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Am Ziel der Pilgerfahrt – Das Grab des Iemitsu – Der Tempel des Iizo – Der Gott der Kinder
Ieyasu, der erste Tokùgawa, der nach seinem Tode hier als Gott verehrt wurde, soll – wie man in Nikko glaubt – die Inkarnation des Genesenden Buddhas gewesen sein, dessen Bildnis zwar hier vorhanden ist, aber nicht gezeigt wird, weil es für allzu heilig gilt.
Indessen kann man wenigstens den Tempel des Genesenden Buddhas sehen. Insbesondere die Decke ist bemerkenswert; ein dräuender Drache ist in großen Umrissen darüber hin gemalt, und wenn man laut ruft, so gibt der Drache den Schrei zurück: Echowirkung. Daher auch der Name der Tempelhalle: der »schreiende Drache.«
Es geht über Stufen, über Terrassen, durch das reich geschnitzte Chinesische Tor, in dessen Säulen aus einer bestimmten chinesischen Holzart Motive des Pflaumenbaumes, des Drachens und des Bambus eingeschnitten sind. Unter dem Vordach zwei weiße Statuen, chinesische Weise … Es ist überwältigend. Wie langsam man auch gehen, wie lange und wie oft man auch stillstehen und verweilen mag: es bleibt unmöglich, dies alles gleich auf einmal in sich aufzunehmen. Mit der Einfachheit und Schlichtheit ist es aus. Angenehm berührt es, daß diese Pracht, diese Aufeinanderhäufung kostbarer Details außerordentlich gepflegt und gut gehalten wird. Die Flügeltüren des Hondèn oder Oratoriums wirken außerordentlich üppig mit ihren vergoldeten Arabesken und den geschnitzten scharlachroten Päonien. Die Fächer über den Türen und Fenstern dieses Eingangs sind mit geschnitzten Vögeln ausgefüllt. Der Phönix mit seinem langen Schweif und dem Haubenkopf bildet ein immer wiederkehrendes heiliges Motiv. Das runde Wappenschild der Tokùgawas ist überall zwischen den geschnitzten Chrysanthemen angebracht. In der Vorhalle, wo ein Priester Amulette verkauft, sind geschnitzte Adler zu sehen. Ein buddhistischer Engel wiegt sich an der Decke, die voll Glut und Farben leuchtet. Das Oratorium selber ist ein Saal, der mit ausgebreiteten Matten belegt und durch aufgehängte Matten abgeteilt ist, die mittels seidener Schnüre und Quasten aufgezogen werden können. Ungeheure Gonge stehen auf Sockeln zu beiden Seiten einer Torii-artigen Standarte, die über und über mit »Gohei« oder Opfertäfelchen aus Goldpapier bedeckt ist. Goldene Drachen auf mattazurnem Grunde füllen, teils geschnitzt, teils gemalt, die viereckigen Felder der Decke. Ich bezweifle, daß meine Beschreibung imstande sein wird, auch nur eine Ahnung von dieser vielfältigen Tempelpracht zu wecken.
Das Go-Heiden, die »Ehrfurcht weckende seidene Halle«, und das »Heiligtum der Heiligen«, das »Allertiefste des Allertiefsten« bleiben uns verschlossen …
Nachdem wir in den inneren Hof getreten waren, sahen wir in der Kagura-Dò, der »Tanzhalle«, ganz jugendliche, verschleierte Priesterinnen Weihetänze ausführen. In unmittelbarer Nähe liegt die »Pforte der Schlafenden Katze«, so genannt wegen der Schnitzereien des Hidari, der durch das Motiv der schlafenden Katze berühmt wurde, die er indessen gar nicht so besonders interessant ausführte. Ich habe unzählige schönere schlafende Katzen gesehen.
