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Eines Tages – es war mehr als ein Vierteljahr seit Werners Abreise vergangen – kam Käthe zu ungewohnter Zeit, Sanna zu besuchen. Sie suchte die junge Frau immer in ihren Zimmern auf, wenn sie ein Stündchen mit ihr plaudern wollte. Als sie, dem Diener, der sie melden wollte, freundlich aber bestimmt abwinkend, die Treppe hinaufstieg, kam ihr von oben Tante Phine entgegen.
Käthe begrüßte sie in der vergnügt scherzhaften Art, die sie immer für ›Fürstin Seraphine‹ hatte, und wollte an ihr vorbeigehen. Diese hielt sie jedoch mit einem etwas unsicheren Gesicht zurück und sagte ihr, es sei besser, wenn sie Sanna nicht besuche, da dieselbe nicht recht wohl sei. Etwas in Seraphines Gesicht machte Käthe stutzig.
»Ei, so muß ich sie erst recht besuchen und sie ein wenig zerstreuen,« erwiderte sie unbeirrt.
Tante Phine machte ein ungemein unverschämtes Gesicht.
»Sie haben immer sehr starke Nerven gehabt, Frau Verhagen, und können sich vielleicht nicht denken, daß zarter besaitete Naturen allein zu sein wünschen, wenn sie krank sind.«
Käthe nickte vergnügt.
»Gott sei Dank – meine Nerven sind noch genau so stark wie früher, gnädiges Fräulein, und Sanna ist gottlob auch ein unverfälschtes Naturkind, dem der Begriff ›feinfühlige Nerven‹ völlig abgeht. Ich wette mit Ihnen, daß sie sich freut, mich zu sehen.«
Tante Phine warf einen giftigen Blick in das schöne Frauengesicht und suchte nach einem neuen Grund, Käthe zum Rückzug zu bewegen. Diese schritt aber mit raschen Schritten die Treppe vollends hinauf und machte von oben eine äußerst höfliche Verbeugung.
Käthe fand Sanna in Tränen. Bestürzt nahm sie die junge Frau in ihre Arme.
»Kleinchen – was ist dir denn? Bist du wirklich krank, oder hat dir Fürstin Seraphine etwas zuleide getan?«
»Nein – krank bin ich nicht,« antwortete Sanna, sich mühsam fassend.
Käthe ballte zornig die Hand.
»Also hat sie dir weh getan?«
»Nein, nein,« wehrte Sanna verlegen ab.
Käthe setzte sich zu ihr und sah sie forschend an.
»Du lehrst mich doch Tante Phine nicht kennen. Ihr Gesicht verriet mir schon nichts Gutes, und ein böses Gewissen hatte sie auch, sie wollte mich nicht zu dir lassen. Nun beichte mal, Schatz – was hat es gegeben?«
»O, ich selbst bin schuld daran, Käthe. Tante Phine hat ihre Not mit mir. Ich habe wieder allerhand Verstöße gegen den guten Ton begangen, vor allem bin ich nicht ehrerbietig genug gegen Frau Geheimrat Papperitz gewesen. Wirklich – Tante Phine hatte recht, mich zu schelten.«
Käthe nahm Sanna lachend in die Arme.
»Ach, du törichtes Kleinchen, wie kannst du über eine Moralpauke von Tante Phine weinen! Laß sie doch reden, und weine dir nicht die Äuglein rot. Solche Leute wie sie darf man nur scherzhaft nehmen. Dein Mann tut das auch, das weiß ich.«
Sanna seufzte und trocknete sich die Augen.
»Aber, Käthe, sie hat ja recht, wenn sie mich schilt, das ist das Schlimmste. Ich kann und kann nicht gegen Menschen liebenswürdig sein, wenn mich mein Herz nicht dazu drängt. Und – dir will ich's nur gestehen – die Geheimrätin ist mir so schrecklich unangenehm – und der Geheimrat – der ist mir geradezu verhaßt – ja – so schlecht bin ich!«
»Ach was, er ist ein würdeloses Ekel und sie eine falsche, heuchlerische Person. Es spricht nur für dein gesundes und lauteres Empfinden, wenn du solche Menschen nicht leiden magst. Mir sind sie auch unausstehlich, und ich gehe ihnen aus dem Wege, so weit ich kann.«
Sanna seufzte.
»Das möchte ich auch tun.«
»Nun – so tue es doch.«
»Das geht ja leider nicht. Sie sind täglich hier im Hause, um Tante Phine zu besuchen.«
»Nun, so überlaß sie ihrer Busenfreundin. Du mußt sie doch nicht empfangen, wenn sie dir lästig sind.«
»Aber sie nehmen doch fast täglich den Tee mit uns ein, wie soll ich da ausweichen?«
»Sehr einfach – indem du den Tee auf deinem Zimmer nimmst.«
»Das darf ich nicht.«
»Wer verbietet es dir?«
»Dann gehe aus um diese Zeit.«
»Das darf ich auch nicht.«
»Darfst du nicht? Aber, Sanna!«
»Nun ja – ich muß doch den Tee bereiten und ihn anbieten.«
Käthe sprang plötzlich auf und stellte sich kampfbereit vor Sanna hin.
