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4.

Gräfin Susanne fand das Telegramm, welches ihr den Unfall ihres Gatten meldete und sie heimrief, bereits im Hotel vor, als sie in Ostende ankam. Mehr ärgerlich als betrübt gab sie ihrer Zofe und ihrem Diener Befehl, alles zur Heimreise zu rüsten.

Es blieben ihr bis zur Abfahrt des nächsten Zuges einige Stunden Zeit. Sie nahm zur Erfrischung ein Bad, frühstückte und schrieb einige Billetts an ihre Bekannten, daß sie sofort wieder abreisen müsse.

Müde und verdrießlich saß sie am Fenster und schaute hinaus auf das Meer. Unten herrschte schon reges Leben. Gräfin Susanne begriff nicht, daß alle Menschen so vergnügt aussahen. Sie konnte im Schlafwagen nicht rechte Ruhe finden. Und nun hatte sie die anstrengende Reise gemacht, um sofort wieder heimzukehren. Wieder stand ihr eine lange Bahnfahrt bevor. Und dann zu Hause, was erwartete sie da? Ein schwerer Unfall – so hatte der Arzt gemeldet. Nun konnte sie möglicherweise den ganzen Sommer in Wildenfels sitzen und Krankenpflegerin spielen. Brrr – sie schüttelte sich. Kranke Menschen waren ihr widerwärtig, sie mied sogar das Krankenzimmer, wenn ihr Sohn das Bett hüten mußte. Wenn er krank war, hatte sie ihm immer nur Pflichtbesuche abgestattet.

Was mochte nur geschehen sein? Solche Telegramme waren entsetzlich. Man hätte doch Rücksicht darauf nehmen müssen, daß sie erst die weite Reise hinter sich hatte. Kehrte sie aber nicht sofort zurück, dann war ihre Schwiegermutter sicher wieder gekränkt und beleidigt.

Sie las die Depesche noch einmal durch: »Graf Joachim von schwerem Unfall betroffen. Zustand bedenklich. Sofortige Rückreise dringend erwünscht. Dr. Kreuzer.« Nervös nagte sie an der Unterlippe. Diese Nachricht hätte etwas weniger im Depeschenstil gehalten sein sollen. Dieser Dr. Kreuzer war sehr kurz angebunden. Ihre Schwiegermutter hätte wohl dafür sorgen können, daß man ihr ausführliche Nachricht gab. Aber die war natürlich kopflos vor Schreck. Wenn ihrem Sohn oder Lothar nur ein Finger weh tat, war sie schon außer sich.

Aergerlich – zu ärgerlich – und hier in Ostende hätte es so amüsant werden können.

Sie erhob sich und trat vor den Spiegel. Aufmerksam betrachtete sie ihr schönes, regelmäßiges Gesicht. Ihr Teint war frisch und zart, wie bei jungen Mädchen, obwohl sie schon im dreiunddreißigsten Jahre stand. Keinerlei seelische Erregungen hatten in diesen glatten Zügen Runen hinterlassen. Hätten die etwas zu hellen, blauen Augen nicht so kalt und seelenlos geblickt, Gräfin Susanne wäre eine vollkommene Schönheit gewesen.

Mit beiden Händen umspannte sie ihre Taille und zog an dem elegant sitzenden Reisekleide. Schade, daß sie nun um die Seebäder kam, die ihr immer so gut getan hatten. Man mußte etwas tun, um sich die jugendliche Schlankheit zu bewahren. Ihre Mutter war im Alter zu stark geworden – soweit durfte es bei ihr nie kommen.

Sie drehte sich hin und her und stieß einen leisen Seufzer aus. Ohne sich zu schmeicheln, mußte sie sich gestehen, daß sie nicht älter aussah wie fünfundzwanzig Jahre. Aber freilich – ihr großer Sohn – der kompromittierte sie. Er verriet ihr wahres Alter.