Aber hier draußen ist eine moosbekleidete Steingalerie, und zweihundert steile Granitstufen führen zwischen den Zederbäumen zu Ieyasus Grab, dem Ziel unserer Pilgerfahrt. Dieses Grab, eine etwas plumpe Pagode mit einem Dach auf einer Erhöhung, die wiederum aus Stufen gebildet wird, ist aus Bronze gegossen, in die etwas Gold gemischt war, so daß die Farbe sehr hell wirkt. Vor dem Grabe selber steht wie ein riesiges Schmuckstück auf einer langen steinernen Tafel ein Weihrauchfaß zwischen einer Vase mit einer bronzenen Lotuspflanze und einem Ibis aus Schildpatt. Dieser Vogel trägt in seinem Schnabel einen Leuchter für eine Opferkerze. Das alles ist in sehr großen Ausmaßen hergestellt. Es ist auch alles sehr ungewöhnlich in der Idee und bewundernswert in der Ausführung, monumental in der Linie, und das Ganze von einer auffallenden Üppigkeit; aber dabei läßt es einen dennoch sehr kalt. Ich kann mir durchaus nicht vorstellen, daß ein Buddhist durch diesen Anblick zu besonders weihevollen Gedanken angeregt würde. Ich könnte nur verstehen, daß er sich, einer Regung der Höflichkeit folgend, hier verneigt und vor dem Grabe dessen niederkniet, der einst die Inkarnation des genesenden Buddha war. – Der andere Tempel in Nikko, der des Iemitsu – Ieyasu's Enkel – zeigt die gleiche Wiederholung von Stufen, Treppen, Terrassen zwischen Opferlaternen; grün und gelblich, wächst über Stein und Bronze Moos im dichten Schatten hoher Zedernbäume; dann kommt die überdeckte Pforte: weit, breit, ausgeschmückt in den üppigsten Farben, links und rechts bewacht von den Göttern des Windes und des Donners, darüber geschnitzte Phönixvögel, Drachen und Päonien …
Sicher habe ich Hunderte von Details übersehen. Aber es läßt sich einfach nicht alles aufnehmen oder gar aufzeichnen! Diese Kunst ist derartig bis ins einzelne getrieben, daß sie überwältigt und zugleich ermüdet. Und nirgends weckt sie eine Gefühlserregung, während doch außerhalb dieser Tempelgebäude in den düsteren Cryptomerien-Alleen, und noch weiter draußen zwischen den Wasserfällen gerade diese hier vermißte Erhebung anhaltend in jedem nachzittert.
Im Innern des Tempels von Ieyasus Enkel, Iemitsu, der gleiche überwältigende Eindruck. Eine mit feinsten Matten belegte Tempelhalle, die Decke in geschnitzte Caissons eingeteilt, die obere Wand von einem wundervollen Fries umsäumt, und überall in den Caissons und am Fries edle Holzschnitzereien in bunten und reichen Farben; immer wieder der Phönix als wesentliches Symbol. Dieser Fabelvogel, der nur dann auf der Erde erscheint, wenn ein guter Herrscher auf dem Thron sitzt oder bald darauf sitzen soll, wirkt hier so zierlich wie ein Paradiesvogel. – Dann schweift das Auge weiter, und der Blick fällt auf allerlei Kostbarkeiten von riesigen Dimensionen, die in einer Reihe stehen; monumentale Vasen, aus denen vergoldete Lotosblumenblätter und -knospen aus dem künstlich dargestellten Wasser aufsteigen. Vergoldete »Sakaki« oder »Shikimi«, geweihte Shinto-Zweige und buddhistisches Bambusrohr, das wohl eine ähnliche Rolle spielt wie der Palmenzweig in der katholischen Kirche. Eine bronzene, monumentale Laterne. Ein Ibis als Leuchter, der auf seinem Schnabel die Kerze trägt. An den Wänden Banner aus Brokat, ein vergoldeter Pflaumenbaum. In der Mitte herabhängend ein goldener Baldachin von zartester, feinster Goldschmiedekunst. Und auf lackierten niedrigen Tischen all diese prächtigen Lackschachteln mit Schnüren und schweren Quasten, in