»Das eine ›darfst du nicht‹, und das andere ›mußt‹ du! Kindchen – mir scheint, du hast dich schon ganz sanft unter Tante Phines Joch gebeugt. Du – das geht so nicht weiter – das leide ich nicht. Umsonst hat mich Werner nicht zu deinem Schutz bestellt. Närrchen du, mach dir doch mal klar, daß du hier im Hause die Herrin bist und nicht Tante Phine. Wenn sie dir unangenehme Menschen empfängt, so hättest du ein Recht, dir das, in deiner Gegenwart wenigstens, zu verbitten. Keinesfalls aber kann sie dich zwingen, die Gesellschaft solcher Menschen zu ertragen.«
»Ach – das würde doch gegen den guten Ton verstoßen.«
Käthe lachte hell auf.
»Puh – mit dem guten Ton wirst du armes Kind geschreckt? Nun laß dir damit nicht bange machen, meine kleine Sanna. Sag Tante Phine in aller Ruhe und Bestimmtheit, daß dir Geheimrats unerträglich sind, und daß du, um ihren Gästen nicht unliebenswürdig begegnen zu müssen, vorziehst, künftig den Tee auf deinem Zimmer zu nehmen.«
Sanna hob erschrocken abwehrend die Hände.
»O nein – das wage ich mich nicht zu sagen – Tante Phine wäre außer sich.«
Käthe strich ihr über das lockige Haar.
»Kleinchen – es war die höchste Zeit, daß ich hinter die Tyrannei kam, die sie an dir ausübt. Wie hätte ich vor Werner bestehen sollen nach seiner Rückkehr. Mut, du kleiner, lieber Wildling! Bist doch mit den Hottentotten fertig geworden und willst vor Tante Phine die Segel streichen.«
»Ach du – die Hottentotten sind viel weniger schwierig im Verkehr als Tante Phine.«
Käthe umfaßte sie herzlich lachend.
»Wenn Tante Phine ahnte, daß du zwischen ihr und den Hottentotten Vergleiche zögest – sogar zugunsten dieses wenig lieblichen Völkerstammes – o weh – Sanna – das auszudenken, fehlt sogar mir der Mut. Aber nun ernsthaft, so geht das nicht weiter. Wann pflegt ihr denn den Tee einzunehmen?«
»Um fünf Uhr.«
»Schön. Nun höre zu. Wir haben doch bis jetzt jeden zweiten Tag vormittags eine Stunde gemeinsam musiziert.«
»Ja – das heißt, du warst so freundlich, mich zu meinen kleinen Volksliedern zu begleiten.«
»Und ich will dir nur eben sagen, daß ich leider vormittags anderweitig beschäftigt bin.«
Sanna sah betrübt aus.
»O – wie schade!«
»Ja – mein Tag ist so unglaublich besetzt, daß ich nur noch von fünf Uhr an Zeit für dich habe – sagen wir von fünf bis sieben. Außerdem meint dein Gesanglehrer – ich werde nachher gleich dafür sorgen, daß er es meint, – daß du unbedingt jeden Tag mit mir üben mußt. Du wirst dich also jeden Nachmittag punkt fünf Uhr bei uns einfinden.«
Sanna fiel Käthe um den Hals.
»Ach, Käthe – liebe Käthe, – wenn ich dich nicht hätte, – ich glaube, ich hielte es gar nicht länger hier aus,« sagte Sanna plötzlich mit leidenschaftlicher Heftigkeit.
Käthe streichelte ihre Wange.
»Mein armes, kleines Wildvöglein – ich könnte deinem Manne zürnen, daß er dich in den fremden Verhältnissen allein gelassen hat.«
Sanna schüttelte den Kopf.
»Nein, nein – zürne ihm nicht, – du weißt ja nicht, was ihn fortgetrieben hat. Es mußte sein – ich – o – ich verstehe, daß es sein mußte. Er ist so gut, – damit ich eine Heimat habe – ich meine – deshalb hat er mich hierhergebracht. Ich kann dir das nicht alles so erklären, aber glaube mir, ihn trifft keine Schuld.«
Käthe hätte aus diesen etwas unklaren, verwirrten Worten wohl kaum klug werden können, wenn sie nicht durch Tante Phines Vertrauensbruch die Erklärung dazu gehabt hätte. Sie blickte mit warmer Teilnahme in das liebe, junge Gesicht der Freundin und sagte zart und leise:
»Du hast ihn sehr, sehr lieb deinen Mann, nicht wahr?«
Sanna legte die Hand aufs Herz und wurde sehr rot. Aber sie blickte Käthe offen an und sagte innig:
»So lieb wie keinen anderen Menschen auf der Welt, – nie könnte ich jemand mehr lieben als ihn.«
Käthe drückte sie fester an sich. Ihre Augen strahlten.
