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Zehntes Kapitel.

Tante Phine hatte es nicht übers Herz bringen können, ihrer Freundin Melanie Papperitz das Geheimnis über Werners seltsame Ehe vorzuenthalten. Während sie sich nach dem Abendessen mit ihr in den Erker der Bibliothek zurückgezogen hatte, teilte sie ihrer lieben Melanie ›unter strengster Verschwiegenheit‹ mit, daß Werner und Sanna nur eine Scheinehe führten.

Frau Geheimrat Papperitz schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. Sie versprach strengstes Stillschweigen, was sie natürlich nicht hinderte, gleich am nächsten Morgen die Runde zu machen bei den übrigen Kränzchenschwestern und jeder, ebenfalls ganz im Vertrauen, haarklein alles zu erzählen.

Nichts verbreitet sich schneller als ein verratenes Geheimnis. Noch an demselben Tage erfuhr Rudolf Raven von dieser Angelegenheit, und er hörte auch, daß Tante Phine selbst das Gerücht in Umlauf gesetzt hatte. Entrüstet und empört kam er am Abend zu Verhagens und erzählte Schwager und Schwester, was er gehört hatte.

Käthe dachte an ihre Unterredung mit Sanna und seufzte tief auf.

»Das also war es. Nun verstehe ich alles,« sagte sie leise.

Rudolf blickte sie fragend an.

»Glaubst du an diese Scheinehe?«

Käthe nickte ernst.

»Ja – ich ahnte dergleichen. Sannas Verhalten verriet mir Ähnliches.«

Rudolf ging mit finster zusammengezogener Stirn hin und her.

»Diese Tante Phine sollte man aufhängen,« stieß er dann wütend hervor. Und vor Schwester und Schwager stehen bleibend, fuhr er fort: »Und dennoch ist Werner in seine süße, kleine Frau verliebt, – seine Blicke haben es mir deutlich genug verraten.«

»Ach, wenn du doch recht hättest, Rudolf, dann könnte noch alles gut werden, denn Sanna liebt Werner von ganzem Herzen. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer.«

»Ja doch, Käthe, – wir wissen ja, – dein sechster Sinn,« neckte ihr Gatte.

Sie seufzte.

»Wenn das nur nicht eine so verdammt heikle Angelegenheit wäre,« sagte Rudolf nachdenklich, »dann könnte man Werner ja einmal freundschaftlich auf den Zahn fühlen. Aber dazu müßte man schon die Unverfrorenheit dieser huld- und tugendreichen Seraphine Münzer haben. Streut diese Klatschbase ein so zartes Geheimnis in alle Winde! Wenn Werner das ahnte, – er wäre außer sich. Aus welchem Grunde er sie auch ins Vertrauen gezogen haben mag, an eine derartige Weiterverbreitung hat er sicher nicht gedacht. Natürlich ist Frau Sanna nun der Gegenstand müßigster Neugier. Die arme, kleine Frau, sie wird ohnedies unter Seraphines Zepter nicht wenig zu leiden haben.«

Fritz Verhagen streckte die Arme aus.

»Na, Rudolf, – wir werden ihr gegenüber schon unsere Ritterpflicht erfüllen. Und Käthe ist als Bundesgenosse auch nicht zu verachten.«

Käthe ballte zornig die Hände.

»Die soll mir nur die kleine Sanna in Frieden lassen!«

»Hast du nicht bemerkt, daß die edle Dame gestern ganz sonderbar liebenswürdig zu mir war?« fragte Rudolf plötzlich, als erinnere er sich eben erst daran. »Sie ist doch sonst äußerst ungnädig zu mir. Gestern lud sie mich sogar ein, in Werners Abwesenheit recht oft zu kommen.«

»Das ist allerdings auffällig! Sonst war sie doch froh, wenn sie uns nicht sah.«

»Rätsel über Rätsel ...«

»Vorläufig ist gar nichts zu machen. Werner reist übermorgen ab. Seht ihr ihn noch?« fragte Rudolf und sah auf die Uhr.

»Ja, morgen kommt er mit Sanna noch einmal zu uns.«

»Dann treffe ich ihn vielleicht bei euch. Sonst sagt ihm, daß ich noch bei ihm vorspreche.«

Und Rudolf verabschiedete sich und ging.

* * *

Sannas Hände zitterten unruhig, der Anzug wollte heute nicht so schnell vonstatten gehen wie sonst. Und sie geizte doch mit den letzten Minuten, die Werner noch daheim verlebte! Berta half ihr mit ihren flinken, geschickten Händen, und endlich war sie fertig. Schnell ging sie in ihr Wohnzimmer hinüber.

»Guten Morgen, Werner! Verzeihe, daß ich dich warten ließ. Wenn ich gewußt hätte, daß du schon wach warst, hätte ich mich früher bereitgehalten.«

Er faßte ihre Hände und sah ihr mit mühsam unterdrückter Erregung ins Gesicht.

