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Zweites Kapitel

Wochenlang schwebte Klaus Folkhard zwischen Leben und Tod, und während der ganzen Zeit wich Werner Rutland nicht von seinem Lager. Er dachte nicht daran, seinen Retter zu verlassen, bevor er wußte, ob er am Leben erhalten bliebe. Der Arzt, ebenfalls ein Deutscher, der sich zum Glück vorübergehend in dem einige Stunden entfernten Missionshause aufgehalten hatte, hatte festgestellt, daß die Kugel Folkhards Lunge gestreift habe.

Sanna und Rutland pflegten den Kranken mit großer Sorgfalt und Aufopferung. Saunas Scheu vor Werner verlor sich ein wenig, als sie sah, wie sehr sich der junge Mann das Leiden des Vaters zu Herzen nahm. Er hatte ihr erzählt, wie nahe er selber dem Tode gewesen sei, und wie ihn nur ihres Vaters Unerschrockenheit und Mut gerettet habe. Tief beklagte er, daß nun Folkhard statt seiner das Opfer der Bande geworden war, die er sich als Führer und Gepäckträger gedungen, und die ihn dann überfallen und beraubt hatten. »Ohne deines Vaters Dazwischenkunft wäre ich längst ein toter Mann,« hatte er seinen Bericht geschlossen.

Als endlich das Fieber wich und der Kranke wieder bei Besinnung war, hatte Werner oft Gelegenheit, das unendlich zarte Verhältnis zwischen Vater und Tochter zu bemerken. Aber auch zwischen den beiden Männern, die sich in der Stunde der Gefahr kennengelernt hatten, entspann sich in diesen Wochen eine innige Freundschaft.

Rutland konnte sich nicht genug tun in Liebesbeweisen für seinen Retter, der ihn dem sicheren Tode entrissen hatte und nun selbst dafür todwund darniederlag. Und so wurde auch Sanna von Tag zu Tag zutraulicher gegen Werner Rutland, da sie sah, wie ihn der Vater liebte. Ihr junges Herz erschloß sich dem fremden Manne in kindlicher Zuneigung, und bald nannte sie ihn auf seinen Wunsch ›Onkel Werner‹.

Einige Tage nach Werner Rutlands Rettung hatten Folkhards Leute die Schlucht nach dem Gepäck des Reisenden abgesucht. Sie fanden aber nichts als Papiere und einige Instrumente. Das aber war gerade für Werner das wichtigste, denn die Papiere enthielten seine wissenschaftlichen Aufzeichnungen über seine fast vollendete Reise. Zwei Jahre war er unterwegs gewesen und hatte sich nun nach Windhuk führen lassen wollen, um die Heimreise anzutreten.

Werner Rutland blieb länger als zwei Monate auf der Farm seines neugewonnenen Freundes. Folkhard erzählte, als er auf dem Wege zur Besserung war, seinem jungen Gaste von seinen Plänen und Hoffnungen für die Zukunft und von seiner Sehnsucht, mit seinem Kinde nach Deutschland zurückkehren zu können. Auch Werner gab dem Freunde Aufschlüsse über sein früheres Leben – nur über das sprach er nicht, was ihn aus der Heimat getrieben hatte. So war Folkhard der Meinung, daß nur der Forschungstrieb seinen Gast in diese Gegend geführt habe. Und er konnte Werner noch manchen wichtigen Aufschluß geben über Land und Leute, über seltsame Pflanzen und Gesteinschichten. Sanna saß meist dabei, wenn die Freunde miteinander sprachen. Mit angehaltenem Atem und großen Augen lauschte sie, wenn Werner dem Vater allerlei Neues aus der Heimat berichtete.

Werner strich dann wohl lächelnd über Sannas wundervoll üppiges Haar, das sich in seiner Lockenpracht kaum bändigen ließ und im Sonnenlicht so seltsam kupferfarbige Lichter bekam wie reife Kastanien.

»Ja, ja, kleine Sanna – du wirst Augen machen, wenn du erst in Deutschland bist,« sagte er dabei.

Sie blickte ihn erregt atmend an.

»Werde ich dich auch dort wiedersehen, Onkel Werner?« fragte sie hastig.

Er nickte.

»Ganz gewiß. Ich freue mich schon darauf dir all das Neue, Fremdartige zu zeigen und es mit deinen Augen anzusehen.«

Sie preßte die Handflächen zusammen.

»O – nun will ich mich doppelt auf die Heimkehr freuen. Wie lange wird es noch dauern, Vater?«

Folkhard seufzte.