»Hast du kürzlich Nachricht von Werner bekommen?«
»Ja – gestern erhielt ich einen Brief von ihm. Er ist gesund, und es geht ihm gut. Wie es mir geht, fragt er auch an – und ob ich mich wohl und glücklich fühle.«
»Hast du ihm schon geantwortet?«
Sanna nickte hastig.
»Ich antworte ihm immer sofort.«
»Und hast du dich über Tante Phine beklagt?«
»Um Himmelswillen nicht, – er würde sich ja beunruhigen. Und er hat mir ja auch gesagt, ich soll Tante Phine nicht ernst nehmen, soll sie reden lassen, und doch nur tun, was mir gefällt.«
»Nun siehst du wohl, du ungehorsame Frau, weshalb tust du nicht, was er dir sagt?«
Sanna lachte verlegen.
»Aber jetzt muß ich dich verlassen, Sanna, weil ich Tante Phine noch einen Besuch machen muß. Also morgen um fünf Uhr auf Wiedersehen! Und pünktlich sein, Kleinchen.«
Sie verabschiedeten sich herzlich, und Sanna begleitete Käthe bis zur Treppe. –
Tante Phine empfing Käthe in der Bibliothek, wo sie in ihrem Sinnierwinkel saß. In ihren eigenen Zimmern war es ihr nicht vornehm genug, sie hielt sich meist in den unteren Räumen des Hauses auf.
»Ich wollte nicht unterlassen, mich von Ihnen zu verabschieden, gnädiges Fräulein. Erfreulicherweise fühlt sich Sanna schon etwas wohler, aber ich wollte mich doch nicht zu lange bei ihr aufhalten, damit ihr Kopfweh nicht wieder schlimmer wird,« sagte Käthe scheinbar ganz unbefangen.
Seraphine warf ihr einen forschenden Blick zu. Hatte Sanna geplaudert, oder glaubte die Besucherin an ihr Kopfweh. Ohne sich indes aus ihrer hoheitsvollen Ruhe bringen zu lassen, zeigte sie einladend auf einen Sessel.
»Sanna leidet doch wohl etwas unter dem veränderten Klima,« sagte sie kühl.
»Meinen Sie? Na, hoffentlich ist ihr Kopfweh bis morgen verschwunden, denn morgen haben wir unsere musikalische Übungsstunde. Ich freue mich immer darauf. Sanna singt wirklich entzückend. Wenn sie erst noch etwas mehr Schule hat, müssen wir Ihnen einmal abends vormusizieren.«
Seraphine machte ein Gesicht, als habe sie auf einen Zitronenkern gebissen.
»Meine Nerven sind leider zu empfindlich, um mir einen solchen Genuß zu gestatten. Wenn Sanna ihre Klavierübungen macht, muß ich mich immer auf mein Zimmer zurückziehen.«
Käthe lachte.
»Übrigens kam ich heute her, um Sanna zu melden, daß ich leider unsere Übungsstunden auf den Nachmittag verlegen muß. Ich habe sie gebeten, zwischen fünf und sieben Uhr zu mir zu kommen.«
Seraphine richtete sich hoch auf.
»Sanna kann aber unmöglich um diese Zeit abkommen, das hat sie Ihnen hoffentlich gesagt?«
»Allerdings meinte sie, daß Sie um fünf Uhr gemeinsam den Tee einnehmen. Aber das hindert uns nicht – Sanna trinkt eben bei mir eine Tasse Tee.«
Seraphines Finger trommelten unruhig auf der Tischdecke.
»Es ist dennoch unmöglich, unsere lieben Freunde, Geheimrat Papperitz und Frau Gemahlin, sind meist zum Tee unsere Gäste.«
Käthe erhob sich und machte ein sehr erfreutes Gesicht.
»Ah – das trifft sich ja herrlich, dann sind Sie wenigstens nicht allein. Dann ist ja alles in schönster Ordnung. Sanna hat mir auch schon ihr pünktliches Erscheinen zugesagt. Aber nun muß ich mich beeilen – mein Mann erwartet mich. Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein, – auf Wiedersehen!« sagte sie schnell, so daß Tante Phine gar nicht zu Worte kommen konnte. Und ehe die alte Dame eine Entgegnung fand, war sie schon hinaus.
Tante Phine stieg nun, hochrot vor Empörung, zu Sanna hinauf und hielt ihr eine Strafpredigt, daß sie Käthes Verlangen nicht abschlägig beschieden hatte.
Aber Käthes Worte waren doch nicht erfolglos verhallt. Statt wie sonst in Tränen auszubrechen, nachdem Tante Phines Zorn sich entladen hatte, atmete sie heute nur auf, nachdem diese das Zimmer verlassen hatte, und um ihren Mund huschte sogar ein leises Lächeln.
