige Ausdrücke.
Sanna verteidigte Käthe mit großem Eifer und inniger Überzeugung. Das erboste Seraphine immer mehr, und plötzlich sagte sie gehässig:
»Ja, ja, ich weiß, du hast dich durch die glatte Larve dieser heuchlerischen Freundin gefangennehmen lassen, hast dich durch sie gegen mich, die ich es so gut mit dir meine, aufhetzen lassen. Wenn du nur wüßtest, was für ein falsches Geschöpf diese Käthe Verhagen ist.«
Sanna fuhr erregt auf.
»Nein, Tante Phine, das ist nicht wahr, an Käthe ist keine Spur von Falschheit. Ich liebe sie von Herzen und kann und will es nicht dulden, daß du sie schmähst.«
Seraphine zuckte die Schultern und kniff die Lippen zusammen.
»Wüßtest du, was ich über sie weiß, du würdest anders über sie urteilen.«
»Ach, Tante Phine – es ist einfach häßlich, daß du solche grundlose Beschuldigungen machst. Wäre Käthe nicht ein wirklich gutes Geschöpf, so hätte mir Werner nicht so warm den Verkehr mit ihr angeraten.«
Seraphine lachte spöttisch auf, und ihre Augen flimmerten unheimlich.
»Werner? Werner liebt Käthe Verhagen und wird sie immer lieben. So, da hast du es!«
Sanna starrte erblassend in Seraphines unbewegtes Gesicht.
»Nein – nein – das ist nicht wahr, sie ist doch eines anderen Weib.«
Da lachte Seraphine abermals spöttisch auf.
»Jawohl, sie hat damals Fritz Verhagen vorgezogen, weil er reich und unabhängig war, während Werner ohne Vermögen und noch von seinem Onkel abhängig war. Aber geliebäugelt hat sie mit ihm und ihn glauben lassen, daß sie ihn liebt, ihn allein. Und als sie dann Verhagen heiratete, da ist er der Verzweiflung nahe gewesen und ist schließlich hinaus in die Welt gezogen, um Vergessen zu suchen. Das war damals, als er auf eurer Farm war. Aber er hat sie nicht vergessen können, und als er dann wieder kam, hat sie ihn von neuem in ihre Netze gezogen. Das hätte sie gar nicht nötig gehabt. Ein Mann wie Werner liebt nur einmal, und er ist für immer ihrem Zauber verfallen.«
Sanna lehnte sich in ihren Stuhl zurück und senkte den Kopf wie unter einem vernichtenden Streich.
»Ein Mann wie er liebt nur einmal.« Diese Worte zerstörten alle ihre leisen, scheuen Hoffnungen im Keime.
Seraphine beobachtete sie mit lauernden Blicken.
Eine Weile saß Sanna wie gelähmt. Dann raffte sie sich auf und strich wie geistesabwesend über ihr Haar. Und endlich sagte sie mit müder Stimme:
»Ich glaube dennoch nicht, daß Käthe schlecht ist. Wer weiß, wie das alles zusammenhängt.«
»Mein Gott, bist du eine Törin! Du hast ja in deiner Unschuld keine Ahnung, was eine berechnende Frau vermag. Sie ist auch zu eitel, Werner jetzt von ihrem Triumphwagen zu lassen. Ihre ganze Art, dich zu beeinflussen, ist nichts als die Sucht, Werner noch fester an sich zu fesseln. Du sollst ihm nur Herrliches von ihr berichten, sollst sie loben und preisen. Und sicher tust du das auch in deiner Herzenseinfalt. Von Anfang an habe ich sie durchschaut und dich vor ihr zu warnen versucht. Sie weiß ganz genau, daß Werner dich nur aus Mitleid und Dankbarkeit gegen deinen Vater geheiratet hat, daß du im Grunde gar nicht seine Frau bist. Und Werner betrachtet sich auch nicht an dich gebunden. Er hofft darauf, daß du ihm seine Freiheit zurückgibst.«
»Wer hat dir das alles gesagt?« stieß Sanna halberstickt hervor.
»Mein Gott, Kind, wer soll mir das gesagt haben. Werner selbst natürlich. Er ist doch wieder abgereist, um der peinlichen Lage zu entgehen, das hast du doch wohl selbst herausgefunden. Er hofft, daß du deine Neigung in der Zeit seiner Abwesenheit einem anderen zuwendest. Das wäre ja auch die glücklichste Lösung. Du bist doch alt genug, um zu begreifen, daß eure sogenannte Ehe ein Unding ist. Jedenfalls erwartet Werner mit ziemlicher Bestimmtheit, daß du selbst ihn bittest, dich freizugeben. Er kann es ja als höflicher Mann nicht tun, nicht wahr? Ich sprach vor seiner Abreise eingehend mit ihm darüber und kenne seine Wünsche ganz genau.«
* * *
Sanna verließ in den nächsten Tagen ihre Zimmer nicht und ließ niemand als Berta zu sich ein. Der einzige schwache Trost war ihr, daß sie allein sein konnte nach dieser Eröffnung, daß sie niemand zu sehen brauchte.
Und auch zu Käthe schickte Sanna und ließ sich für einige Tage mit Unwohlsein entschuldigen; auch bat sie diese, nicht zu kommen, da sie von unerträglichem Kopfweh geplagt sei und der größten Ruhe bedürfe.
Als einige Tage darauf Käthe doch kam, um nach Sanna zu sehen, wurde ihr durch Berta der Bescheid, die gnädige Frau lasse noch einige Tage um Ruhe bitten, sobald sie sich wohler fühle, werde sie es Frau Verhagen melden.
Käthe sah, daß über Seraphines Gesicht bei dieser Meldung ein höhnisches, siegesgewisses Lächeln glitt.
