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Der »ewige Sucher« – Ein überwältigendes Werk – Die Buddhisatwa der Gnade – Japanische Bildhauerkunst – Die Kwannon Godoshi – Shaka-Muni
Wo sieht man in Japan große Kunst? Dies ist eine Frage, die ich mir schon mehrere Male vorgelegt habe.
Es gibt eine überwältigend große Maler- und Bildhauerkunst in Japan … ich denke mir, daß sie starken chinesischen Einflüssen ihre Entstehung zu danken hatte. In diesem Lande hat es soviel Schöpfungen dieser großen Kunst gegeben, daß ein langes Menschenleben nicht ausreichen würde, all diese Schätze zu bewundern, zu katalogisieren, zu beschreiben. Wo ist aber all diese Kunst geblieben? In Italien begegnen wir ihr auf Schritt und Tritt – nicht nur in allen Museen; sondern auch in den Adelspalästen, – wo der Portier sie den Reisenden für ein Trinkgeld zeigt – und auch auf der Straße. Ein Bettler lehnt sich mit dem Rücken gegen ein Kunstwerk von Benvenuto Cellini. Wo aber finden wir in Japan die große Kunst, die wir in Italien, in Spanien, in Holland nicht erst zu suchen brauchen?
Hin und wieder, aber selten nur begegnen wir ihr in einem Museum, wie z. B. in Kioto. Ich sah dort ein paar alte, holzgeschnitzte Bildnisse, eines Eremiten und einer Nonne, die in Lebensgröße zugleich prachtvoll realistisch und doch voller Gefühl waren. Ich sah dort die bronzene Statue des erhabenen Buddhakindes, das, kaum geboren, mit der einen Hand gen Himmel, mit der anderen zur Erde weist, um damit anzudeuten, daß es beide in Besitz nimmt. Ich sah dort die himmlische schwebende Kwannon mit ihrer Lotosblüte in der Hand und mit einem so entzückten Ausdruck, daß ich mich von ihrem Anblick nicht losreißen konnte. Hin und wieder senden die Tempel ihre Schätze auch leihweise in ein Museum. So bekomme ich doch manchmal von der großen Kunst etwas zu sehen. Aber es ist nur wenig von dem unendlich Vielen, das es in den Jahrhunderten gegeben haben muß, die einander folgten. Wo denn befindet sich dann die große Menge dieser japanischen Kunstwerke? Nun: sie sind hier und da, in irgendeinem kleinen Ort, in einem alten Tempel verborgen, der sich erst nach stundenlanger Eisenbahnfahrt erreichen läßt. Kommt man dann nach weiter, ermüdender Reise dort an, und wünscht man das einzige Kunstwerk zu sehen, das dieser Tempel eifersüchtig bewahrt, so sagt einem der Priester, daß es nicht zu sehen sei, daß es Gotteslästerung wäre, es zu zeigen, und daß sicherlich ein Erdbeben kommen würde, wenn der Priester die Türen aufschlösse und die Vorhänge von den Kakemono hinwegzöge oder die Hülle von einem Bilde entfernte, zu dessen Besichtigung der Fremde gekommen …
Und wo noch ist große japanische Kunst zu sehen? Nun, sehr einfach; etwa in Boston oder im Britischen Museum oder in vielen amerikanischen Privatsammlungen. Das geht aus einem sehr bedeutenden Werke hervor, dessen Titel lautet: »Epochen der Chinesischen und Japanischen Kunst«, von Ernest Fenollosa, früherem Professor der Kunstgeschichte an der Kaiserlichen Universität von Tokio.