Am nächsten Nachmittag traf Sanna pünktlich bei Verhagens ein.
»Ist's gut gegangen, Schatz? hat dich Fürstin Seraphine nicht in Ketten und Banden zu legen versucht?« fragte Käthe sie zärtlich besorgt.
Sanna lachte.
»Versucht hat sie es wohl. Aber ich hatte schrecklich viel Mut.«
»Bravo! – so gefällst du mir. Und nachdem der Anfang gemacht ist, wird es schon besser gehen. Jetzt plaudern wir erst schnurrbehaglich, bis Fritz und Rudolf kommen. Sie finden es großartig, daß wir um diese Zeit musizieren wollen, weil sie dann von Geschäften frei sind und zuhören können. Rudolf hat seine helle Freude daran, daß ich dich Tante Phines strengem Regiment entrissen habe.«
Die beiden Herren trafen nach etwa einer Viertelstunde ein. Fritz brachte Blumen für die beiden Damen mit und Rudolf allerlei Naschwerk.
»Wir müssen Ihre Befreiung festlich begehen, Frau Sanna. Fritz bestreut Ihnen den Weg zur Freiheit mit Blumen, ich pflastere ihn mit Pralinen; daß Sie eine Schwäche dafür haben, ist mit bekannt,« sagte er, ihr die Hand küssend.
Sanna dankte ihm lächelnd.
Diesen drei Menschen gegenüber fühlte sie weder Scheu noch Befangenheit.
»Müssen Sie mir denn so deutlich zeigen, daß ich ein Naschkätzchen bin?« fragte sie scherzend.
»Nun – Sie haben die vollste Berechtigung, es zu sein. Wer sich in seiner Kinderzeit niemals den Magen an Süßigkeiten verdorben hat, der muß das später nachholen – Verzeihung – ich meine natürlich nur das Naschen.«
Fritz Verhagen hatte, nachdem er seine Frau zärtlich begrüßt, Sannas Hand an die Lippen gezogen und sah ihr mit lächelndem Wohlgefallen ins Gesicht.
»Frau Sanna – Sie werden schöner mit jedem Tag und blühen wie eine Rose. Ich darf Ihnen das als verheirateter Mann schon sagen, nicht wahr?«
Sanna schüttelte schelmisch den Kopf.
»Nein – Sie sollen mir nicht Schmeicheleien sagen.«
»Bitte – schelten Sie ihn noch mehr aus, Frau Sanna. Was der sich immer herausnimmt im Vertrauen auf seinen Ehering – scheußlich. Unsereiner darf höchstens –«
»Einen Scherz über einen verdorbenen Magen machen, lieber Rudolf. Das hast du ja nun glücklich getan,« neckte Käthe den Bruder.
Er drohte ihr.
»Du sei ganz still – du bist Partei. Aber was dein Mann kann, das kann ich auch. Frau Sanna, Sie werden wirklich schöner mit jedem Tag.«
Sanna hielt sich die Ohren zu.
»Jetzt werden keine Artigkeiten mehr gemacht – erstens wird Sanna sonst nur eitel, und zweitens wollen wir jetzt Tee trinken. Drittens und letztens aber werde ich eifersüchtig, wenn Fritz noch länger so bewundernd in ihr Gesicht blickt,« schnitt ihm Käthe das Wort ab.
»Ach Käthe, ich möchte dich zu gern einmal eifersüchtig sehen,« sagte Fritz Verhagen vergnügt.
Sie zog ihn am Ohrläppchen.
»Nimm dich in acht!« drohte sie.
Er haschte nach ihrer Hand und drückte einen Kuß auf die rosige Innenseite. Dabei sahen sie sich mit leuchtendem Glück in die Augen.
Sanna sah diesen Blick schrankenlosen Vertrauens und inniger Hingabe. Ein wehes Gefühl stieg auf einen Augenblick in ihr empor. Sie mußte ihre eigene Ehe mit der Käthes vergleichen. Aber schnell wehrte sie diesen Gedanken ab. Sie durfte keine Vergleiche ziehen, wenn sie nicht mutlos in die Zukunft blicken sollte. Nachdem man den Tee eingenommen hatte, wurde musiziert. Sanna sang einige einfache Lieder, und Käthe begleitete sie sehr verständnisvoll. Die beiden Herren hörten mit Vergnügen zu.
Nur zu schnell verging die Zeit, und Sanna mußte nach Hause zurückkehren. Rudolf begleitete sie. Ihm war nämlich der Auftrag zuteil geworden, Tante Phine mitzuteilen, daß Sanna jeden Tag nun um fünf Uhr zu Verhagens gehen würde – weil der ›Gesanglehrer‹ eine tägliche Übungsstunde der beiden Damen für notwendig hielt, und weil Käthe keine andere Zeit dafür übrig hatte. Als die beiden in das Haus traten, stand Tante Phine in der Tür zum Gesellschaftszimmer. Sie wandte sich ihnen zu und blickte ihnen mit einem lauernden, forschenden Blick entgegen.