»Da ist irgend etwas nicht in Ordnung, das verrät Fürstin Seraphines Hohnlächeln,« dachte sie auf dem Heimwege. Ihrem Manne erzählte sie ganz aufgeregt von ihrem Besuch bei Sanna, und als später Rudolf dazu kam, begann sie in ihrer lebhaften Art von neuem.
»Aber ich werde schon dahinterkommen, und wenn ihr diese unausstehliche Tante Phine etwas zuleide getan hat, dann – na – ich weiß nicht, was ich ihr dann antue. Jedenfalls gehe ich morgen wieder hin, das steht fest.«
Sanna hatte mit verhaltenem Atem auf Käthes Stimme gelauscht, als sie die Freundin durch Berta hatte abweisen lassen.
Drunten fiel die Tür hinter Käthe Verhagen ins Schloß. Sanna preßte die Hände auf ihr wild klopfendes Herz.
Warum hatte sie Käthe gehen lassen? War diese nicht immer gleich lieb und gut zu ihr gewesen? War sie nicht in liebender Sorge gekommen, um nach ihr zu sehen? Hatten denn Tante Phines giftige Worte ihr Herz der geliebten und bewunderten Freundin entfremdet? Nein, o nein. Es war nur die brennende Scham, die Sanna abhielt, einem Menschen ins Gesicht zu sehen, die Scham, daß sie einen Mann liebte, der sich sehnte, von ihr befreit zu werden.
Konnte sie denn je wieder in eines Menschen Augen blicken? Aber warum nur nicht – sie hatte ja nichts getan, um diese Liebe in ihr Herz zu pflanzen. Gott selbst hatte sie hineingelegt, wie er in Werners Herz die Liebe zu Käthe legte. Das war ein großes Unglück, ein qualvolles Leid, aber doch keine Schande. Sie hatte ja nicht gewußt, was sie tat, als sie seine Frau wurde. Und nun ihr die Augen über das alles geöffnet waren, nun mußte sie die Kraft haben, Werner selbst von sich zu befreien. Nur wenn sie das nicht tat, mußte sie sich schämen. Bald – in wenig Monaten – kam er heim. Dann würde sie ihm sagen, daß sie sich von ihm lösen wollte.
Aber würde sie die Kraft haben, ihm das zu sagen, würde sie ihm je wieder ins Antlitz sehen können im Bewußtsein, ihn zu lieben und von ihm verschmäht zu sein?
Nein – o Gott – nur das nicht, nur ihn nicht wiedersehen müssen mit der brennenden Qual im Herzen. Er durfte um keinen Preis ahnen, wie unglücklich sie war. Fliehen mußte sie, ehe er heimkehrte, fliehen vor seinem Anblick und vor der eigenen Liebe. Er durfte nicht wissen, was sie diese Trennung kostete.
Nur der Gedanke, daß ihr noch Monate blieben, um ihre Flucht vorzubereiten, machte sie allmählich ruhiger.
Auch rechnen lernte sie in dieser qualvollen Zeit. Sie gedachte der Summe, die ihr der Vater hinterlassen hatte. Würde die für ihren Lebensunterhalt reichen? Sie war in Geldangelegenheiten so unerfahren, auch jetzt noch. Nur zufällig hatte sie einmal von Tante Phine gehört, wie viel Zinsen ihr dies kleine Vermögen brachte. Es war sehr wenig im Verhältnis zu den Summen, die sie bisher allein für ihre Kleider ausgegeben hatte. Es fiel ihr schwer aufs Herz, daß sie all das bisher wie selbstverständlich von Werner angenommen hatte. Das durfte nun nicht mehr sein. Sie mußte jetzt mit dem Gelde auszukommen suchen, das ihr gehörte. Und sie rechnete und rechnete, bis sie ganz wirbelig im Kopfe war. Das lenkte sie aber trotzdem etwas von ihrem Schmerz ab, und langsam fand sie ihre Ruhe wieder. Es war allerdings eine freudlose, bedrückende Ruhe.
Manchmal aber saß sie oben in ihrem Zimmer und sah vergrämt und todtraurig in das Gesicht von Werners Mutter, aus dem ihr seine eigenen gütigen Augen entgegenblickten.
»Warum hat er mich vor Tante Phine so tief gedemütigt, warum hat er ihr gesagt, daß ich ihm eine Fessel bin? War's nicht mitleidiger, er sagte es mir selbst? Ist unter dem Zwang der Verhältnisse selbst das in seinem Herzen gestorben, was er für mich fühlte, als ich noch seine kleine Sanna und er mein Onkel Werner war?«
Sie barg schluchzend das Gesicht in den Händen und rang mit der Liebe in ihrem Herzen, die sich nur um so tiefer einbrannte, je mehr sie sich dagegen wehren wollte.
* * *
Als Käthe das nächstemal zu Sanna kam, empfing diese sie in ihrem Zimmer.
Sie war ruhig und still, sah aber so blaß und elend aus, daß Käthe wirklich zuerst an ein körperliches Leiden glaubte.
»Wo fehlt es denn, Schatz?«
Sanna zwang sich zu einem Lächeln.
»Ich hatte nur so arges Kopfweh.«
Dieses Lächeln griff Käthe ans Herz. Sie betrachtete die junge Frau mit unruhigem Forschen.
»Weißt du, Sanna, daß du mir gar nicht gefällst! Hast du einen Arzt genommen?«
»Nein.«
Käthe erhob sich plötzlich mit Entschiedenheit.
»Dann muß sofort einer herbeigeschafft werden, oder ich hole ihn selbst.«
Und sie ließ nicht nach: Sanna mußte den Arzt rufen lassen. Der stellte, wie immer in solchen Fällen, Nervosität fest und verordnete Ruhe und frische Luft.