»Kind, einige Jahre werden immerhin noch vergehen,« sagte er, und ein weher Ausdruck lag in seinen Augen. Werner sah es, und ein sinnender, nachdenklicher Zug erschien in seinem Gesicht.

»Wenn du hier helfen – wenn du deine Dankesschuld abtragen könntest,« dachte er und machte heimlich Pläne.

Eines Tages traf dann für Werner eine Nachricht aus Deutschland ein. Seines Onkels Leiden hatte sich verschlimmert, und er wünschte die baldige Rückkehr seines Neffen.

So mußte Werner an die Abreise denken. Bewegten Helens schied er von dem Freunde.

»Ich komme noch einmal wieder, Klaus, sobald ich mich daheim losmachen kann. Und dann hoffe ich, dich mit heimnehmen zu können,« sagte er herzlich.

Folkhard saß draußen auf der Holzveranda und wandte das blasse, von der Krankheit abgezehrte Gesicht dem Freunde zu. In seinen Augen lag ein schwermütiger Ausdruck.

»Wie schön, wenn sich diese Hoffnung erfüllte. Ich fühle es – lange hatte ich es hier nicht mehr aus. Mein selbstgestecktes Ziel zu erreichen, dauert mir zu lange. Ich will mich langsam nach einem Käufer umsehen für meine Farm, und wenn ich sie unterm Preise losschlagen sollte. Von den Zinsen allein kann ich ohnedies in Deutschland nicht leben, so muß ich sehen, daß ich noch etwas dazu verdiene. Nur heimkehren – das Heimweh läßt mich nicht mehr los.«

Werner drückte ihm stumm die Hand, und wieder erwog er, wie er dem Freunde helfen könnte. Er nahm sich vor, mit seinem Onkel zu sprechen, ihn zu bitten, Klaus in irgend einer Weise zu helfen.

Auch von Sanna nahm er zärtlichen Abschied. Das Kind schmiegte sich in seiner scheuen Art in seine Arme, und er hörte den lauten Schlag ihres Herzens.

»Vergiß mich nicht, kleine Sanna!«

Sie schüttelte ernst das Köpfchen. Wie verstreute Goldfunken glänzte es über ihrem Haar. Noch nie hatte er so wundervolles Frauenhaar gesehen.

»Ich vergesse dich nie – niemals, Onkel Werner!« sagte sie mit verhaltener Stimme. Da küßte er ihre Stirn und ihre großen dunklen Augen.

»Lebewohl – und auf Wiedersehen!« sagte er. Dann riß er sich los und eilte die Treppe hinab. Noch ein letztes Winken hüben und drüben.

»Grüß die Heimat!« rief Klaus.

Und Werner rief zurück: »Dank dir, mein Klaus, – daß ich lebe!«

Dann waren sie getrennt.

Sanna warf sich in ihres Vaters Arme in ungestümem Schmerz.

»Vater – glaubst du, daß er wiederkommt – daß wir ihn wiedersehen?«

Klaus Folkhard streichelte ihr Köpfchen, und seine Augen folgten dem in der Ferne verschwindenden Freunde mit glanzlosem Blick.

»Wir wollen es hoffen, Kind. Kehrt er nicht zurück, – so sehen wir ihn wohl in der Heimat wieder. Du hast ihn liebgewonnen, nicht wahr?«

Sanna nickte.

»Ja – er ist gut – fast so gut wie du, Vater, und ich hab ihn nach dir am liebsten auf der Welt.«

* * *

Es war nun wieder sehr still auf Folkhards Farm. Klaus erholte sich nicht so recht, wie er es sich wünschte. Eine Schwäche blieb in seinem Körper zurück. Wohl hatte sich die Wunde geschlossen, aber er merkte nur zu bald, daß seine Lunge nicht mehr ganz gesund war. Jede Anstrengung löste ein Gefühl ohnmächtiger Schwäche in ihm aus. Dazu kam, daß ihn das Heimweh stärker denn je befiel, seit Werner fort war. Dieser hatte zu deutlich die Erinnerung an die Heimat geweckt.

So sann er unablässig darauf, seine Farm baldmöglichst zu verkaufen. Er hatte ihren Wert auf sechzig- bis siebzigtausend Mark bringen wollen. Nun wollte er zufrieden sein, wenn er sie mit fünfzigtausend Mark losschlagen konnte. Damit hoffte er sich daheim ein bescheidenes Heim gründen zu können. Er fieberte vor Verlangen, heimzukehren. Es war plötzlich eine heimliche Furcht in ihm, daß er die Heimat nicht mehr erreichen könnte.