»Ach, wie liebenswürdig, Herr Raven, Sie haben Sanna begleitet. Sie bleiben doch noch ein Weilchen und leisten uns Gesellschaft,« sagte sie mit auffallender Freundlichkeit.
Rudolf küßte ihr die Hand.
Man nahm Platz. Kaum hatte Tante Phine jedoch einige, für ihre Veranlagung sehr freundliche Worte mit Rudolf gewechselt, als sie sich plötzlich erinnerte, noch einige Anordnungen im Haushalte treffen zu müssen. Sie entschuldigte sich wortreich und ließ Sanna mit Rudolf allein mit dem Bemerken, gleich wiederzukommen.
Es verging jedoch eine lange Zeit, ohne daß sie zurückkehrte. Rudolf hatte ihr mit einem gespannten, forschenden Blick nachgesehen. Es war ihm schon einige Male aufgefallen, daß ihn Tante Phine fast stets unter irgend einem Vorwand mit Sanna allein ließ. Im Gegensatz zu ihrer sonstigen Sprödigkeit war dies Verhalten auffällig – so auffällig, wie ihre plötzlich für ihn an den Tag gelegte Freundlichkeit. Er wußte nicht, wie er sich das erklären sollte, aber ganz entschieden erfüllte ihn ihr Verhalten mit einigem Mißtrauen.
Sanna schien es nicht aufzufallen. Sie plauderte harmlos und unbefangen mit ihm. Bei ihrer Unerfahrenheit war das nur verständlich. Rudolf aber blieb nachdenklich, und als endlich Seraphine zurückkehrte, bemerkte er ein falsches Flimmern in ihren kalten Augen.
Er tat jedoch klugerweise ganz harmlos und plauderte noch eine Weile mit den beiden Damen.
Im Laufe des Gesprächs sagte er dann:
»Frau Sanna soll ja nun, wie ihr Gesanglehrer befohlen hat, jeden Tag mit meiner Schwester üben. Die Damen machen gute Fortschritte. Und da meine Schwester nur die Stunden von fünf bis sieben frei hat und die Damen die Übungsstunden täglich auf diese Zeit verlegten, können wir, mein Schwager und ich, wenigstens zuweilen die sehr dankbaren Zuhörer spielen.«
Seraphine fuhr mit einem entrüsteten Blick auf Sanna empor.
»O, das geht aber auf keinen Fall. Ich habe Ihrer Frau Schwester bereits gesagt, daß diese Zeit uns gar nicht paßt. Sanna weiß es doch auch, daß wir zur Teestunde stets Besuch haben.« Sanna nahm allen Mut zusammen. Rudolf blickte sie an, als wollte er sagen: »Jetzt gilt's – nun Farbe bekennen!« Sanna verschränkte die Hände fest ineinander, als suche sie einen Halt, und sagte möglichst ruhig:
»Liebe Tante Phine – der Besuch von Herrn und Frau Geheimrat gilt doch dir und nicht mir. Es ist mir sehr wichtig, mit Frau Verhagen fleißig zu üben, ihr verständnisvolles Urteil fördert mich sehr. Ich möchte doch, daß Werner mit meinen Studien zufrieden ist, wenn er heimkommt. Deshalb habe ich Frau Verhagen fest zugesagt, jeden Tag zwischen fünf und sieben Uhr bei ihr zu sein.«
Rudolf blickte ihr beifallspendend in die Augen, als sie nun aufatmend, wie nach einer schweren Arbeit, schwieg.
»Sehen Sie wohl, gnädiges Fräulein, Frau Rutland wünscht es dringend, und da brauchen wir wohl kein Wort mehr darüber zu verlieren.«
Tante Phine war zunächst sprachlos vor Empörung. Mit scharfen, stechenden Blicken musterte sie erst Rudolf und dann Sanna. Sie war klug genug, einzusehen, daß man sich gegen sie verschworen hatte. Die Wut darüber erstickte zunächst jedes Wort in ihr. Rudolf lachte heimlich über Seraphines Ringen nach Fassung und plauderte scheinbar unbefangen mit Sanna noch eine ganze Weile über ein neues Buch weiter, das er ihr zum Lesen empfohlen hatte, ehe er ging.
* * *
Es war Tante Phine klar, daß Käthe Verhagen und wahrscheinlich auch ihr Bruder hinter Sannas plötzlich erwachtem Widerstand zu suchen waren. Da jedoch Rudolf Raven in ihren Plänen eine Rolle spielte und sie von ihm sozusagen Hilfe erhoffte, entlud sich ihr ganzer Zorn über Käthe allein. Sicher hatte sie Sanna aufgewiegelt, denn diese war viel zu unselbständig, um sich aufzulehnen. Aber diese Käthe Verhagen sollte sich nur in acht nehmen. Es gab ja gottlob Waffen, die man gegen sie gebrauchen konnte, wenn es nötig sein sollte. Freilich – vorläufig durfte man es nicht zum Bruch kommen lassen! Rudolf Raven schien Sanna nicht wenig zu fesseln, und diese zeigte ihr Wohlgefallen an dem hübschen, stattlichen Manne ganz unverhohlen. Das mußte man unterstützen. Je mehr sich Sanna hier als Herrin aufspielte, je eifriger mußte man dahin wirken, daß ihre Scheinehe mit Werner nie eine wirkliche Ehe wurde. Seraphine blieb stehen und sah vor sich hin.