Fenollosa hat jahrelang die große japanische Kunst gesucht, hat sie gefunden, studiert, ausführliche Notizen gemacht und viel Interessantes darüber geschrieben. Von Zeit zu Zeit kehrte er in seine Heimat zurück, nach Amerika – denn er war Amerikaner, trotz seiner japanischen Herkunft. Überall hielt er Vorlesungen über japanische Kunst und erklärte ihre enge Verwandtschaft mit der chinesischen. Er wurde in die japanische Malerfamilie Kano aufgenommen, die insbesondere deshalb noch heute existiert, weil sie stets viele talentvolle Maler als Söhne angenommen hat. Sein japanischer Name war: Der Ewige Sucher … Wirklich: er entdeckte viele große japanische Kunstwerke, und die Japaner müssen ihm stets dankbar dafür sein, daß er sie in Europa über die Schönheit ihrer Kunst belehrte. Der Mikado verlieh ihm einen hohen Orden. Nun war man in jenen Zeiten, am Ende des vorigen Jahrhunderts, noch in der naiven Anschauung befangen, daß große Kunstwerke, die man aus der Umgebung, in der sie wie Blumen erblühten, in eine andere hinwegbrächte, den gleichen Eindruck hervorrufen müßten … Es war noch genau wie zu der Zeit des Lord Elgin, der marmorne Methopen und Friese aus dem Parthenon seelenruhig ins Britische Museum schaffen ließ. Heutzutage könnte so etwas nicht mehr vorkommen, da alle Länder die Denkmäler ihrer alten Kunst ängstlich behüten. Fenollosa indessen, den ganz Japan verehrte, kaufte ruhig und vermutlich damals zu einem sehr geringen Preise eine große Anzahl von Kunstwerken, deren einige er selber in verfallenen Tempeln entdeckt hatte, und ließ sie in sein Heim nach Boston transportieren …
Wir dürfen ihm dies nicht übelnehmen. Die Naivität des großen Kunstkenners, dem die japanische Regierung keinerlei Schwierigkeiten machte, entsprang dem Zeitgeist. Wir hätten vielleicht unter gleichen Umständen das Gleiche getan. Die reinen Ideen entwickeln sich gemeinschaftlich; sie sind wie viele Blumen auf einem Felde, nicht wie eine einzelne Blume auf einem langen Stengel, die über die andern hoch hinausragt. Jetzt wollte Professor Fenollosa sich für ein paar Jahre in Japan niederlassen, um das Buch zu schreiben, nach dem bereits viele verlangten: da starb er ganz unerwartet am Vorabend seiner Abreise nach Japan.
Dieser tragische Tod hatte eine tragische Folge. Fenollosa hatte zwar sein Buch nicht schreiben können, aber er hatte doch viele einzelne Seiten, sozusagen halbe Kapitel skizziert. Und seine Frau, die so viele Jahre mit ihm gelebt, hatte die Absicht, sein Werk zu vollenden, oder besser gesagt, es erst zu schreiben. Sie fand eine überwältigende Menge von Notizen und machte sich an die Arbeit, bei der sie von vielen japanischen Künstlern und Gelehrten unterstützt wurde.
Doch wenn man nicht als Schriftsteller geboren ist, kann man kein Buch schreiben. Und so kommt es, daß dieses Buch von den »Epochen der Chinesischen und Japanischen Kunst« von Ernest Fenollosa nicht eben gut geschrieben ist. Die Menge der Notizen ihres Gatten hat die Frau – die man an ihrem Stil immer wieder herausspürt – einfach überwältigt. Sie hat nicht vermocht, des Materials gänzlich Herr zu werden. Sie konnte nicht damit zurechtkommen, sie blieb mitten drin stecken. Aus ihren Behauptungen und Beurteilungen spricht oftmals eine seltsam unlogische Verwirrung. Sie ihrerseits überwältigt uns mit Namen, Dynastien, Epochen, mit großen Kunstbeschreibungen, aus denen wir uns nicht zurechtfinden können, obzwar wir ihr doch in dankbarem Gedenken an den großen Kunstkenner so gerne folgen möchten.