denen die heiligen buddhistischen »surats« – Schriften – verwahrt werden. Das Ganze ist wie ein Museum; geschmackvoll arrangiert, aber von weihevoller Stimmung nichts zu spüren. Ich aber empfand nach all der Üppigkeit dieser prächtigen Tempel, wie ich sonst noch nirgends in Japan gesehen hatte, das Bedürfnis nach »Stimmung« und Erhebung, und sagte dies meinem Führer Kawamoto, der mich auch voll und ganz begriff. Wir stiegen darauf die vielen Stufen der bemoosten Treppen unter den Zedern wieder hinunter, und unsere Ricksha-Männer trabten mit uns die düsteren Alleen hinab. Wie rhythmisch und sicher gehen sie auf ihren elastischen, sehr muskulösen Beinen! Wie europäisch-töricht und sentimental ist es, diese einfachen, starken Männer zu bedauern, die niemals abgearbeitet aussehen, sondern viel eher den Eindruck einer ruhigen, ausgeglichenen Zufriedenheit machen, wie sie dem europäischen Arbeiter so oft abgeht. Sie ziehen uns den Hügelweg hinauf und führen uns dann wieder abwärts, ohne daß ich für sie irgendwelches Bedauern zu empfinden nötig habe! Breit liegt dort das Bett des Inariflusses, das jetzt völlig ausgetrocknet und mit Felsgestein erfüllt ist. Dort auch der Dayagawa, in dem sich aber durch die Steinbrücke hindurch noch immer schäumendes Wasser Bahn bricht. Und weil es mir an diesem Morgen um weihevolle Stimmung zu tun ist, nachdem ich so viel Tempelpracht ungerührt angeschaut habe, so führt mich mein Führer zu dem kleinen Iizo-Tempel, der am jenseitigen Ufer des Inari gelegen ist.
Ich habe noch nicht gesagt, wer Iizo ist: eine ungewöhnlich liebenswerte, niedere Gottheit, der mitleidige Helfer in aller Not. Gewiß sind auch Kwannon, die Göttin der Gnade, und Amida, der Spender des grenzenlosen Lichtes, Götter des Erbarmens. Aber sie sind vielleicht den einfacheren Menschen, schwangeren Frauen und furchtsamen Kindern doch nicht so nahe wie der liebliche Iizo. Buddha selbst, ach, der ist gar so hoch zum göttlichen Lotosthron emporgestiegen; Buddha ist in der schlummernden Haltung tiefster Meditation auf dem Lichtmeer der Unendlichkeit davongetrieben; Buddha, der zur endlichen Ruhe des lauteren Wissens und Wesens gelangt ist, blickt nicht mehr auf diese Welt, in der er so viele Seelenwandlungen durchzumachen hatte. Iizo aber denkt noch nicht an das Nirwana. Allüberall sieht er das Leid dieser Welt, insbesondere das der Schwächeren. Er mutet uns an wie ein jugendlicher Priester mit sanften Zügen. Erinnert er nicht etwas an den heiligen Antonius von Padua? Es gibt Bildnisse von ihm, wie er auf einer Lotosblume sitzt; der Heiligenschein umgibt das liebe Gesicht, das leuchtende Auge der Wahrheit glänzt auf seiner Stirn, das Zepter hält er in der einen Hand und in der andern ein heiliges Juwel. Das aber ist sein »Galabildnis«, und so in aller Herrlichkeit und allem Götterglanz sehen alle, die da leiden, die bekümmert sind und dies oder jenes fürchten, ihren lieblichen Iizo nicht! In diesem einfachen Tempel mit den hübschen Gärten rundum, in denen ein Weiher liegt, steht ein kleines, sehr schlichtes Bildnis des Iizo, das ein junger Priester uns nun zeigte: schwangere Frauen dürfen es mitnehmen, ehe die Wehen sie zu quälen beginnen, da sie, wenn Iizo ihnen nahe ist, im Wochenbett viel weniger zu leiden haben. Auch Reisende bitten Iizo, daß er sie vor Unbilden behüten möge, und auch ich bin durchaus nicht abgeneigt, Iizo um das Gleiche zu bitten: möge er mir jegliche Unbill auf meinem Wege ersparen!