»Sollte sich aber zwischen Rudolf Raven und Sanna kein Band knüpfen lassen, das Werner freimacht – dann wird mir Käthe Verhagen das Mittel liefern, diese unvernünftige Ehe zu trennen. Diese Waffe werde ich klug bis zuletzt in Bereitschaft halten. Koste es, was es wolle: Sanna muß wieder aus dem Hause – ich will keine Herrin über mir, noch neben mir haben!«
So dachte sie, und ihre Augen blitzten gehässig auf.
* * *
Sehr bald sollte Seraphine merken, daß sich Sanna mehr und mehr von ihrem Einfluß freimachte. Sie fing an, selbständig über sich zu verfügen. In ihren eigenen Angelegenheiten gab sie der Dienerschaft persönliche Befehle, nicht wie sonst durch Tante Phines Mund. Auch begann sie, ohne vorherige Besprechung, selbst kleine Einkäufe zu machen und kleidete sich nach ihrem eigenen Geschmack. Natürlich war ihr Käthe in all diesen Dingen eine freundliche und kluge Ratgeberin. Sie stärkte Sannas eigenen Willen durch vernünftiges Zureden und focht zuweilen selbst einen vergnüglichen kleinen Kampf mit Seraphine aus. – Eines Tages – es waren schon Monate seit jenem ersten Auflehnungsversuch vergangen – lud sich Sanna auch selbst einige ihr angenehme Gäste ein und machte Tante Phine nur einfach mit der Tatsache bekannt, als nichts mehr daran zu ändern war. Tante Phine schäumte vor verbissenem Grimm, und ihr Haß wuchs gegen Sanna und Käthe in gleichem Maße. Trotzdem brachte sie es fertig, ›der guten Sache wegen‹ all diese ›Widerwärtigkeiten‹ mit großer Selbstbeherrschung zu ertragen. Sie vermochte es sogar über sich, Käthe Verhagen gegenüber die liebenswürdige Wirtin zu spielen, denn natürlich waren Verhagens und Rudolf unter Sannas Gästen.
Auch Sanna gegenüber enthielt sich Seraphine anscheinend jeder Feindseligkeit und begnügte sich damit, ergebungsvoll die Augen gen Himmel zu schlagen, wenn diese ›ihre Güte mit schwarzem Undank lohnte‹.
Werner erfuhr nichts von diesem heimlichen Kampf in seinem Hause. Sanna erwähnte nichts davon in ihren Briefen, und Seraphine hütete sich, etwas davon zu berichten, weil sie im voraus wußte, daß Werner auf Sannas Seite sein würde. Aber der heimliche Groll nagte wie fressendes Gift an ihr, und all ihr Sinnen und Denken drehte sich um den einen Punkt, wie sie Sanna aus dem Hause treiben konnte.
Inbrünstig hoffte sie, daß sich zwischen Rudolf und Sanna eine Liebelei entwickeln sollte. Sie erfand allerlei Gelegenheiten, die beiden allein zu lassen, und belauschte sie dann voll brennender Begier, sie auf einer verborgenen Zärtlichkeit zu ertappen. Dann wollte sie dazwischen treten, die Ehre des Hauses zu wahren, und dann sollte Werner unverzüglich erfahren, daß es Zeit sei, seine Gattin freizugeben, damit sie sich mit Rudolf Raven verbinden konnte.
Monat um Monat verging so, und Tante Phine war ihrem Ziel noch nicht näher gekommen, trotz aller Ungeduld.
Nachdem das Trauerjahr um ihren Vater zu Ende war, hatte Sanna die Trauerkleider abgelegt. Käthe machte sie nun darauf aufmerksam, daß sie sich völlig neu ausstatten müsse.
Sanna erklärte deshalb Tante Phine, daß sie, wie Werner es gewünscht hatte, nach Berlin reisen wolle, um sich einige neue Kleider zu kaufen.
»Frau Verhagen hat ebenfalls Einkäufe in Berlin zu machen, und ich werde mich ihr anschließen.«
Seraphine setzte ihre abwehrendste Miene auf.
»Frau Verhagen ist kein ausreichender Schutz für dich, sie braucht selber noch sehr notwendig eine Anstandsdame. Oder begleitet euch etwa einer der beiden Herren?« fragte sie lauernd.