* * *

Doktor Werner Rutland war wieder daheim. Er fand seinen Onkel sehr schwach und leidend und nicht fähig, schwerwiegende Sachen mit ihm zu besprechen. So sehr es ihn drängte, des Freundes Angelegenheit zur Sprache zu bringen, mußte er es doch vorläufig hinausschieben.

Fräulein Seraphine Münzer herrschte noch immer mit ihrer kalten, überlegenen Miene in dem alten Patrizierhause. Mit geheimer Befriedigung erzählte sie Werner, daß Käthe Raven sich inzwischen in eine Käthe Verhagen verwandelt hätte, und daß sie als junge Frau, ›wenn das überhaupt möglich gewesen‹, noch übermütiger und unausstehlicher geworden sei.

Werner wußte nur zu gut, daß Tante Phine Käthe haßte, wie der Schatten das helle Sonnenlicht haßt. Aber sein Herz zuckte schmerzhaft bei dem Gedanken, daß Käthe ihr Glück bei Fritz Verhagen gefunden hatte. Daß dieser Fritz Verhagen ein prächtiger Mensch war und wohl geschaffen, eine Frau mit Käthes sonnigem Gemüt glücklich zu machen, wußte er nur zu gut; aber er konnte ihm Käthes Liebe nicht neidlos gönnen – jetzt noch nicht. Mit Rudolf Raven traf Werner oft zusammen, aber Käthes Anblick mied er. Und sie verstand ihn und suchte ebenfalls sich ihm fernzuhalten. Des Onkels Leiden bedingte ohnedies auch für ihn ein zurückgezogenes Leben. Er ordnete seine Reiseerlebnisse, das Ergebnis seiner Forschungen und machte Vorarbeiten zu einem größeren Werk, das er später über die Kolonien herausgeben wollte.

War der Onkel zuweilen etwas wohler, dann las er ihm davon einiges vor. Und dabei fand sich endlich auch eine Gelegenheit, mit ihm über Klaus Folkhard zu sprechen. Der alte Herr hörte aufmerksam zu und versprach, sobald er sich wohler fühle, darüber nachzudenken, wie man dem Lebensretter seines Neffen in zarter Weise dankbar sein könnte. Inzwischen empfand es Werner erst in dieser Zeit so recht deutlich, in welcher unangenehmen Weise Seraphine Münzer sich als Herrscherin des Hauses aufspielte. Früher hatte er nicht so darauf geachtet. Vielleicht war es auch mit der Zeit schlimmer geworden.

Aus der geduldeten, das Gnadenbrot essenden Verwandten war in aller Stille eine unausstehliche Haustyrannin geworden, die den alten Herrn vollständig beherrschte.

Werner wollte sich erst darüber ärgern und den Onkel aus dieser Tyrannei lösen. Als er aber sah, daß dieser sich anscheinend ganz wohl dabei befand, sagte er sich: »Wozu ihn aufregen?« Der stille Humor, der auf dem Grunde seines Wesens lag, erwachte. Er nahm Tante Phine von der humoristischen Seite, belustigte sich über ihre überlegene Königinnenmiene, über ihre prunkhaft sich gebende Vornehmheit. Gelegentlich machte er eine spottende Bemerkung oder einen Scherz über ihre Herrschsucht, und ihre Versuche, ihn gleichfalls unter ihr Zepter zu beugen, beachtete er entweder nicht oder erklärte ihr kurz und bündig, daß sie damit bei ihm kein Glück hätte.

Das ärgerte Tante Phine ungemein. Sie beantwortete mit zornigen Blicken Werners Spöttereien und wünschte ihn mit Inbrunst wieder ›zu den Wilden‹. Vielleicht wäre sie auch dem Onkel gegenüber feindlich gegen Werner vorgegangen. Aber sie war doch klug genug, einzusehen, daß hier ihrer Macht Grenzen gesteckt waren. Johann Rutland liebte seinen Neffen wie einen eigenen Sohn.

Daß sie ihren Einfluß auf Johann Rutland dazu benutzt hatte, daß dieser sie in seinem Testament reichlich bedachte, war bei Seraphine Münzers Charakter selbstverständlich. Sie hatte ihm auch einen Passus gewissermaßen in die Feder diktiert, der ihr bis zu ihrem Lebensende Heimatsrecht im Hause Rutland sicherte. Werner wußte das. Der Onkel hatte es ihm selbst gesagt und damit begründet, daß ihn Seraphine während seiner Krankheit treu und gewissenhaft gepflegt habe. »Selbst wenn du später heiraten solltest,« sagte er zu Werner, »wird Tante Phine dir nicht zu viel Platz im Hause wegnehmen. Sie mag bis zu ihrem Ende oben im zweiten Stock ihre beiden Zimmer behalten wie bisher.«

Werner erwiderte lächelnd:

»Es ist gut so, Onkel Johann. Ich hätte Tante Phine gewiß nicht aus dem Hause gewiesen.«

»Ja, ja, Werner, das weiß ich. Aber du wirst eines Tages eine junge Frau in unser altes Haus einführen.«

»Ich glaube kaum, Onkel, daß ich jemals heiraten werde.«

Da fuhr der alte Herr unwillig auf.