Die Kinder lieben Iizo leidenschaftlich. Sie gehen mit ihm um wie mit einem großen Bruder. Das würden sie niemals bei Amida wagen, der doch ebenfalls so erbarmungsreich ist. Denn Amida ist immer in so viel Licht und Glorie gebadet, während Iizo den Kindern so vertraut und lieb ist, wie es nur eine Gottheit sein kann, die in Jahrhunderten noch nicht daran denken wird, in das Nirwana einzugehen. Am Ufer des Dayagawa stehen Hunderte von Iizo-Bildnissen, eins an das andere gereiht … lebensgroße, plumpe Bildnisse; durchaus nicht schön; aus Stein, Basalt oder Granit, von Bildhauern gefertigt, die keineswegs sehr künstlerisch empfanden. Doch alle weisen ein ganz klein wenig von seinen jugendlichen, zarten Zügen auf, seinem erbarmungsvollen Lächeln, seiner Haltung liebevollen Mitleidens. Es ist nicht eines darunter, das nicht Iizo darstellt. Alle japanischen Kinder, die fürchten, jung zu sterben und durch die am Unterweltflusse hausende Hexe Shozuka in der Hölle ihrer Totenkleider beraubt zu werden und Steine schleppen zu müssen – endlos, endlos weiter, bis die öden Ufer des pechschwarzen Flusses damit eingefaßt sind, – alle diese Kinder tragen jetzt schon Steine, Kies und große Felsblöcke herbei und legen sie einem Iizobilde in den Schoß oder auf den Kopf, und dabei beten sie: »Lieber Iizo, wenn es einmal so weit ist, willst du dann so lieb sein, all diese Steine für mich herumzuschleppen?« Und Iizo weist keinen einzigen Stein zurück; er lächelt, lächelt immerfort; er wird all diese Steine, die furchtsame Kinder vor und über ihm aufstapeln, heranschleppen, wenn es sein muß; denn die böse Hexe ist gar so mächtig. Und wenn ein paar Steine von seinem Schoß oder seinem Kopf herabfallen, weil die Kinder ihn gar zu schwer beladen, so ist es wirklich nicht seine Schuld. Aber er tut, was er kann, denn er ist und bleibt der liebe, gute Iizo, der niemals den leidenden Menschen oder das furchtsame Kind im Stich lassen wird. Und wenn er hin und wieder in aller Glorie in den Vorgärten des Paradieses einherwandelt, so eilen insbesondere die Kinderseelchen auf ihn zu, die dort zwischen den goldenen Päonien und silbernen Lilien spielen, und umringen ihn, so daß er wie auf einer Wolke von Kinderseelchen getragen erscheint.
Diese Steine, die dort zu Hunderten die plumpen Bildnisse des Iizo am Dayagawa beschweren, scheinen mir nicht nur solche zu sein, wie die Kinderseelen sie auf Befehl einer Hexe am Ufer eines pechschwarzen Höllenflusses aufstapeln müssen. Mich dünkt, daß sie vielmehr das ganze Leid einfältiger Menschen verkörpern, die auf dieser Erde unter Sorgen, Ängsten und Kümmernissen gebückt einhergehen. Und ich konnte es mir, da ich mich plötzlich ebenfalls als ein ganz schlichter einfältiger Mensch fühlte, nicht versagen, mich zu bücken und auch einen Kieselstein, einen einzigen nur, aufzunehmen, den das fließende Wasser des Flusses blank und glatt geputzt hatte, und ihn heimlich in den Schoß eines Iizo zu legen, der zwar schon über und über mit Steinen beladen war, sich aber dennoch nicht weigerte, auch noch diesen Stein eines Fremden im Lande von Dai-Nippon hinzunehmen.