»Nein.«
»Nun, dann werde ich selbstverständlich mitkommen. Es wäre sicher nicht in Werners Sinn, ließe ich dich ohne ausreichenden Schutz nach Berlin reisen. Dort sind junge Frauen so ziemlich Freiwild.«
Sanna seufzte verstohlen. Sie hatte sich wie ein Kind auf diese Reise mit Käthe gefreut. Nun war ihr diese Freude einigermaßen vergällt. Als sie am Nachmittag Käthe mit betrübter Miene meldete, daß Tante Phine mitkommen würde, lachte diese fröhlich auf.
»Fürstin Seraphine als unser Anstandswauwau – Schatz – das ist ja ein köstlicher Spaß. Da werden wir auf keinen Fall gestohlen, kleine Frau. Sei doch vergnügt, es ist ja ganz gut, daß sie uns behütet. Was meinst du wohl, wie untertänig man uns überall entgegenkommt, wenn sie uns mit ihrer fürstlichen Würde die Wege ebnet.«
»Aber man kann doch kein bißchen vergnügt sein, wenn sie dabei ist,« sagte Sanna betrübt.
»Warum kann man nicht, Kleinchen? Steckt immer noch ein Rest Abhängigkeitsgefühl in deinem Herzen? Grade erst recht werden wir vergnügt sein. Nur nicht bange machen lassen.«
Und so saßen dann die drei Damen einige Tage später zusammen im Zuge.
In Berlin wohnten sie auf Sannas Wunsch in demselben feinen Haus, in dem sie damals mit Werner Aufenthalt genommen hatte. Der Pförtner erkannte sie sofort wieder und bemerkte, daß die gnädige Frau dasselbe Zimmer wie damals wiederhaben könne. Käthe verlangte für sich ein Zimmer neben dem Sannas und ließ den Schrank, der die Verbindungstür verstellte, entfernen, so daß sie diese nach Belieben offen halten konnten.
Tante Phine mußte einige Zimmer weiter untergebracht werden, obwohl sie unbedingt auch dicht neben den beiden Damen wohnen wollte. Grollend zog sie ab. Käthes Lachen folgte ihr.
Am Abend besuchten die Damen die Oper. Aber Käthe sah von der Vorstellung nicht viel. Sie mußte nur immer in Sannas begeistert glühendes Gesicht blicken.
Wenn Werner sie so hätte sehen können! Wie schön, wie entzückend schön war dies junge, holde Geschöpf, wie herrlich hatte sie sich in einem Jahr entfaltet.
Am nächsten Morgen begannen die Damen mit ihren Einkäufen. Groll im Herzen, mußte Seraphine bemerken, daß ihre Meinung bei Sanna gar nichts mehr galt. Sie kaufte nur das, wozu ihr Käthe riet.
»Weiß muß sie tragen – hier dieses entzückende weiße Seidenkleid mit den zarten Spitzeneinsätzen – das mußt du nehmen, Sanna. Weiß überhaupt, viel Weiß für unser Wildvöglein. Das ist wirksam für das kastanienbraune Haar. Und dann dieses herrlich zartblaue Seidenkreppkleid als Gesellschaftsrobe – gelt, das gefällt dir auch, Sanna? Statt eines rosa Leinenkleides, das Seraphine ›sehr vornehm‹ fand, wurde ein Jackenkleid aus Rohseide gekauft, und für ein von Tante Phine vorgeschlagenes steifes, weißes Alpakakleid ein reizendes weißes Stickereikleid gewählt.
»Ich möchte nur wissen, wozu ich eigentlich mitgekommen bin, wenn doch alle meine Ratschläge unbeachtet bleiben,« sagte die alte Dame endlich entrüstet. »Ich habe doch immer einen guten Geschmack gehabt und kleide mich selbst gewiß nicht geschmacklos.« Sanna legte ihre Hand bittend auf ihren Arm.
»Sei nicht böse, Tante Phine, aber die Kleider, die mir Käthe aussuchte, gefallen mir auch viel besser.«
Käthe aber nickte vergnügt und gleichmütig.
So ging es drei Tage lang von Geschäft zu Geschäft. Abends besuchte man auf Sannas heißen Wunsch noch einmal die Oper.
Am nächsten Tage kehrten die drei Damen nach Hause zurück. Sanna war wieder voll neuer Eindrücke und schrieb gleich nach ihrer Heimkehr an Werner einen langen, ausführlichen Brief, in dem sich ihre Gedanken nur so überstürzten. Dieser Brief enthielt eine genaue Schilderung alles dessen, was sie erlebt und gesehen hatte.