»In zwei Stunden reise ich ab, Sanna, und ich wollte noch allerlei mit dir besprechen. Meinen Reiseweg habe ich dir aufgeschrieben, damit du immer weißt, wo mich deine Briefe treffen können. Sollte irgend eine Änderung eintreten, erhältst du sofort Nachricht. Hier auf dem Tisch liegt der Zettel.«

Sanna griff danach und barg ihn in einer hübschen Schmuckschatulle, die auf dem Schränkchen stand, über dem das Bild von Werners Mutter hing.

»Ich danke dir dafür und werde dir pünktlich Nachricht senden. Du – du tust es doch auch – ja?«

Er trat neben sie.

»Ja – gewiß.«

Sie schwiegen eine Weile. Der Duft ihres Haares stieg zu ihm empor und umschmeichelte seine Sinne. Dann bat er halblaut mit unsicherer Stimme:

»Gib mir einen Talisman mit auf den Weg!«

Sie sah scheu und unruhig zu ihm auf. Ihr Gesicht war sehr blaß.

Am liebsten hätte er sie in seine Arme genommen, und auf ihren Lippen brannte der angstvolle Ruf: »Laß mich nicht allein, ich bange mich unsagbar um dich!« Aber sie bezwangen sich beide.

»Einen Talisman?« fragte sie nur zögernd.

»Ja, Sanna.«

Sie überlegte, was sie ihm geben könnte. Ihr Blick fiel auf das Bild seiner Mutter. Sie atmete rasch und unruhig.

»Am liebsten gäbe ich dir dies Bild mit – das würde dich sicher schützen vor Not und Gefahr.«

»Es ist zu groß, als daß ich es immer bei mir tragen könnte. Auch möchte ich etwas von dir selbst haben. Von meiner Mutter trage ich schon hier in dieser Kapsel eine Haarlocke – wenn du mir dazu eine von dir geben würdest?«

Sie wurde dunkelrot, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich ein heißes, seliges Erschrecken.

Werner blickte wie gebannt auf eine goldig schimmernde, widerspenstige Locke, die sich aus den Flechten gestohlen hatte und auf dem weißen Halse lag. »Wenn sie mir diese abschneidet – das soll mir ein gutes Vorzeichen sein – für ein gemeinsames Glück mit ihr in der Zukunft,« dachte er, so recht töricht wie ein Liebender.

Sanna tastete nach ihrem Haar, und da kam ihr wirklich gerade diese eine Locke in die Hand. Achtlos schnitt sie dieselbe ab und reichte sie ihm.

»Leg sie selbst in die Kapsel – das ist wirksamer,« bat er, heiser vor Erregung.

Dicht mußte sie an ihn herantreten. Der Schmuck war an seiner Uhrkette befestigt. Ihre Finger kamen nicht schnell mit dem Werk zustande, immer wieder schlüpfte die Locke aus der goldenen Kapsel. So standen sie eine lange Weile dicht nebeneinander, und er mußte die Zähne zusammenbeißen, um ihr nicht zu sagen, wie schwer ihm der Abschied von ihr wurde und wie gern er bleiben möchte, wenn sie es haben wollte.

Plötzlich aber kam ihm ein Gedanke, der ihn ruhig machte: »Wenn sich ihr Herz für dich erschließen soll, wird es auch geschehen, wenn Tausende von Meilen zwischen euch liegen. Und keimt in ihrem Herzen eine Neigung für dich, so wird sie sich entwickeln, wird wachsen und stärker werden, auch wenn du fern bist. Sie ist kein Kind des Augenblicks. Ihr Herz hält fest, was es einmal gefaßt hat.«

Die Erregung und Spannung wich aus seinen Zügen, und ihm wurde freier ums Herz.

Sanna hatte die Locke geborgen und die Kapsel geschlossen.

»So – nun ist's geschehen,« sagte sie aufatmend.

Er küßte ihre Hand.

»Ich danke dir. Nun nehme ich etwas Lebendiges mit von dir. Weißt du, daß deine Gedanken nun gezwungen sein werden, mir zu folgen?«

»Sie würden dich auch ohnedies auf deiner Reise begleiten.«

»Wirklich, Sanna?«

Sie sah mit feuchtschimmernden Augen zu ihm auf.

»Wie kannst du fragen? Du bist doch der einzige Mensch auf der Welt, der zu mir gehört. Ohne dich bin ich ein losgelöstes Blatt im Winde.«

Und die Hände auf die Brust pressend, fuhr sie fort, mit dem Mut, den ihr die Angst eingab:

»Ich bitte dich – ja – ich bitte dich sehr – daß du mir Schutz und Schirm bist, ich – ach – ich wäre sehr unglücklich, wenn dir ein Leid zustieße.«

Da zog er sie sanft an sich und küßte ihre Augen.