Vorläufig mußte sich Käthe damit zufrieden geben. Aber als Tag um Tag verging, ohne daß Sanna sich erholte, da wurden ihre Freunde immer besorgter um sie. Liebevoll drang Käthe in die junge Frau, ihr doch zu sagen, was sie so furchtbar verändert habe.
»Hast du denn gar kein Vertrauen mehr zu mir, Sanna? Ich sehe und fühle doch, daß du leidest, daß dich etwas bedrückt. Ich sorge mich so sehr um dich, wir alle tun es.«
Aber Sanna wich aus und nahm sich noch mehr zusammen. Sie kam jedoch nicht mehr jeden Tag zu Käthe, und am Musizieren hatte sie keine Freude mehr.
Da hielt Käthe denn mit ihrem Manne und ihrem Bruder einen Kriegsrat, und das Ergebnis war ein langer Brief, den Rudolf Raven an Werner Rutland schrieb und der folgendermaßen lautete:
»Mein lieber Werner!
Käthe läßt mir keine Ruhe, ich soll und muß Dir schreiben, obwohl ich vor langen Briefen wie alle schreibfaulen Leute einen heillosen Respekt habe. Und dieser Brief wird lang – sehr lang werden.
Mit ihrem sechsten Sinn, Du weißt ja, daß Käthe schon als Kind allerlei mit diesem sechsten Sinn herausbrachte, wovon wir keine Ahnung hatten – also mit dieser zuweilen sehr nützlichen Gabe wittert sie ein Unheil, das sich über dem Haupt Deiner jungen Frau zusammenzieht. Wir stehen dabei mit gebundenen Händen, weil wir nicht wissen, was ihr droht. Erschrick nicht zu sehr, ums Leben geht es natürlich nicht – aber vielleicht um ähnliche kostbare Güter, vielleicht um den Seelenfrieden Frau Sannas.
Die Unheilstifterin ist nach unserer gemeinsamen Ansicht Fürstin Seraphine. Sollten wir ihr unrecht tun, verpflichte ich mich, auf den Knien zu ihr zu rutschen und sie um Verzeihung zu bitten. Ich fürchte jedoch, daß ich es nicht nötig haben werde.
Noch ein Weilchen mußt Du Geduld haben, bis ich mit meiner langen Vorrede zu Ende bin, und Dich soweit in alle Einzelheiten eingeweiht habe, daß Du unsere Sorge verstehen kannst. Daß sich Deine junge Frau sehr bald hier eingelebt hatte und körperlich und geistig sich täglich schöner entfaltete, habe ich Dir schon in früheren Briefen gemeldet. Wie innig sie sich mit Käthe befreundete, weißt Du wohl von Frau Sanna selbst. Nur eins haben wir Dir bisher verschwiegen, um Dir nicht unnötig Sorge zu machen, nämlich, daß Tante Phine, die Edle, Deine Frau von Anfang an unerhört beherrschte, und daß wir, Käthe und ich, energisch dagegen kehrt machten, und Deine Frau aus dieser Sklaverei befreiten. Hauptsächlich Käthe tat das mit der nötigen Tatkraft und Kampfesfreude, daß sich zuweilen ganz nette Scharmützel ergaben, natürlich immer in den Grenzen des guten Tones und der Höflichkeit. Und wir hatten das Gefühl, daß Frau Sanna sich wohlfühlte und mit ihrem Schicksal und ihrer Freiheit sehr zufrieden war. Sie sang uns mit Käthe fast täglich ihre süßen Lieder – Du ahnst wohl kaum, wie wundervoll sie jetzt singen kann, wie herrlich sich ihre Stimme entfaltet hat – und ihr frohes Lachen, ihre Schelmerei erfrischten uns wie ein klarer Trunk. Du siehst – ich kann ganz dichterisch werden bei dem Gedanken daran. Aber jetzt sind seit einiger Zeit ihre Lieder verstummt, und singt sie je einmal auf unseren dringenden Wunsch, dann klingen Tränen durch ihre Stimme. Ihr Frohsinn, ihre Schelmerei sind verflogen, ihre Augen blicken trübe und traurig, und wenn sie sich zu einem Lächeln zwingt, tut es einem nur weh. Das kam mit einem Male. Es begann mit einem Unwohlsein, an das wir drei aber nicht glauben. Käthe schleppte den Arzt herbei, und auch der fand keine Spur von Krankheit.
Was vorgefallen ist, können wir weder von Tante Phine noch von Frau Sanna herausbringen, aber vorgefallen ist etwas, das steht fest. Leider scheint Deine Frau kein Vertrauen mehr zu Käthe zu haben. Sie macht unbedingt den Eindruck einer Unglücklichen, die sich müht, ihr Leid vor fremden Augen zu verbergen.
Uns fehlt der Schlüssel zu ihrem veränderten Wesen, so daß wir ihr mit allem guten Willen nicht helfen können.
Wenn ich Dir nun noch, obwohl es mir unangenehm ist, diesen Punkt zu berühren, erzähle, daß Seraphine Münzer ihren Kränzchenfreundinnen berichtet hat, daß zwischen Dir und Deiner Frau nur eine Scheinehe besteht, und daß Du Sanna nur aus Mitleid und Dankbarkeit gegen ihren Vater geheiratet hast, so wirst Du Dir denken können, bis zu welcher ›Zartheit‹ des Handelns sich die edle Dame aufschwingen kann. Wir sind überzeugt, daß Seraphine etwas getan hat, was den Seelenfrieden Deiner Frau untergräbt, – sicher aus selbstsüchtigen Gründen.
Deshalb, mein lieber Werner, gestatte ich mir als Dein Freund die Mahnung: Kehre unverzüglich heim, nur Du kannst Deine arme, kleine Frau wirksam schützen. Hoffentlich erreicht Dich mein Brief ohne große Umwege. Ich sage: ›Auf baldiges Wiedersehen!‹ Melde mir möglichst Deine Ankunft.
