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Die Yoshiwara mit ihren »Nachtlosen Palästen« – Käufliche »Ware« – Das »Notwendige Übel«
Aus Nikko für ein paar Tage nach Yokohama zurückgekehrt, gab ich meinem trefflichen Führer plötzlich einen Entschluß kund, der ihn erbleichen ließ!
»Kawamoto,« sagte ich, »in Tokio hatten wir in diesen drei Tagen soviel zu tun, konnten keinen Abend finden, um die Yoshiwara zu besuchen, und außerdem sagten Sie mir, daß sie dort nicht sehr interessant sei. Aber hier in Yokohama ist das Viertel der Grünen Häuser doch wohl amüsanter – und ich möchte heute abend gern dorthin!«
Ich sprach ganz ruhig, aber der gute Führer kennt meinen Ton sehr genau und weiß, daß mein Entschluß unerschütterlich war …
»Gut,« sagte er darum, »kommt die gnädige Frau auch mit? Es gehen oft auch Ladies hin …!«
»Meine Frau will lieber nicht mit. Wir beide gehen allein, aber bitte nicht allzu spät. Ich möchte nur eben einen Blick hineinwerfen …«
Ich fühle seine Verzweiflung. Wäre wenigstens meine Frau mitgegangen, so hätte er in ihr eine Art von Anstandsdame gesehen. So aber muß er mit mir allein die »nachtlosen Paläste«, die »Stadt ohne Nacht« durchstreifen. Und wenn er mir auch noch so sehr zugetan ist: ihm ist das entsetzlich. Es erscheint ihm geradezu sündhaft, daß er mit mir dorthin gehen soll …
Mir will seine stumme Verzweiflung etwas übertrieben scheinen. Allein er ist verheiratet, hat Kinder, ein Stück Land und ein Haus; er hat seine chinesischen Klassiker studiert; er ist sehr überzeugter Buddhist. – Ihm erscheint die Sündhaftigkeit der Yoshiwara entsetzlich, und mir ist es bislang noch niemals gelungen, ihn auch nur in ein Gespräch über dieses Thema zu verwickeln. Und nachdem er mir das Buch von I. E. De Becker: »The Nightless City« gebracht hatte, habe ich ihn dann auch nicht mehr damit gequält.
An jenem Abend also fuhren wir so um 9 Uhr in zwei Rickshas durch das nächtliche Yokohama. Ärmliche Viertel; spärliche Beleuchtung nur auf Brücken und Wasserflächen, sonst tiefer Schatten. Genau so uninteressant wie bei Tage. Dazu die stets verpestete Luft aller japanischen Städte, der üble Duft von trockenem Fisch und allerlei Unrat. Dann kommen wir durch ein säulentragendes Tor. Wir sind am Ziel.
Noch ist es leer. Möglich, daß die »Genießer« später kommen. Wir sehen nur ein paar Matrosen von einem amerikanischen Kriegsschiff in ihren weißen Anzügen mit dem bloßen Halse und der Mütze auf dem Kopf. Mein Führer, der hier nicht Bescheid weiß, befragt unsere beiden Ricksha-Leute, und die weisen ihn hierhin und dorthin. Viele offene Läden; meist für Verkauf von Obst und japanischen Delikatessen. Dazwischen die großen, luftig gebauten »nachtlosen Paläste«, oft drei Stockwerke hoch, mit langen Balkons an jedem Stockwerk, die sich wie Gürtel herumschlingen. Mit viel elektrischem Licht, das hinter den »shoji«, den Papierscheiben, schimmert, die nicht immer aufgezogen werden. Diese Häuser sind imposant in ihrer zugleich zerbrechlichen Größe.
Wir schweifen beide umher. Die beiden Leute mit ihren kleinen Wagen folgen uns und zeigen uns dies und das; Kawamoto sieht ein, daß er die Initiative ergreifen muß.