Sie ließ sich wieder nieder und seufzte von neuem. Ihre herrlichen Pariser Toiletten fielen ihr ein. Die durfte sie nun am Ende nur in Wildenfels tragen – zur Erbauung für die Krautjunker der Umgegend, oder, wenn es hoch kam, für die paar Offiziere aus der nahen Garnison. Hier wären sie ganz anders zur Geltung gekommen.

Aergerlich – zu ärgerlich!

Gräfin Susanne ahnte nicht, daß sie schon am nächsten Tage würde Trauerkleider anlegen müssen. – Wie sie in Wildenfels ankam, empfing sie eine seltsame Stille. Der Wagen war am Bahnhofe gewesen, aber weder der Kutscher noch der Lakai hatten ihr gesagt, was geschehen war. Sie liebte es nicht, sich mit diesen Leuten zu unterhalten.

Nun empfing sie der Hausmeister in bedrückter, feierlicher Haltung, und in der Halle kam ihr Gräfin Thea, bleich wie der Tod, und in schwarzem Gewande entgegen.

»Mein Gott, Mama – was ist geschehen?« rief sie nun doch ernstlich erschrocken.

Gräfin Thea fühlte in diesem Augenblicke mehr denn je, daß Susanne ihren Sohn nie geliebt hatte und daß sie mit der Trauerkunde keine tiefen, unheilbaren Wunden schlagen würde. Darum sparte sie sich eine lange Vorbereitung. Sie öffnete stumm die Türe zu dem kleinen Empfangssalon und lud Susanne zum Eintreten ein. Als sie allein waren, sagte Gräfin Thea mit tonloser Stimme:

»Joachim ist diese Nacht gestorben.«

Susanne zuckte zusammen und verfärbte sich ein wenig.

»Tot – Joachim tot – nein, das kann ja nicht sein,« stammelte sie.

Die alte Dame berichtete kurz, sich mühsam die Worte abzwingend, was geschehen war.

Susanne war in einen Sessel gesunken und starrte betroffen in das grausam veränderte Gesicht ihrer Schwiegermutter. In diese Züge hatte das Leid seine Runen gezeichnet. Gräfin Thea war bisher eine stattliche Frau gewesen, der man nicht anmerkte, daß sie die Sechzig begann. Diese eine Nacht hatte sie um Jahre altern lassen. Als sie zu Ende war mit ihrem Berichte, seufzte Susanne auf.

»Wie furchtbar – wie entsetzlich, Mama!«

Ein paar Tränen rannen über ihre Wangen. Sie trocknete sie umständlich mit dem feinen Spitzentuche.

Gräfin Thea hatte keine Tränen. Ihre Augen blickten erloschen und leblos. Ihres Lebens höchstes Gut war ihr auf grausame Weise entrissen worden. Sie kam sich vor, als sei sie selbst gestorben.

Susanne faßte sich bald. Sie erhob sich und küßte ihrer Schwiegermutter die Wange.

»Wir müssen es zusammen tragen, Mama. Es ist sehr schmerzlich. Wenn ich das geahnt hätte – ich wäre zu Hause geblieben. Ich bin tief erschüttert.«

Gräfin Thea erhob sich ebenfalls.

»Willst du ihn sehen? – ich führe dich zu ihm.«

Susanne erschrak. Ihr graute vor allem, was mit dem Tode zusammenhing.

»Ist er – sehr verändert?« stieß sie angstvoll hervor.

Es zuckte bitter um den Mund der alten Dame.

»Habe keine Angst – er liegt wie im Schlafe – das Gesicht ist nicht entstellt. Aber wenn du dich scheust, so gehe nicht zu ihm.«

Susanne zog nervös an ihrem Taschentuche.