»Junge – sollen die Rutland aussterben? Willst du als einschichtiger Junggeselle ein würdiges Seitenstück zu Tante Phine bilden?«

Werner mußte lachen.

»Der Gedanke ist nicht verlockend für mich, Onkel. Aber vorläufig habe ich jedenfalls keine Lust zum Heiraten. Tante Phine wird noch lange Alleinherrscherin hier im Hause bleiben.«

Johann Rutland seufzte.

»Ich weiß, Werner – du kannst die Käthe noch nicht vergessen. War auch schade, daß sie dir verloren ging. So einen blonden Sonnenschein hätte unser altes Haus gut brauchen können! Aber – es gibt ja noch andere schöne und liebe Frauen. Wirst es mit der Zeit schon verwinden. So, nun wollte ich zwar noch mit dir über deinen Freund Folkhard da unten in den Kolonien sprechen – aber – ich bin heute zu müde dazu – es war ein bißchen viel – morgen sprechen wir darüber.«

Dieses ›Morgen‹ kam aber nie. Die Kräfte des alten Herrn nahmen zusehends ab. Langsam, sehr langsam verlosch das Leben Johann Rutlands.

Ungefähr ein halbes Jahr nach Werners Heimkehr starb er. –

Werner war mit Klaus Folkhard im Briefwechsel geblieben. Er teilte ihm nun auch den Tod seines Onkels mit und schrieb ihm, daß er nun Herr über ein großes Vermögen geworden sei. Vorläufig sei er mit Geschäften überhäuft, es gäbe unendlich viel zu ordnen. Sobald er sich aber würde freimachen können, käme er wieder zu ihm, und dann wollten sie miteinander besprechen, wie eine Übersiedlung Folkhards nach Deutschland zu ermöglichen sei.

Am liebsten hätte Werner dem Freunde das nötige Kapital überwiesen, aber er wußte, daß dieser nicht darauf eingehen würde. Sein Zartgefühl durfte in keiner Weise verletzt werden. Werner dachte, daß es sich wohl am besten einrichten lasse, wenn er dem Freunde durch einen verschwiegenen Vermittler die Farm zu einem guten Preise abkaufen ließe, ohne daß Klaus ahnte, daß Werner dahintersteckte. Man könnte dann in Ruhe einen anderen Käufer dafür suchen, und Klaus brauchte nie zu erfahren, wer ihm eigentlich seine Farm abgekauft hatte.

Um das alles unauffällig in die Wege zu leiten, war es jedoch nötig, daß Werner selbst wieder nach Südwest ging. Auf einige Monate würde es ja nicht ankommen, hatte Klaus doch damit gerechnet, daß noch Jahre vergehen würden, ehe er heimkehren konnte.

So verging nach dem Tode seines Onkels noch mehr als ein Jahr, ehe Werner seinen Entschluß ausführen konnte. Und selbst dann meldete er sich gar nicht an bei Klaus, weil er ihn überraschen und gleich nach seiner Ankunft in Swakopmund oder in Windhuk den Ankauf der Farm durch einen Agenten veranlassen wollte, ehe er Klaus aufsuchte.

Lächelnd übergab Werner Tante Phine alle Haus- und Schlüsselgewalt, als er sich zur Reise rüstete. Wie lange er abwesend sein würde, wußte er nicht. Es lockte ihn, seine Forschungen zu ergänzen und während einiger Jahre noch unerschlossene Gebiete Afrikas zu durchstreifen. Tante Phine mochte immerhin damit rechnen, daß er auf Jahre die Heimat verließ.

Und Tante Phine rechnete sehr mit Werner Rutlands Wandervogeltrieb. Sie hoffte, ihn recht lange nicht zu sehen. Was ihn eigentlich nach Südwest trieb, ahnte sie nicht. Ihr genügte die Aussicht, daß Werner wieder ›zu den Wilden‹ ging. Ja, im stillen Winkel ihres Herzens regte sich vielleicht sogar eine heimliche Hoffnung, daß Werner Rutland nicht wiederkehren würde; denn dann würde sie die Erbin des riesigen Vermögens und des alten Patrizierhauses sein.


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