»Wollen Sie hineingehen?«
Er deutet auf den Eingang zu einem der »nachtlosen Paläste«: einem großen, doppelten, drei Stockwerke hohen Haus. Man hat den Eindruck, daß es in Flammen aufgehen müsse, wenn man nur eine Zigarette etwas zu dicht heranbrächte. Zu beiden Seiten der dunklen breiten Schwelle sitzen auf Stühlen zwei Männer: die »Patrone« dieses Hauses. Links sind die Schiebewände geschlossen, und man gewahrt hinter ihnen nur Dämmerschein. Rechts etwas sehr Schönes: ein saalähnlicher Raum, in den man von der Straße aus hineinsehen kann; ganz besonders schöne Abteilwände, und mit Kakemonos behangen. Nichts steht darin als drei große bronzene Vasen auf Sockeln, und in diesen Vasen Zweige und Blumen – Iris und Lilien – die strengstens nach den Regeln japanischer Ästhetik geordnet sind …
Vorbei an den beiden Vorstehern dieses Hauses treten wir über die Schwelle; hier können wir unsere Schuhe ruhig anbehalten. Kawamoto hat sie begrüßt – ich überließ ihm gern diese Höflichkeitsbezeugung. Und plötzlich gewahrte ich – sie; dort sitzen sie: zehn oder zwölf an Zahl, auf der anderen Seite des Saales mit den bronzenen Blumenvasen; dort sitzen sie – welch eine Überraschung! – sind von der Straße aus nicht zu sehen, weil die Schiebewände dort geschlossen bleiben, wohl aber gewahrt sie der Besucher, der in das Vestibül eingetreten ist und nun sogleich seine Wahl treffen kann …
Sie sitzen hinter Gittern. Man hat von »Käfigen« gesprochen, hat aber dabei vergessen, daß jedes japanische Haus diese gitterähnlich gearbeiteten Bambuswände aufweist. Dort sitzen sie, die »käufliche Ware«. Dies ist ein großes, vornehmes Haus. Um die roten Lippen spielt kaum ein Lächeln, wenn wir vor dem Bambusgitter stehen bleiben, das uns von ihnen trennt, und uns ein Mädchen ansehen. Keine Blumen, keine Musikinstrumente. Alle tragen das gleiche Gewand: einen karmoisinroten Unterkimono, darüber einen sehr dunkelgetönten blauen Überkimono, der nur wenig bestickt und sehr lang ist. Wir gewahren dies, wenn sich eines der Mädchen erhebt, zu einer etwas beiseite sitzenden »Schwester im Lebensleid« herabneigt und dann wieder auf ihrem eigenen Kissen niederhockt. Ihre Haartracht ist sehr einfach, ohne die Haarschleifen, die sonst Geishas vielfach tragen; und geschminkt sind sie sehr diskret: das muß wohl so sein. Der besondere Beruf dieser Frauen bringt es mit sich, daß ihre Haartracht nicht sehr kompliziert sein darf, ebensowenig wie ihre Bemalung. Auch wünschen die beiden Prinzipale ihre »Ware« so unverfälscht wie möglich zu zeigen.
Da sitzen sie. Vor jeder von ihnen steht ein kleiner rotlackierter, spitzer Schrein: er enthält ihr Rauch- und Pudergerät. Hin und wieder zünden sie sich eine Zigarette an, gleich als wollten sie sich eine Haltung geben. Dann wieder neigt sich eine, die vielleicht durch das dreiste Anstarren der Männeraugen etwas in Verlegenheit gebracht ist, vor ihr Spiegelchen, um sich zu pudern.