Auf diesen Brief kam nach Wochen eine Antwort von Werner. Nachdem er alles Wissenswerte von seinen Erlebnissen berichtet hatte, fuhr er fort:
»Ich freue mich sehr, daß es Dir in Berlin gut gefallen hat. Daß die Oper einen tiefen Eindruck auf Dich gemacht hat, kann ich mir denken, liebe kleine Sanna. Ich hätte dabei sein mögen, um Dein strahlendes Gesichtchen zu sehen! Und die Kleider, die Du ausgesucht hast, gefielen Käthe Verhagen sehr und Tante Phine gar nicht? Nun, wenn sie Käthe gefielen, sind sie sicher schön. Und das ›Blaue‹ hat eine Schleppe? Ei – wird sich da mein kleiner Wildvogel damenhaft ausnehmen. Ich sehe Dich im Geiste mit der blauen Schleppe durch das liebe alte Haus schweben, und auf deinem schönen Haar spielen goldene Sonnenlichter – ja – wer das doch sehen könnte! Sehr freue ich mich über Deine musikalischen Fortschritte. Wenn ich hier allein oder mit meinen schwarzen Trägern einsame Gegenden durchstreife, dann ist es mir zuweilen, als hörte ich Deine Stimme – wie damals, als ich auf Eurer Farm zu Gaste war. Sie klingt mir voll und warm in den Ohren – deutsche Volkslieder höre ich im Traum. Man kommt auf seltsame Gedanken in der Einsamkeit.
Du fragst, ob mich Deine ausführlichen Schilderungen von daheim nicht langweilen? Nein, Sanna – könntest Du in mein Herz sehen, würdest Du nicht so fragen.
Tante Phine schrieb mir, daß Rudolf Raven viel bei euch ist, und daß er sich sehr viel mit dir beschäftigt. Du schriebst mir ja auch viel Liebes und Lustiges von ihm. Hast ihn sehr gern, nicht wahr? Und von Käthe schreibst Du ganz begeistert. Ja, sie ist ein seltener, liebenswerter Mensch, von frischer, ehrlicher Art, ich wußte, daß ihr Freundinnen werden würdet. Und ich danke es ihr, daß sie so lieb und gut zu Dir ist. Sag ihr das und grüße sie herzlich von mir, sie und Deine beiden Ritter. Vom zweiten Jahr meiner Abwesenheit ist nun schon das erste Viertel verstrichen. Manchmal sehne ich mich nach der Heimkehr – und zuweilen fürchte ich mich davor – das heißt – ach nein – ich will lieber schließen – meine Stimmung ist heute so ungleich, und das teilt sich meinem Briefe mit. Achte nicht darauf. Sei froh und heiter, denke daran, daß mein größter Wunsch ist, Dich glücklich zu wissen. Jedes Opfer brächte ich für Dein Glück, schon im Angedenken an Deinen unvergeßlichen Vater. Schreib mir bald wieder – alles, auch das kleinste interessiert mich, Du kannst nicht ausführlich genug sein. Leb wohl und sei herzlich gegrüßt von
Deinem treuen Werner.«
Diesen Brief las Sanna, wie alle Schreiben Werners, unzählige Male durch. Sie ahnte nicht, welche Fülle von Sorge und Liebe zwischen den Zeilen stand. Werner war so vorsichtig, als es ihm möglich war, um sie über seinen Zustand im unklaren zu lassen, weil er sie nicht beunruhigen oder beeinflussen wollte. Sie ahnte nicht, daß Tante Phine mit halben Worten und Andeutungen eine gewisse Eifersucht in Werner geweckt hatte, und daß seine Fragen nach Rudolf von dieser Eifersucht veranlaßt waren. Sie wußte auch nicht, welche Sehnsucht ihn befallen hatte, als er sie im Geiste in dem blauen Kleid durch das Haus schweben sah. Rudolf Raven hatte ihm in seinem letzten Brief geschrieben, wie sehr sich Sanna zu einer Schönheit ersten Ranges entfaltete. Seine bewundernden Worte hatten ihn in seiner Eifersucht bestärkt. Vielleicht hatte das Rudolf mit Absicht getan, er und seine Schwester wollten an dem zukünftigen Glück des jungen Paares gar zu gern mitarbeiten.
Alles dies wußte Sanna nicht. Aber ihr Herz klopfte ihr doch, als sie las, was er von ihrem Haar schrieb. Ob er wirklich danach verlangte, sie in dem blauen Kleide zu sehen?
Und weshalb sehnte er sich nach der Heimkehr und fürchtete sich zugleich vor ihr?
Sie seufzte tief und blickte zu dem Bilde seiner Mutter auf, mit dem sie oft heimliche Zwiesprache hielt.
»Sehnt er sich, weil er nach der Heimat verlangt, und fürchtet er sich – weil er mich hier finden wird? Bin ich ihm eine Last – eine Fessel? Kannst du mir keine Antwort geben, du Liebe, Gute? Wenn ich's wüßte, daß ich ihm eine Last bin, daß ihm sein Versprechen an meinen lieben Vater, meinem Glücke zu leben, ein Opfer auferlegt – ich würde aus seinem Leben gehen, um ihn frei zu machen.«
So flüsterte sie und drückte mit schmerzlicher Inbrunst seinen Brief an ihre Lippen.