»Später vielleicht – Mama – ich bin noch so namenlos erschüttert. Und ich möchte zu Lothar. Auch trage ich noch nicht einmal ein schwarzes Kleid. Schrecklich – wie konnte ich ahnen! Ich muß mir sofort einige Kleider bestellen – ich werde kaum mehr als ein schwarzes Kleid in Vorrat haben. Schrecklich – furchtbar – wie konnte ich so Entsetzliches ahnen.«

Sie fragte nicht: Hat er sehr gelitten – hat er an mich gedacht? Fremd und kühl stand sie dem Toten gegenüber, wie sie es dem Lebenden gegenüber getan hatte. Die Sorge um ihre Kleidung nahm sie weit mehr in Anspruch, als der Verlust ihres Gatten. Und nur das Grauen dem Toten gegenüber machte einigen Eindruck auf sie. Gräfin Thea sah ihr mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke nach, als sie schnell das Zimmer verließ.

»Sie wird nicht daran zugrunde gehen – o nein – einige elegante Trauerkleider werden ihr seelisches Gleichgewicht wieder herstellen,« dachte sie bitter. Und dann barg sie das Gesicht aufstöhnend in den Händen.

»Mein Sohn – mein Joachim.«

Sie erhob sich müde und schritt hinüber in den großen Saal, in dem man die Leiche Graf Joachims aufgebahrt hatte. Jede Minute, die sie erübrigen konnte, sollte ihm gehören, solange er noch nicht der Erde übergeben war.

Gräfin Susanne suchte ihr Zimmer auf und vertauschte ihr Reisekleid mit einem schwarzen Kostüme. Dann schrieb sie eilig eine Depesche nieder an ein Modenhaus. Nachdem sie ihrer inzwischen eingetroffenen Jungfer noch allerhand Befehle erteilt hatte, ging sie hinüber in die Zimmer ihres Sohnes.

Lothar saß auf einem Sessel und hatte das Gesicht in den Armen vergraben, die auf einem Tische ruhten. Ein heftiges Schluchzen schüttelte seinen Körper. In Gegenwart seiner Großmutter hatte er sich beherrscht, jetzt, da er sich allein wähnte, brach der ganze Jammer um den Verlust des geliebten Vaters mit Gewalt hervor. Er hatte seine Mutter nicht ankommen hören und auch nicht vernommen, daß sie bei ihm eintrat. Als sie ihre Hand auf seine Schulter legte, schreckte er auf.

»Mama – ach – Mama,« schluchzte er auf und warf sich wieder über den Tisch.

Sie beugte sich über ihn.

»Nicht so fassungslos sein, Lothar. Man muß tragen, was das Schicksal bringt,« sagte sie ermahnend.

Lothar richtete sich auf und sah sie vorwurfsvoll an.

»Ach du – du hast ihn wohl nicht so lieb gehabt. Großmama und ich – wir beide sind so furchtbar traurig – wir hatten ihn so sehr lieb. Mein armer, lieber Papa!«

In Susannes Gesicht stieg eine unmutige Röte über den etwas rebellischen Ton – und vielleicht auch im Bewußtsein, daß Lothar recht hatte. »Du hast ihn wohl nicht so lieb gehabt.« Das klang wie ein herber Vorwurf aus dem Munde ihres Kindes. Sie preßte die Lippen zusammen. Nein – sie hatte ihn nicht so lieb gehabt, hatte ihn nur geheiratet, weil es ihre Eltern so bestimmten, weil er unbedingt die vorteilhafteste Partie für die nicht sehr vermögende Grafentochter war, die ein glänzendes Leben liebte und das riesige Vermögen und den großen Besitz der Grafen Wildenfels wohl zu schätzen wußte. Aber auch er hatte sie nicht geliebt – auch er hatte sich nur dem Willen seines Vaters gefügt. Ein Schwächling war er gewesen – jawohl – ein Schwächling, der ihr durch nichts imponiert hatte. Hätte sie ihm eine Liebe aufdringen sollen, nach der er nie Verlangen gehabt? Nein – dazu war sie zu stolz. Und damit sprach sie sich frei – der Vorwurf ihres Kindes konnte sie nicht tiefer berühren.