Mit herzlichen Grüßen von meiner Schwester, meinem Schwager und mir
Dein Rudolf.«
Und diesen Brief erhielt Werner Rutland wirklich auf dem schnellsten Wege. Und ungefähr sieben Wochen später hatte Rudolf seine Antwort in den Händen.
»Mein lieber Rudolf!
Vielen Dank für Deinen ausführlichen Brief. Ich war schon in Unruhe. Sannas letzter Brief an mich ist so ganz anders gehalten als ihre früheren Schreiben. Dein Brief hat mir gezeigt, daß ich Grund zu dieser Unruhe hatte, wenn ich auch leider nicht wissen kann, was Sanna so verändert hat. Sollte wirklich Tante Phine daran schuld sein?
Nun drängt es mich in großer Unruhe nach Hause. Mit dem nächsten Schiff folge ich diesem Schreiben, ich rüste in aller Eile zur Heimreise. Herzlich und innig bitte ich Euch, steht meiner armen, kleinen Sanna auch weiterhin so treu zur Seite wie seither, bis ich sie selbst unter meinen Schutz nehmen kann. Ich hatte ja triftige Gründe, sie allein zu lassen, sonst hätte ich es nicht getan. Tante Phines Schwatzhaftigkeit, die mich heftig gegen sie erbittert hat, wird Euch zur Genüge verraten haben, daß meine Ehe mit Sanna unter außerordentlichen Umständen geschlossen wurde. Ich hatte Tante Phine unter dem Siegel der Verschwiegenheit die nötigen Aufschlüsse gegeben, damit Sanna vor jeder unzarten oder heiklen Frage bewahrt bleiben sollte. Nicht einmal Euch gegenüber habe ich davon sprechen mögen, – und sie macht es zum Gemeingut ihrer klatschsüchtigen Kränzchenschwestern. Sie soll mir Rechenschaft darüber ablegen. Euch werde ich nun selbstverständlich über alles aufklären, wenn ich heimkehre, damit Ihr unentstellt die Wahrheit hört.
Ich fiebere, heimzukehren, mein Herz ist voll und schwer, nicht nur voll Sorge um Sanna, sondern auch im eigenen selbstischen Verlangen nach Glück. Aber davon später.
Ich muß mich beeilen, damit dieser Brief mit dem heutigen Dampfer noch abgeht. Sanna kann ich meine Ankunft gar nicht mehr melden. Depeschieren will ich nicht, damit Tante Phine nichts von meiner Ankunft erfährt, ich will sie überraschen, vielleicht ist es besser. Bitte, sagt Ihr Sanna, daß ich am 24. April daheim eintreffe. Sie soll zu Tante Phine nicht davon sprechen. Nun noch herzliche Grüße Euch allen und auf Wiedersehen.
Dein Werner.«
Es war am 18. April, als Rudolf diesen Brief Werners erhielt. Er eilte damit zu seiner Schwester. Diese atmete erleichtert auf, als sie das Schreiben gelesen hatte.
Rudolf war eben wieder fortgegangen. Käthe sah ihm vom Fenster aus nach und winkte ihm zu. Kaum war er um die Ecke verschwunden, als von der anderen Seite Sanna Rutland auf das Haus zukam.
»Bist du endlich einmal wieder da, Wildvöglein? Seit drei Tagen hast du dich nicht sehen lassen. Wenn ich nur wüßte, was dich so scheu gemacht hat. Warst ein so liebes, zutrauliches Geschöpfchen und hattest mich lieb, ich hab's gefühlt. Jetzt liegt etwas zwischen uns, was ich nicht greifen kann und woran ich doch immer mit dem Kopfe stoße.«
Sannas Gesicht rötete sich dunkel.
»Ich habe dich lieb, wie zuvor, glaube es mir,« antwortete sie ernst und drückte krampfhaft Käthes Hand.
»Aber Vertrauen hast du nicht mehr zu mir. Und das tut mir weh.«
Sanna senkte den Kopf.
»Ich möchte so gern, daß du meinen Grillen gar keine Beachtung schenkst. Bitte, glaube mir, daß du mir noch die Alte bist.«
Käthe legte ihren Arm um sie.
»Nun gut, ich tue, wie du sagst. Bald kann ich mein Amt, dich zu behüten, in andere Hände zurücklegen. Höre, was ich für eine gute Nachricht für dich habe. Dein Mann trifft am 24. April hier ein.«
Sanna fuhr entsetzt empor. Aus ihrem Gesicht wich jeder Blutstropfen. Wie abwehrend streckte sie die Hände aus.
»Was sagst du?« rang es sich heiser über ihre Lippen.
Käthe beobachtete sie besorgt.
»Werner kommt – am 24. April ist er hier.«
»So bald schon?« stöhnte Sanna auf, und sie zitterte so heftig, daß Käthe sie stützen mußte.
Wie seltsam wirkte diese Kunde auf die junge Frau. Keine Spur einer freudigen Erregung, nur Furcht und Schrecken malte sich in ihrem Gesicht.
»Freust du denn dich nicht auf sein Kommen, kleine Sanna? So lange war er fort – dein liebster Mensch.«
Sanna machte sich hastig los und strich das Haar aus der Stirn.
»Wann hast du diese Nachricht von ihm bekommen?« fragte sie tonlos.
»Er hat an Rudolf geschrieben, der war eben hier und sagte es mir.«
»Mir – mir hat er nichts mitgeteilt.«
Noch immer beobachtete Käthe die Freundin. Nicht nur ihr sechster Sinn – auch die normalen fünf schienen jede Kleinigkeit zu erfassen.
