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XIX.

Nach Tokio – Das Okura-Museum – Kunstvolle Möbel – Das »unsichtbare Bildnis« – Vergangene Herrlichkeiten

 

Ein guter Freund schreibt aus Tokio: »Ich rate euch, nicht nach Tokio zu kommen. Es ist Juli, alle Menschen fliehen jetzt aus der engen Stadt, in der es staubig und warm ist … Kommt noch dazu, daß das Imperialhotel soeben abgebrannt und ein Ersatz noch nicht geschaffen ist.« Dies mag nun wohl ein vernünftiger Rat sein, aber mir kommt es doch seltsam vor, daß man in Japan ist und die Hauptstadt so vollständig links liegen läßt. Allerdings hatten wir uns vorgenommen, im Mai dort zu sein – es war anders gekommen. Während ich ziemlich verstimmt darüber nachdenke, kommt ein Brief von unserem Gesandten De Graeff, der uns bittet, in Tokio seine Gäste zu sein, da es in der Tat kein Hotel gäbe. Wir nehmen dankbar an.

Erst im Auto nach Kozu. Dann ein paar Stunden Bahnfahrt, vorüber an Yokohama, nach Tokio. Drei Tage Tokio genügen vollkommen! Die Stadt ist in der Tat nicht mehr, als unser Freund uns schrieb: ein Loch – aber ein ungeheures Loch. Als Stadt: genau so silhouettenlos wie alle anderen japanischen Städte. Die meilenlangen Wälle des kaiserlichen Palastes – der unsichtbar und unzugänglich bleibt – haben vielleicht etwas Geheimnisvolles, wenn man sich vorstellt, daß der dauernd kranke Mikado dahinter lebt. Hier und dort stillose europäische Gebäude der Behörden und der Banken, ein ungeheures »Warenhaus«, dann lange und breite, überfüllte Straßen mit japanischen Wohnungen und Läden. Und dann vor allem elektrische Bahnen, zahllose, stets überfüllte Wagen, in denen die Menschen fast aufeinander sitzen, stehen und an jeder Schlinge hängen.

Dann die Denkmäler. Bei uns sind sie schon nicht schön, hier aber sind sie geradezu abscheulich, diese Puppen in Gehröcken und Uniformen. Haben denn die Japaner bei ihrer armseligen Nachahmung europäischer Gebräuche all ihren guten Geschmack verloren? Dazu kommt übrigens noch, daß die Japaner bereits den Lebenden huldigen: der also Geehrte darf sein eigenes Standbild enthüllen.

Weshalb also reist man eigentlich nach Tokio? Nun, weil es eben die Hauptstadt von Japan ist. Man möchte doch gern wissen, wie die Hauptstadt dieser einen der drei größten Weltmächte aussieht. Kurz: sie wirkt außerordentlich enttäuschend und ist ebenso uninteressant und unwichtig wie jede andere modernisierte japanische Stadt.

Was in Japan anziehend und sehenswert ist, das ist das Alte, nicht das Moderne. Leider aber ist der ganze Zauber schon fast vollständig wegmodernisiert.

Privatbesitz ist das Okura-Museum, eine Sammlung japanischer und chinesischer Kunst, die in der guten alten Zeit zusammengebracht wurde, als diese Dinge noch um einen Spottpreis zu haben waren. Das Licht dort drin ist schlecht. Sogar an diesem sonnigen Morgen wird es einem nicht leicht, interessante Skulpturen genau zu besichtigen. Ich kann infolgedessen auch nicht viel darüber berichten. Die Sammlung ist sehr umfangreich, aber alles ist zu dicht zusammengepfercht, und bei diesem schlechten Licht, das von rechts und links unter einem häßlichen, modernen Plafond aus buntbemaltem Glas einfällt, muß man sich aufs äußerste anstrengen, um überhaupt etwas sehen und bewundern zu können. Da hängen wunderschöne Kakemonos, Anudas und Kwannons, über die Fenollosa schreibt. Aber wie ich mich auch drehen und wenden mag; hinter dem glitzerndem Glase errate ich die Schönheit mehr, als ich sie sehe.