»Du darfst nie wieder so töricht sprechen, Lothar, sonst machst du mich böse. Heute will ich nicht streng mit dir rechten. Aber bedenke wohl – man darf seine Gefühle nicht zu Markte tragen.« Lothar sah sie an mit einem Blicke, als sähe er sie zum ersten Male. Und von dieser Stunde an grübelte er oft über das Wesen seiner Mutter nach und beobachtete sie forschend. Aber nie fand er Wärme und Seelengröße, Güte und Herzlichkeit. Und deshalb schloß er sich umso inniger an seine Großmutter an. –

Die Beisetzung des Grafen Joachim Wildenfels war vorüber. Susanne hatte dafür gesorgt, daß bei dieser Gelegenheit alle Pracht entfaltet wurde. Gräfin Thea hatte sich um nichts gekümmert, sie wich nicht von der Leiche ihres Sohnes, bis der Deckel des Sarges über ihm geschlossen wurde. Susanne hatte während der Beisetzung die rührendsten Posen eingenommen. Sie sah blendend schön aus in ihrer eleganten Trauerkleidung, die das etwas farblose Blond ihres Haares vorteilhaft hob. Und die kalten Augen erhielten durch die vergossenen Tränen einen weicheren Glanz. Es war sehr rührend anzusehen, wie sie nach der Feier ihre Schwiegermutter umfaßte und liebevoll stützend davonführte. Niemand ahnte, daß all ihr Tun nur auf die äußerliche Wirkung berechnet war. Niemand – nur Gräfin Thea fühlte die Lüge in Susannes Wesen. Aber sie zürnte ihr kaum. Susanne hatte Joachim nie geliebt, – aber auch er hatte seiner Frau im Herzen fern gestanden. Immer klangen ihr die Worte im Ohre nach, die Joachim ihr über die blonde Annie Horst gesagt hatte: »Ich habe sie geliebt, wie ich nie vorher und nachher ein Weib geliebt habe.« Und wenn ihre Gedanken einmal abirrten von dem geliebten Toten, dann befaßten sie sich mit dem Vermächtnis, das er ihr hinterlassen und schweiften suchend in die Ferne – zu Annie Horst und ihren Angehörigen.

Annie war ein schönes, liebliches Geschöpf, voll Anmut und Jugendfrische, die Tochter des früheren Rendanten Horst. Aber nie hatte Gräfin Thea geahnt, daß zwischen Annie und ihrem Sohne irgend welche Beziehungen bestanden. Wo mochte sie weilen – sie und ihre Angehörigen? Aus ihres Sohnes Aufzeichnungen hatte sie entnommen, daß sich der Rendant Horst damals mit seiner Familie nach Amerika eingeschifft und sich dann von den Vereinigten Staaten nach Südamerika begeben hatte. Bis nach Venezuela hatte er ihre Spur verfolgt, dort hatte er sie verloren und trotz aller Mühe und Ausdauer nicht wiederfinden können. Nun sollte sie selbst weiter forschen – und sie wollte es tun und nicht ruhen und rasten, bis sie ihres Sohnes Vermächtnis erfüllt und seine Schuld gesühnt hatte.

»Denk immer daran, Mutter – was du ihr Gutes tust – das tust du mir.« So hatte er zu ihr gesagt und diese Worte sollen all ihr Tun in Zukunft bestimmen. –

»Großmama – liebe Großmama – hab mich lieb,« bettelte eine zitternde Knabenstimme an ihrer Seite.

Sie schreckte auf aus ihrem schmerzvollen Brüten und legte beide Arme in inniger Liebe um ihren Enkel.

»Mein Lothar – mein liebes Kind – nun habe ich nur dich noch auf der Welt.«

Lothar umfaßte sie ungestüm.

»Großmama – du und ich – wir gehören zusammen,« sagte er mit erstickter Stimme.

Sie blieben zusammen im Wohnzimmer der Gräfin Thea, während Susanne den Trauergästen die Aufwartung machte. Mancher unter den jüngern, unverheirateten Herren sah mit besonderem Interesse auf die schöne, jugendliche Witwe. Sie war jetzt frei und man wußte, daß die Grafen Wildenfels ein fürstliches Vermögen besaßen.

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