»Er wollte euch vielleicht überraschen, Tante Phine soll jedenfalls nichts davon wissen. Aber dir will ich's doch lieber sagen, du bist mir zu schreckhaft geworden.«
»O, ich danke dir sehr, daß du es getan hast,« stieß Sanna hastig hervor.
»Aber Tante Phine nichts verraten, sonst rüstet sie zu einem festlichen Empfang, und dann merkt Werner gleich, daß ich eine Plaudertasche bin.«
Sanna erhob sich in ziemlicher Eile.
»Ich werde ihr gewiß nichts sagen, Käthe, und nochmals meinen Dank, daß du zu mir davon gesprochen hast. Ich werde dir's nie vergessen.«
Käthe schüttelte lachend den Kopf.
»Aber Wildvöglein, nur nicht so feierlich! Nun, willst du schon wieder fort?«
»Ja – weißt du – mir fällt da eben ein – eine Besorgung – ich muß gehen.«
Käthe hielt sie nicht, sie sah, wie Sanna fieberte, allein zu sein. Die Nachricht von Werners Heimkehr hatte sie heftig erschüttert.
An der Tür drehte sich Sanna noch einmal um und legte plötzlich in auffallender Herzlichkeit, wie früher oft, ihre Arme um Käthes Hals und küßte sie.
»Liebe – Gute – leb wohl! Ich danke dir für alle Liebe!«
Käthe drückte sie fest an sich.
»Närrlein, wie sonderbar du heute bist!«
Sanna riß sich schnell los und ging.
Käthe blickte ihr aufseufzend nach.
* * *
Sanna war nach Hause geeilt. Sie konnte nur eins denken: »Du mußt fort, ehe Werner heimkommt.«
In all den Wochen der Qual, die sie seit jenem Morgen hinter sich hatte, war sie nicht einen Augenblick im Zweifel gewesen, daß sie gehen müsse, ehe sie ihn wiedersah. Sie hatte geglaubt, noch Wochen vor sich zu haben, um in Ruhe einen Aufenthalt für die Zukunft zu suchen, und nun war sie plötzlich vor die Entscheidung gestellt.
Das Blut hämmerte ihr in den Schläfen, und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie wünschte sich sehnlichst den Tod. Was sollte sie noch auf der Welt, allein und verlassen, ungeliebt und unbegehrt, eine Last dem Manne, den sie liebte! Sterben können, die Augen schließen und nie mehr zu Leid und Weh erwachen – heimkehren zu dem toten Vater – wie schön mußte das sein!
Aber es stirbt sich nicht so leicht mit neunzehn Jahren, wenn man einen gesunden Körper hat.
Seraphine sah mitleidslos zu, wie sich neben ihr ein junges Herz fast zu Tode quälte. Sie rechnete mit Sannas Stolz, wie niedrige Menschen immer mit der anständigen Gesinnung anderer rechnen.
Außerdem glaubte sie wirklich, daß Werner seine Frau nicht liebe, und daß sie ihm noch einen Gefallen tat, wenn sie die Fesseln lösen half, die ihm nach ihrer Ansicht unbequem sein mußten.
Die beiden Frauen hatten in den letzten Wochen nur das Nötigste miteinander gesprochen und waren sich möglichst aus dem Wege gegangen.
* * *
Am 23. April abends gegen neun Uhr verließ Sanna Rutland heimlich das Haus. Sie trug einen einfachen, dunklen Anzug und hielt eine kleine Reisetasche in der Hand.
Niemand bemerkte ihr Fortgehen.
Sie atmete tief auf, als der frische Aprilwind ihre heiße Stirn kühlte. An der Straßenecke warf sie noch einen Abschiedsblick auf das Haus zurück, in dem sie fast zwei Jahre gelebt hatte.
Schnell eilte Sanna weiter. In der nächsten Straße bestieg sie eine leere Droschke und fuhr zum Bahnhof.
Dort nahm sie für den Nachtzug eine Fahrkarte nach Berlin. Dies war der einzige Ort, wo sich Sanna außer in Danzig allein zurechtzufinden hoffte. Es war ihr kein anderer Rettungsweg eingefallen. Der Zug fuhr schon wenige Minuten später ab. Das hatte Sanna mit vieler Mühe aus dem Kursbuch herausgefunden. So gut es ihr bei ihrer Unerfahrenheit möglich war, hatte sie sich ihren Reiseplan zurechtgelegt.
Mit einem Seufzer der Erleichterung sank sie in die Polster ihres Abteils zurück. Sie war allein. Ein Gefühl der Befreiung erfüllte ihre Seele.
Tante Phine wartete am anderen Morgen eine Weile mit dem Frühstück auf Sanna. Als sie nicht erschien, schickte sie Berta hinauf mit der Anfrage, ob Sanna herunterkommen würde, oder ob man ihr das Frühstück auf ihr Zimmer bringen sollte.
Schon nach wenigen Minuten kam Berta mit bestürztem Gesicht zurück und meldete, daß die gnädige Frau nicht in ihren Zimmern sei.
»Dann wird sie noch schlafen,« sagte Seraphine gleichmütig. »Wecken Sie die gnädige Frau lieber nicht, sie ist noch immer unwohl. Sagen Sie unten in der Küche, daß für mich allein gedeckt werden soll.«
Berta blieb zögernd stehen.
»Verzeihen gnädiges Fräulein, aber im Schlafzimmer befindet sich die gnädige Frau auch nicht – und – es sieht darin aus – nun ja – als sei die gnädige Frau gar nicht zu Bett gegangen.«
Seraphine blickte betroffen auf.