»Ich will immer daran denken, Sanna – immer – und mich nicht ohne Not in Gefahr begeben. Aber selbst, wenn das Schlimmste geschähe – noch über den Tod hinaus würde ich dich schützen. Mein letzter Wille liegt verbrieft und versiegelt bei Gericht; für deine Zukunft ist gesorgt.«

Der Schmerz riß sie fort, sie dachte in diesem Augenblick nicht daran, daß sie seine Freiheit nicht beschränken wollte.

»Was soll mir eine Zukunft, in der ich dich nicht finde!« rief sie schmerzlich und halb erstickt.

Es ging wie ein Ruck durch seine Gestalt. Diese Worte erfüllten seine Seele mit frohem Hoffen. Das war mehr als leerer Schall. Er fühlte, in diesen Worten lag das Gefühl starker Zusammengehörigkeit.

»So laß uns hoffen auf eine gemeinsame Zukunft, in der es keine Trennung mehr geben wird,« sagte er bewegt.

Die Angst gab ihr noch mehr Mut.

»Darf ich dich jetzt nicht begleiten?«

Er riß sich von ihrem Anblick los und trat zurück.

»Nein – du mußt hier bleiben – mußt noch viel lernen, während ich fort bin. Wenn ich heimkomme, wirst du dich inzwischen hier eingelebt und den Verhältnissen angepaßt haben. Nicht wahr – du wirst fleißig und vernünftig sein?«

Ehe sie antworten konnte, öffnete sich die Tür, und Seraphine trat ein. Ihr forschender Blick streifte die beiden jungen, unruhigen Gesichter.

»Es ist Zeit zum Frühstück, Werner, sonst kommst du zu spät zum Bahnhof.«

Werner legte mit warmem Druck Sannas Hand auf seinen Arm.

»Komm, Sanna!«

Gleich nach dem Frühstück fuhren sie zum Bahnhof. Seraphine ließ das junge Paar nicht einen Augenblick mehr allein. So kam es nur zu einem ruhigen, gemessenen Abschied. Werner küßte den Damen die Hand und im letzten Augenblick noch Sannas Stirn.

Der Zug fuhr ab. Die beiden Gatten blickten sich lange und unverwandt in die Augen. Dieser letzte Blick erfüllte Werner mit froher Hoffnung und Sanna mit einem unruhigen, zweifelnden Sehnen.

* * *

Wie Blei waren ihre Füße, so schwer lösten sie sich vom Boden. Stumm und elend im Herzen schritt sie neben Tante Phine durch das Bahnhofsgebäude zu dem harrenden Wagen. In dem Augenblick aber, da sie hinter der alten Dame einsteigen wollte, kam ein zierliches kleines Gefährt. Es hielt dicht neben dem Rutlandschen Wagen. Der Schlag wurde geöffnet und Käthe Verhagen sprang heraus.

»Glücklich abgefaßt!« rief sie Sanna lachend zu und machte eine scherzhaft tiefe Verbeugung vor Tante Phine, die sehr ärgerlich war und den Gruß steif erwiderte. »Ich will dich nämlich entführen, damit du deinem Trennungsschmerz nicht allein überlassen bist.«

»Sie vergessen, daß ich in Sannas Gesellschaft bin, Frau Verhagen,« bemerkte Tante Phine spitz, während Sannas Auge wie neu belebt an Käthes schönen, freundlichen Zügen hing.

»O nein, verehrtes gnädiges Fräulein – wer würde sich erlauben, Sie zu vergessen. Aber ich bin eben Frau Geheimrat Papperitz begegnet, die auf dem Wege zu Ihnen war. Sie werden sie sicher daheim antreffen. Und da wäre doch meine liebe, kleine Sanna sich selbst überlassen. Also komm, Sanna – mache dem gnädigen Fräulein einen Knicks – mein gnädiges Fräulein – auf recht baldiges Wiedersehen – ich komme vielleicht schon morgen ins Haus Rutland, um Sanna Gesellschaft zu leisten.«

So sprudelte sie lustig hervor. Sanna behielt kaum Zeit, sich von Tante Phine zu verabschieden. Käthe zog sie mit zu ihrem Wagen. Noch einen ängstlichen Blick warf Sanna in Tante Phines versteinertes Gesicht. Dann saß sie mit einem warmen, geborgenen Gefühl neben Käthe im Wagen.

»So, mein Schatz, – für diesmal habe ich dich glücklich losgeeist, – ich hätte es ja nicht übers Herz gebracht, dich heute mit Fürstin Seraphine allein zu lassen.«

Zärtlich legte sie den Arm um die junge Freundin, und ihre traurigen Augen betrachtend, fuhr sie leise mit warmem Ausdruck fort:

»Jetzt weine dich nur erst aus, Sanna, ich weiß, daß du dich danach sehnst.«

Und da barg Sanna schluchzend das Gesicht an Käthes Brust.


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