Es sind lauter ganz junge Frauen. Nur eine einzige trägt eine Brille. Sicherlich haben die Prinzipale ihr wegen ihrer ganz besonderen beruflichen Vorzüge hierzu spezielle Erlaubnis erteilt. Der Ausdruck all dieser Gesichter ist herzzerreißend. Drei amerikanische Matrosen haben einen flüchtigen Blick hereingeworfen, haben dann mit rauher Stimme einen Scherz gemacht, glaubten aber wohl, daß dieses große Haus mit seinen ernsten, etwas schwermütigen Frauen für sie zu teuer sein würde, und sind wieder abgeschwenkt. Ich bleibe noch und schaue – der Führer steht dicht hinter mir. Ich kann den Blick nicht von diesen in Erwartung dasitzenden Frauen losmachen, von diesen ernsten Zügen, hinter denen ich eine Welt voller Leid vermute. So stehe ich da und schaue sie an. Was mögen sie von einem so langem Blicke denken? Wen sehen sie in mir? Vielleicht einen Engländer, oder einen, der besonders bedachtsam seine Wahl trifft? Jetzt plaudern sie miteinander, doch nur halblaut: stets bleiben sie in bester Haltung. Ich habe japanische Frauen gesehen – »anständige« Frauen – deren Manieren nicht besser waren als die dieser armseligen Geschöpfe. Endlich wende ich mich ab: ich habe das trostlose Bewußtsein, daß sie nichts, gar nichts von dem empfunden haben, was in mir vorging – nichts von dem ungeheuren Mitleid mit ihnen – und es ist mir, als fühlte ich hinter meinem Rücken ein Aufatmen und ein erleichterndes Nachlassen der starren Haltung, nun der Fremde keine Wahl getroffen hatte …
Plötzlich erblicke ich den Garten, der im Schatten daliegt. Wahrlich, dieses Haus ist ein Palast, und viele andere Häuser dieser Art sind ebenso schön! Der Garten ist groß, matt erhellt vom Schein des elektrischen Lichtes, das blau darüber hinfließt, und in dieser hübschen Beleuchtung gewahre ich etwas von der typischen Anlage aller japanischen Gärten: den Weiher, über dem die große Pinie ihre Äste windet, den großen steinernen Pfad, der quer durch das Moos führt, so daß dieses Moos selber niemals zertreten wird; die Laternen, die wie Pilze aus Stein aussehen, aber auf drei Füßen stehen. Dann gewahre ich links die Treppe, die zu den kleinen Gemächern in den oberen Stockwerken führt, die Treppe, auf der die erwählte Frau einem voranschreitet, und rechts sehe ich eine Art Büro: tadellos gehalten, wie sich das für eine korrekte Verwaltung gehört. Ein klein wenig erhaben steht darin ein Hausaltar, darauf wohl die Gedenktafel für die Vorfahren des Prinzipals, denke ich mir. Und dieser Altar ist mit weißen Zickzacks behangen, mit den »Gohei«, den papiernen Opferblättchen, die, ganz blank, strahlend sauber schimmern.
An diesem Abend habe ich die Schwelle von noch fünf bis sechs solchen Häusern überschritten, während mein Führer mir stets etwas unbehaglich folgte, immer die beiden am Tor sitzenden Wirte grüßte, von denen ich keine Notiz nahm. Und jedesmal erlebte ich ziemlich das gleiche: zur einen Seite des Vestibüls der große Saal mit den Zwergpflanzen oder den drei mit zierlichen Blumen gefüllten Vasen, zur anderen Seite die von der Straße aus nicht sichtbaren Frauen – »zur Auswahl«. Die Kimonos und die Häuser waren einander nicht völlig ähnlich, immer aber waren die Farben und die Stickereien sehr diskret gehalten. Und über dieser anmutigen Umgebung – mit blütenweißen Matten, zierlichen Kissen, – über dieser Haltung voll Anmut und Würde lag für mich stets spürbar die quälende Stille eines in sich verborgenen Leides. Nur in einem Hause lachten die Frauen, ehe wir kamen, um sie anzuschauen, und da lachten und scherzten sie denn auch weiter, als ich vor den Gittern haltmachte. Sehr seltsam mutete es an, daß in einem weniger vornehmen Hause in dem Seitensaal, der sonst so geschmackvoll arrangierte Blumen und Pflanzen aufwies, Kinder – Knaben und Mädchen von acht, zehn, zwölf Jahren – in gleichgültiger Haltung auf Strohstühlen hockten und miteinander plauderten und lasen oder sich zankten – vermutlich die Kinder der Prinzipale, während auf der andern Seite, auch etwas weniger korrekt als sonst, aber doch wiederum höchst anmutig, die Frauen zur Schau saßen.