»Nicht zu Bett gegangen? Ach, Unsinn, Berta, vielleicht hat das andere Stubenmädchen das Zimmer schon in Ordnung gebracht.«
»Nein, gnädiges Fräulein – Minna ist im zweiten Stock in Ihren Zimmern beschäftigt, und vorher haben wir zusammen hier unten gearbeitet.«
Nun erhob sich Seraphine mit einem unruhig gespannten Ausdruck.
»Ich will selbst einmal nachsehen – man soll mit dem Frühstück warten.«
So schnell als es sich mit ihrer würdevollen Art vertrug, ging Seraphine hinauf in Sannas Zimmer. Forschend schritt sie aus einem Raum in den anderen. Nirgends fand sich eine Spur von Sanna, und das Schlafzimmer erschien wirklich völlig unbenutzt.
Betroffen blieb sie stehen und sann eine Weile nach. Seit gestern nachmittag hatte sie Sanna nicht zu Gesicht bekommen, vor dem Abendessen hatte sie sich entschuldigen lassen mit dem Bemerken, daß sie sofort zu Bett gehen wolle. Hastig klingelte Seraphine, und Berta erschien auffallend schnell mit neugierigem Gesicht.
»Wann haben Sie die gnädige Frau gestern abend zuletzt gesehen, Berta?«
»Gegen halb acht Uhr, gnädiges Fräulein.«
»War sie da in ihren Zimmern?«
»Nein, draußen auf dem Flur. Sie kam aus dem Kofferzimmer und hatte sich die kleine braune Handtasche geholt. Ich wollte sie ihr hinübertragen, aber sie wehrte ab, und bestellte mir nur, sie zum Abendessen zu entschuldigen, da sie gleich zu Bett gehen wollte.«
Seraphines Augen blitzten auf, als sie von der Reisetasche hörte.
»Es ist gut, Sie können gehen.«
Berta verschwand und eilte in die Küche, wo die anderen dienstbaren Geister schon ihrer erwartungsvoll harrten. Natürlich machte die Meldung, daß die junge Gnädige verschwunden sei, nicht geringen Eindruck. Die Leute tuschelten aufgeregt miteinander. Dienstboten haben eine feine Witterung für ungewöhnliche Vorgänge, und es war ihnen nicht entgangen, daß die junge Frau und Tante Phine auf gespanntem Fuße lebten.
»Die Alte hat die junge Gnädige hinausgegrault, dafür lege ich meine Hand ins Feuer,« sagte der Diener und sprach damit den anderen aus der Seele.
Sanna war sehr beliebt bei den Leuten. Ihre freundlich stille Art hatte um so mehr aller Herzen gewonnen, als man Seraphines hochmütiges und oft ungerechtes Wesen unerträglich fand.
Nun waren alle äußerst gespannt auf die weitere Entwicklung der Dinge.
Seraphine war inzwischen oben in Sannas Reich von einem Möbel zum anderen gegangen, in der Hoffnung, eine Bestätigung ihres Verdachtes zu finden, daß die junge Frau auf immer das Haus verlassen habe. Erwartet hatte sie es schon längst.
So kam sie auch an Sannas Schreibtisch, und hier bemerkte sie sofort, daß die junge Frau gegen ihre Gewohnheit die Schlüssel hatte stecken lassen.
Zuerst zog sie das Fach auf, wo Sanna ihr Geld aufzubewahren pflegte. Es war leer, trotzdem sie sich erst gestern eine größere Summe von Seraphine hatte geben lassen.
Nun öffnete sie das Mittelfach und entdeckte sofort einen Brief, der auffällig hineingelegt war. Sie stieß einen leisen Seufzer der Befriedigung aus und eilte an die Tür, um sie abzuschließen.
Schnell kehrte sie an den Schreibtisch zurück und nahm den Brief heraus. Er war von Sannas Hand an Werner Rutland gerichtet.
Unschlüssig wog sie ihn einen Augenblick in ihrer Hand. Dann öffnete sie mit großer Geschicklichkeit den Umschlag. Ihr ganzes Tun offenbarte zur Genüge, daß sie nicht das erstemal geschlossene Briefe öffnete. Tatsächlich hatte sie auf diese Art nicht nur Sannas Briefwechsel mit Werner beaufsichtigt, sondern auch früher den Werners mit seinem Onkel.
Mit spitzen Fingern zog sie das Schreiben aus dem Umschlag, entfaltete es und las:
»Lieber Werner!
Herzlich bitte ich Dich um Verzeihung, daß ich ohne Deinen Willen Dein Haus verlassen habe, noch ehe Du zurückkommst. Ich will Dir und mir ein Wiedersehen ersparen, das uns beiden sehr peinlich und quälend sein würde.
Mein lieber Vater hat es ja gut mit mir gemeint, als er mich mit Dir vermählte, er hat in seiner Sorge um mich wohl nicht daran gedacht, daß er Dir und auch mir eine Fessel anlegte, die zu tragen uns schwer sein würde. Ich war damals noch so sehr jung und unerfahren, stand dem Leben so fremd gegenüber, daß ich nicht wußte, was mit mir geschah und was ich tat. Ich war nur von dem Wunsche beseelt, Vaters letzte Stunden sorglos zu gestalten und dachte nur an ihn, wie Du es auch getan. Du warst außer ihm der einzige Mensch, dem ich voll vertrauen konnte, den ich gern hatte, und es erschien mir so einfach und selbstverständlich, daß ich mich in Deinen Schutz begab.
Nun sehe ich jedoch das Leben mit anderen Augen an und erkenne, in welch peinliche Lage ich Dich gebracht habe und in welcher unhaltbaren Lage ich mich selbst befinde.
Deshalb bin ich entschlossen, mich von Dir zu trennen. Ich gehe nach Berlin und werde mich zunächst dort in dem mir bekannten Haus aufhalten, bis ich ein anderes Unterkommen gefunden habe. Mit Geld bin ich vorläufig zur Genüge versehen, später weisest Du mir wohl mein kleines Vermögen von Vater an, es wird mir für ein bescheidenes Leben genügen.