Weiter gibt es eine Sammlung aus goldlackierten Gegenständen, die wirklich sehenswert ist. Unter anderem findet man dort zwischen vielen Truhen mit schweren seidenen Quasten und Schnüren, um deren Bemalung auf Goldlack sich erste Meister der Malkunst mühten, einen langen Bücherschrein, einen Schreibtisch auf niedrigen Füßen, vor dem man auf einem seidenen Kissen auf dem Boden sitzt, dazu allerlei Schreibgerät; das alles ist ein Geschenk eines Tokùgawa-Shogùns für einen seiner Günstlinge. Herrliche Arbeit, durchweg in Goldlack. Ich vermag in dem schlechten Lichte nicht zu unterscheiden, ob das Gold nur darauf gestreut oder hineingerieben wurde; es gibt diese verschiedenen Arten, den Goldlack auf rotem oder auf schwarzem Lack anzubringen – möglich, daß hier beide Methoden Anwendung fanden. Diese prächtigen Erzeugnisse der Schreiner- und Lackiererkunst sind wahre Zauberdinge. Sie wirken unglaublich schön mit den Reliefzeichnungen aus zartem Bambus und Blättern. Sie liefern wiederum einen Beweis für jene Verfeinerung, der sich der Japaner im Laufe der Jahrhunderte – bei der Teezeremonie, bei dem Blumenarrangieren, bei Gartenanlagen, bei allerlei Feierlichkeiten – so oft unterzog, gleich als wolle er seine Seele zu äußerstem Raffinement und eleganter Dekadenz ziselieren. Es erscheint kaum glaubhaft, daß diese goldlackierten, einzigartigen Möbel, wahre Prachtstücke, tatsächlich dazu bestimmt gewesen sein sollen, daran zu schreiben und Bücher darin zu verwahren … Anscheinend wurden sie auch wirklich nie gebraucht. Ich glaube, sie sind mehr als ein Jahrhundert alt. Man hat sie stets in einem feuerfesten »Safe« verwahrt. Sie sind ganz unangetastet, weisen keine Schrammen auf, kein Stückchen Goldlack ist abgesprungen. Wäre das alles nicht so fein und zeugte es nicht von erlesenstem Geschmack, so könnte man glauben, diese Kostbarkeiten wären erst gestern aus den Händen ihres Schöpfers hervorgegangen.

Dergleichen Dinge läßt der Japaner entwerfen, bezahlt sie ungeheuer hoch, verschenkt sie dann – und wer sie bekommt, verwahrt sie in einem geräumigen Safe!

Was noch? Man wird mir sagen, daß Japans Hauptstadt doch wenigstens drei Parks aufzuweisen hat: den kaiserlichen Park, den Hibyapark und den Shibapark. Das klingt zwar alles sehr vornehm. Aber der kaiserliche Park wirkt in erster Linie durch seine große Ausdehnung, und in den beiden andern Parks fielen mir vereinzelte, große, schöne Bäume auf, die so verwildert waren, daß ich mich fragte, wo denn wohl die feinfühligen Gartenarchitekten von dereinst geblieben sein mochten!

Dann gingen wir vorüber an den häßlichen, natürlich modernen Gebäuden und Pylonen der Friedensausstellung zum Museum, das im Uenopark gelegen ist. Dort sind sehr interessante Bildnisse und Kakemonos zu sehen, die aus den Tempelschätzen nur vorübergehend hierher entliehen und immerfort gewechselt werden. In diesem Park gibt es auch die Grabmäler mit dazugehörigen Grabtempeln von sechs Shogùns aus der Tokùgawa-Familie. Diese existiert noch bis auf den heutigen Tag: es gibt einen Prinzen Tokùgawa. – Was mich an diesem Museum verstimmte? Eine ungeheure Empire-Rotunde mit einer Kuppel mitten im Gebäude. Ich fahre doch nicht nach dem Osten, um den Empirestil zu bewundern. Warum ich nicht mehr über die Tokùgawa-Grabstätten sage? Weil ich nach Nikko gehe, und weil die dortigen Grabmäler der ersten Shogùns dieser Dynastie zu den interessantesten Kunstbauten Japans gehören. Wollte ich schon jetzt über die Tokùgawa-Mausoleum in Tokio so viel sagen, so würde ich mir vielleicht etwas vorwegnehmen, und es könnte meinem Bericht an der nötigen Frische fehlen, wenn ich später die von Nikko beschreibe. Dazu kommt noch, daß diese Gräber während der Restauration (der Wiederherstellung der Macht des Mikados) sehr gelitten haben, als zwischen den Anhängern des Mikados und den Parteigängern des Tokùgawa-Shogùn, – des letzten! (?) – gekämpft wurde; sie sind von den Kaiserlichen zerstört und geplündert worden.