Dann bin ich gegangen. In gewisser Hinsicht befriedigte es mich, daß ich das alles gesehen habe, denn in der Regel wird einem berichtet, das ganze einseitige Dekorum der Yoshiwaras sei verschwunden. In Yokohama mindestens hat es sich noch immer erhalten. In Tokio gibt es anscheinend nichts weiter zu sehen als eine Reihe von Photographien der zu vermietenden »Ware« mit dem in großen Lettern hinzugefügten Preise …
Andererseits kamen mir doch starke Zweifel darüber, ob es zu billigen wäre, daß diese »nachtlosen Paläste« mit behördlicher Zustimmung und gesetzmäßiger Einrichtung errichtet und verpachtet werden, um das Tier im Menschen innerhalb der Grenzen einer gewissen Korrektheit und Ästhetik zu halten. Darum las ich am folgenden Tage in I. E. De Beckers Buch: »The nightless City« nach. Schon das Motto war interessant
Ieyasu (der erste Tokùgawa-Shogùn, dessen Tempel und Grab wir in Nikko besichtigt hatten) hatte in seinem Testament gesagt: »Immer behaupten tugendhafte Männer in Dichtung und wissenschaftlichen Schriften, daß die Bordells ein Krebsschaden der Städte seien. Diese Häuser aber sind nur ein notwendiges Übel. Würden sie abgeschafft, so würden ausschweifende Männer vollends zugrunde gehen.«
O großer Shogùn, du nach deinem Tode Vergötterter, dem man den Namen des »Endlosen Lichtes« oder ich weiß nicht was noch für andere schöne Benennungen gab, die sonst nur Buddha und Amida zukommen, du trügest in deinem letzten Willen, in deiner letzten Gesetzgebung Sorge dafür, daß kein männlicher Untertan völlig zugrunde ginge. Allein auf die Frauen und Kinder von kaum vierzehn Jahren, die solche Häuser für das »notwendige Übel« bevölkern, kam es dir nicht so sehr an! Diese Kinder und Frauen zählten ja niemals mit; sie waren keine Menschen, sondern nur Gebrauchsgegenstände, und im übrigen wurde ihr Beruf nicht einmal als Sklaverei angesehen. Sie erwählten ihn ja »freiwillig«. Waren ihre Eltern krank oder arm, so zwang kindliche Liebe – das große Prinzip des Shinto-Gottesdienstes, den der Buddhismus wohl anzuerkennen vermag – sie dazu, ihren jungfräulichen Leib zu verkaufen oder ihn wenigstens solange an einen Wirt zu vermieten, bis er einer verwelkten Blume glich. Zu verwelkten Blumen durften die ausgedienten Frauen werden, um dann irgendwo am Wege hingeworfen, zertreten oder von Hunden aufgefressen zu werden, wenn nur die Männer nicht »vollends zugrunde gingen«!
Diese ganze Frage ist immer sehr schwierig gewesen, und sie war es auch schon zur Zeit des weisen Shogùns Ieyasu. Ich habe mir erzählen lassen, daß Shoji Iinyemu, ein solcher »Wirt«, im Jahre 1612 dem Shogùn eine Denkschrift überreichen ließ und darin in klarem und logischem Stil ehrfurchtsvoll auseinandersetzte, daß der Zustand so, wie er in jenen Tagen bestand, nicht zu loben wäre. Die Nachthäuser lägen hier und dort in allen Vierteln innerhalb und außerhalb der Stadt Yeddo, später Tokio, verstreut. Dadurch käme es, daß zu gewissen Stunden allüberall Zügellosigkeit und Trunkenheit herrschte und daß dadurch Ärgernis bei den Begüterten erregt würde. Wäre es darum nicht besser, diese Häuser in einem bestimmten Viertel zusammenzuschließen und unter die strenge Aufsicht der Obrigkeit und der Regierung zu stellen? Der Vorschlag fand ein geneigtes Ohr bei dem Shogùn und dessen Beratern. Und so entstand die Yoshiwara, die Gegend der Nachtpaläste, die man zwei Jahrhunderte lang wie ein Märchen ansah, die insbesondere der Maler Utàmaro, der dort stets zu finden war, in Hunderten von Zeichnungen verherrlicht hat, gleich als seien diese Häuser Vorhöfe des Himmels, und als seien die Frauen Engel, die dort ihre Gäste empfingen: mit schleppenden Brokatgewändern angetan, die Haartracht mit zwölf oder zwanzig langen Schildpattnadeln geschmückt, alle stets von der konventionellen Schönheit mit dem schmalen Antlitz, das des Malers Ideal war. Wir aber sehen, was für ein namenloses Elend, was für eine grausame Verzweiflung sich hinter dieser glänzenden Fassade verbirgt – seit Jahrhunderten schon verbarg …