Wie Du unsere Ehe lösen kannst und willst vor dem Gesetz, überlasse ich Dir, Du kannst mir ja brieflich Nachricht darüber senden.
Nur eins bitte ich Dich inständig: erspare mir jede persönliche Begegnung, ich könnte Dich nicht wiedersehen, ohne vor Scham zu vergehen, weil ich so töricht war, in eine Ehe mit Dir zu willigen. Ich wußte nicht, was ich tat. Über mein ferneres Leben kannst Du ganz ruhig und unbesorgt sein. Ich werde mir vielleicht in einem Vororte von Berlin bei einer würdigen alten Dame ein bescheidenes Unterkommen suchen, wo ich zugleich Verpflegung und Schutz habe. Sollte ich einmal Rat und Hilfe brauchen, so werde ich mich an Dich, den treuen, gütigen Freund meines Vaters wenden, das verspreche ich Dir freiwillig.
Und nun leb wohl und habe Dank für Deine edle Aufopferung. Verzeihe mir, wenn ich eigenwillig unsere Bande löste, aber sie waren Dir und mir gleich drückend. Ich mußte es tun. Mit herzlichem Gruß und Lebewohl
Deine Sanna.«
Mit einem befriedigten Atemzug steckte Seraphine den Brief wieder in den Umschlag und schloß ihn kunstvoll. Dann legte sie ihn nur vorn auf die Schreibtischplatte, damit er jedem gleich in die Augen fallen mußte. Stolz erhobenen Hauptes schritt sie dann durch die Zimmerreihe und nahm gleichsam schon wieder mit den Augen Besitz davon.
Es würde sich alles leichter und müheloser machen lassen, als sie in ihren kühnsten Erwartungen zu hoffen gewagt hatte. Dieser Brief war so recht nach ihren Wünschen geschrieben. Nicht die Spur eines Verdachtes konnte auf sie fallen.
Es galt jetzt nur zu bedenken, was man den Dienstboten über Sannas Verschwinden sagen und welche Lesart man unter die Leute bringen sollte. Man brauchte ja nur die Geheimrätin Papperitz zum Sprachrohr zu machen. Die würde schon dafür sorgen, daß eine passende Erklärung bekannt würde.
Noch eine Weile ging sie nachdenklich hin und her und überlegte, ob sie Werner sofort von Sannas Verschwinden Mitteilung machen sollte. Endlich verließ sie Sannas Zimmer und schloß die Tür hinter sich ab. Berta kam ihr auf der Treppe entgegen. »Die Sache hat sich aufgeklärt, Berta. Die gnädige Frau ist auf einige Zeit verreist. Sie sprach mit mir gestern schon davon, doch glaubte ich, sie würde erst heute abend reisen. Lassen Sie jetzt das Frühstück für mich bringen und legen Sie mir meine Sachen zurecht. Ich will dann bald ausgehen.« Seraphine begab sich ins Speisezimmer, und nachdem sie mit großer Seelenruhe ihr Frühstück eingenommen hatte, machte sie noch einen Gang durch den Garten, der bereits instandgesetzt worden war. Sie sah sich die neu angelegten Beete an und ging dann langsam ins Haus zurück. Als sie eben über die Diele ging, um in ihrem Zimmer sich für den Ausgang zurecht zu machen, hörte sie draußen einen Wagen vorfahren. Lauschend blieb sie stehen, den einen Fuß schon auf die Treppe gesetzt. Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür – und vor ihr stand Werner Rutland. Wäre der Blitz vor Seraphine eingeschlagen, hätte sie nicht mehr erschrecken können.
»Wie das leibhaftige schlechte Gewissen!« dachte Werner, als er mit schnellen Schritten auf sie zutrat.
»Guten Tag, Tante Phine!«
Sie faßte sich mühsam.
»Mein Gott, – Werner, – du – das ist ja – du siehst mich fassungslos vor Erstaunen. Ich denke, du bist noch in Afrika – und nun stehst du plötzlich hier vor mir. Ich habe dich jetzt nicht erwartet.«
Er beobachtete sie scharf.
»Ich wollte euch überraschen, und mir scheint, das ist mir gelungen, wenn du auch wenig Freude darüber an den Tag legst.«
Seraphine zwang sich zu einem Lächeln, während sie sich klar zu werden suchte, wie sie sich jetzt zu verhalten hatte.
»Lieber Himmel, Werner, in deinem eigenen Hause wirst du doch willkommen sein. Nur sehr erschrocken bin ich, – man kann auch vor Freude erschrecken.«
»Ja, das kann man.«
Sie reichte ihm huldvoll die Hand.
»Also nun erst einmal herzlich willkommen daheim!«
Er berührte flüchtig mit den Lippen ihre Hand.
»Nun möchte ich zu Sanna. Wo ist sie? In ihren Zimmern?«
Er wollte schon an ihr vorüber die Treppe hinaufgehen. Da aber legte ihm Seraphine die Hand auf den Arm. In ihren Augen lag noch eine heimliche Unruhe – ein Schuldbewußtsein.
»Warte einen Augenblick, Werner, ich habe dir etwas mitzuteilen. Du kommst im Grunde wie gerufen und siehst mich in einer unbeschreiblichen Aufregung. Deshalb wohl auch meine Fassungslosigkeit bei deinem Anblick. Es ist heute schon so viel auf mich eingestürmt. Wir haben in dieser Stunde entdeckt, daß Sanna, wahrscheinlich schon gestern abend, heimlich das Haus verlassen hat. Ihr Schlafzimmer war unberührt. Sie hatte sich, Unwohlsein vorschützend, gestern abend zeitig zurückgezogen, und seit der Zeit hat sie niemand mehr im Hause gesehen.«
Werner stand wie erstarrt. Sein Gesicht wurde bleich, und jeder Muskel darin schien gespannt. Seine Augen bohrten sich drohend in die Seraphines.