Diese Grabtempel sind buntfarbig und vergoldet. Es ist alles historisch sehr interessant, jedoch bringt man aus diesen Museen, diesen Heiligtümern nicht viel Stimmung mit. Ganz Tokio ist stimmungslos. Will man im Tempel der Asakusa-Kwannon das wundertätige Bildnis sehen, so bleibt es unsichtbar. Es ist natürlich sehr lobenswert und fromm, ein wundertätiges Bildnis, über das der Reisende verschiedene Legenden gelesen hat, nicht jedem ersten Besten zu zeigen. Aber der Reisende darf dann auch verstimmt fragen, ob wohl die heiligen Bildnisse, die nicht gezeigt werden, wirklich noch dort sind, oder ob auch sie am Ende schon nach Boston oder Philadelphia auswandern mußten … Nur Priester und kaiserliche Prinzen dürfen die Bildnisse ansehen. Doch die ersteren haben sich untereinander verständigt, und die letzteren … ob die wohl jemals in dieser von Weihrauch geschwängerten Dämmerung das echte Bildnis sehen?

siehe Bildunterschrift

20. Die Dai-Butzu in Kamakura

Nun geht es zu den Shibatempeln, – »Marvels of Japanese Art«, wie englische Enthusiasten zu sagen pflegen –: das sind Grabtempel einiger Tokùgawa-Shogùns, die als vergöttlichte Vorfahren des gegenwärtigen Prinzen Tokùgawa ständig verehrt werden. Die eigentlichen Grabgewölbe dieser japanischen »Olympier« hinter oder in den Heiligtümern sind nicht immer leicht zu sehen. Der ganze ungeheure Komplex dieser Tempelgebäude macht einen verwahrlosten und deprimierenden Eindruck. Dazu kommt noch, daß das feuchte Klima dem Lack und der Vergoldung sehr geschadet hat. Natürlich sind auch manche schöne Dinge da: Die architektonischen Proportionen dieser Hallen, der größeren und kleineren, sind sehr gut. Die beiden Drachen, der fallende und der steigende, die wie zwei Balken einen Tempel mit einem Säulengang draußen verbinden, sind fein erfunden. Oft aber ist so ein Löwe, Drache oder Einhorn auf schwarzlackierten Wandpaneelen, gerade in bezug auf Form und Farbe, nach chinesischem Vorbild, jedoch verschroben und nicht mit chinesischer Feinheit veredelt dargestellt und behandelt.

siehe Bildunterschrift

21. Geisha in altjapanischem Tanzgewand

Dies alles hätte man vor etwa hundert Jahren während einer großen Zeremonie gesehen haben müssen. Damals wird dieser ganze Komplex von Tempelgebäuden zweifellos etwas Weihevolles gehabt haben. Wenn dann der jeweils herrschende Shogùn kam, um seine Vorfahren anzubeten, so stieg er allein zu dem Heiligtum der Heiligen empor; die Daimyos nahmen ihrem Range nach auf den Galerien Platz, hockten auf den Füßen in jener Haltung, die kein Europäer ihnen nachzumachen vermag, und saßen so in ihren weit ausladenden Brokatärmeln da – auf ihren Köpfen prangten die seltsam hohen Mützen. Die geringeren Samurai nahmen links und rechts Platz. Weihrauchwolken entstiegen den bronzenen Gefäßen, die wie Löwen, Drachen und Einhorn geformt waren. Der Rauch stieg zwischen den bronzenen und vergoldeten Lotosblumen empor – zwischen den Knospen und Blättern, die in großen Vasen auf dem Altar prangten, zwischen all den fein ausgearbeiteten Schnitzereien, die damals einen guten Hintergrund für diese starken, reichgekleideten Mannen abgaben. Shintoismus und Buddhismus gingen Hand in Hand. Die buddhistischen »Sutras« lagen in heiligen Rollen in den goldlackierten Truhen mit den dekorativen Quasten. Das buddhistische Glöckchen erklang in der Hand der Priester, die in ihren weißen Gewändern vor den heiligen Shintotafeln, auf denen die Ideogramme der Vorfahren sichtbar waren, ihres Amtes walteten …

Damals mögen die Shibatempel jedem, der sie nur von weitem ansehen konnte, wie ein Wunder erschienen sein. Heute aber sind sie eine ziemliche Enttäuschung für den armen Reisenden, der sich Tokio ansehen muß …


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