»Was ist geschehen, – was hast du Sanna angetan?« stieß er heiser hervor.
Sie richtete sich stolz auf. Jetzt war sie wieder Herrin der Lage.
»Deine Worte sind mir unverständlich, mein lieber Werner, und ich will sie deiner Erregung zugute halten. Ist mir doch selbst der Schreck heute morgen in alle Glieder gefahren. Was soll ich Sanna getan haben? Ich habe sie gehütet wie meinen Augapfel, wenn sie sich auch leider immer wieder meinem Schutz entzogen hat. Was geschehen ist, weiß ich leider selbst nicht. Ich bin vor wenig Minuten erst ratlos aus Sannas Zimmern gekommen, wo ich nach ihr gesucht hatte. Ratlos stand ich ihrem Verschwinden gegenüber. Ich fand nichts oben als einen an dich gerichteten Brief. Hier ist der Schlüssel von Sannas Zimmern, ich schloß sie ab, der Dienstboten wegen. Hoffentlich enthält der Brief eine Erklärung, und erlöst auch mich aus meiner Unruhe.«
Werner riß ihr fast den Schlüssel aus der Hand und stürmte ungestüm die Treppe hinauf. Sie sah ihm mit lauernden, flimmernden Augen nach.
Wenn ich nicht wüßte, daß er Käthe Verhagen liebt, könnte ich denken, er sei in seine Frau verliebt, so unsinnig gebärdet er sich, dachte sie beunruhigt, und zum erstenmal beschlich sie die Angst, daß ihr fein angelegter Plan doch noch scheitern könnte.
Inzwischen stand Werner oben vor Sannas Schreibtisch und hielt ihren Brief in seinen zitternden Händen. Mit brennenden Augen starrte er darauf nieder. Sein Gesicht zuckte in furchtbarer Erregung.
Heiße Sehnsucht im Herzen, war er zu ihr geeilt – und nun hielt er ihren Abschiedsgruß in den Händen.
Er hatte sie fragen wollen in drängender Ungeduld: »Willst du mir angehören mit Leib und Seele, so wie das Weib dem Manne angehören soll, dessen Namen sie trägt?« Aber ehe er die Frage hatte stellen können, war ihm Sanna mit einem Nein zuvorgekommen. Geflohen war sie vor ihm, geflohen – aus seinem Schutz, vor seiner Liebe.
Schmerzlich stöhnte er auf, und langsam las er den Brief noch einmal durch. Der war so ruhig und klar abgefaßt, nicht ein Fünkchen Hoffnung blieb ihm übrig. Zum zweitenmal hatte er Schiffbruch gelitten in seiner Liebe.
Sie wollte ihn nicht einmal sehen, schämte sich, daß sie ohne Liebe seine Frau geworden war, und wagte sich mit ihrer Unerfahrenheit in ein unbekanntes Leben hinein, nur um ihm nicht begegnen zu müssen.
Auf jeden Fall mußte er sofort mit Rudolf und Käthe sprechen. Vielleicht würde Käthe zu ihr nach Berlin fahren, um ihr beizustehen. So allein durfte sie nicht bleiben. Allerlei Gefahren konnten sie bedrohen. Und wenn sie ihn selbst nicht sehen wollte, Käthe würde sie ja gestatten, sich ihrer anzunehmen.
Er sprang auf und schritt auf die Tür zu. Da trat Seraphine ein. »Nun, Werner – ich fiebere vor Unruhe. Hast du Aufschluß in dem Briefe gefunden über Sannas Verschwinden?«
»Sanna ist nach Berlin gereist, sie hat mein Haus für immer verlassen. Kannst du mir sagen, ob sich etwas Besonderes ereignet hat, das sie zu diesem Entschluß trieb? Hast du irgend eine Veränderung in ihrem Wesen bemerkt?«
Seraphine zuckte die Achseln.
»Ich sagte dir schon, sie hat sich leider sehr von mir zurückgezogen. Frau Verhagen hat einen, ich muß sagen, sehr ungünstigen Einfluß auf sie ausgeübt. Meinen guten Willen, sie zu behüten, hat sie mißachtet. Käthe Verhagen war ihr Evangelium. Und Rudolf Raven hat sich bei ihr ebenfalls außerordentlich in Gunst gesetzt. Wenn ich offen zu dir sein soll, ich fürchtete manchmal, zwischen den beiden spiele etwas.«
»Was willst du damit sagen?« stieß er erregt hervor.
»Mein Gott, du bist wirklich sehr seltsam, weshalb siehst du mich denn so drohend an? Es kann ja sein, ich täusche mich, aber sie tändelten oft wie Liebesleute miteinander. Sanna war auch in der letzten Zeit sehr ungleich in ihren Stimmungen, aber wie gesagt, sie zog sich sehr von mir zurück, und wir haben immer nur das Nötigste besprochen.«
Werner zog die Stirn finster zusammen. In seinen Augen lag ein schmerzliches Sinnen. Er fuhr sich mit einer raschen, entschlossenen Gebärde durchs Haar.
»Entschuldige mich jetzt, ich habe einen Weg vor. Wenn ich zurückkomme, sprechen wir weiter über diese Angelegenheit,« sagte er rasch und verließ mit kurzem Gruß das Zimmer.
Seraphine ging beunruhigt hinter ihm die Treppe hinab. Jetzt hieß es aufpassen und die Fassung nicht verlieren. Die Gefahr würde schon vorüberziehen.