Obendrein ist der Stil der Verfasserin, der sich von dem ihres Gatten sehr leicht unterscheiden läßt, nicht sehr gut, sondern eher etwas unbeholfen, und so will ich über dieses große Buch weiter nichts sagen. Über dieses Buch, das nicht nur groß ist – weil es aus zwei dicken Bänden besteht, sondern auch weil es – ungeachtet seiner Unvollkommenheit – doch Schätze von Wissenswertem auf jeder Seite birgt. Wer hierher kommt und japanische Kunst wirklich studieren will, versäume ja nicht, Fenollosa zu lesen, wenn er auch von den beschriebenen Kunstwerken, die in fernen Tempeln oder … in Boston verwahrt werden, nichts zu sehen bekommt. Er übersehe die Unvollkommenheiten, ärgere sich nicht über den oft mangelhaften Stil, sondern genieße nur diese Einführung in soviel ungeahnte Schönheit und betrachte vor allen Dingen die prächtigen Bildtafeln. Dann ist es einem, als gehe man in einem Museum umher, durch das ich mit meinen Lesern rasch ein wenig wandeln möchte …
Hier eine stehende Kwannon und die Yumedono. – Die Halle der Träume – in Horuiji; Fenollosa hat sie in ihrer Verborgenheit entdeckt und zugleich von ihren jahrhundertealten, halb zerfallenen Hüllen befreit. Warum diese heiligen Bildnisse so verhüllt waren, ist nicht ganz klar. Sie trägt eine mit Balsam gefüllte Vase und einen Arzneikasten in der Hand, diese Boddhisatwa der Gnade. Die Boddhisatwa ist immer geschlechtslose Gottheit, bereit, in das Nirwana hinüberzugleiten, doch immer noch auf der Erde weilend, um der hilfsbedürftigen Menschheit zu helfen … Ferner hier diese sitzende, sinnende Kwannon, die den Finger an die Wange legt. Selten überrascht einen das Verwandte mancher Kunststile so sehr wie beim Anschauen dieser Bildnisse. Sie sind ganz gotisch. Sie könnten ohne weiteres in eine französische Kathedrale gestellt werden, ohne daß sich irgend jemand dort über ihre Anwesenheit wundern, ohne daß sie auffallen oder gar stören würden. Die hageren, asketischen Körper, die fleischlosen und dabei doch so graziösen Glieder unter den eng, fast liebkosend darum geschmiegten Falten des langen Gewandes sind so ganz gotisch. Die leicht durchgebogene Linie der Stehenden, die den Leib ein wenig heraustreten läßt, erinnert ganz an gotische Heilige. Die Sitzende mit dem großzügigen Antlitz unter der Tiara aus Lotosblättern, dem gebeugten schmalen Rücken und den dünnen Armen gleicht nicht minder einer gotischen Jungfrau. Und dabei sind das nun koreanische Skulpturen, vermutlich stammen sie von der Hand eines Priesters, der zugleich Bildhauer war. Versuche nur einmal jemand, sich diese beiden Statuen in dem Tempel von Horuiji anzusehen! Der Priester will nichts davon wissen. Murrays Reisebuch sagt nichts darüber. Der Führer hat von diesen frommen Meisterwerken nie etwas gehört. Da möchte ich wohl genau wissen, wie jemand Gelegenheit haben soll, diese beiden Bildnisse der großen japanischen-koreanischen Kunst in natura anzuschauen! Wir lernen sie nur durch die Photographie in Fenollosas Buch kennen.
Können meine Leser nun einigermaßen verstehen, warum ich es zum Verzweifeln finde, nach großer japanischer Kunst zu suchen? In dem gleichen Tempel, so sagen mir einige weitere Reproduktionen, gibt es einen prachtvollen Buddhakopf mit reich ornamentiertem Diadem; dieser Kopf ist ganz nach griechischem Vorbild geschaffen: wohl der Einfluß der griechischen Bildhauer, die Alexanders siegreiches Heer durch Asien begleiteten. Ein Einfluß, der vor allem aus dem damals so rauhen Baktrien kam, das durch die eindringende hellenische Kultur ganz bezaubert wurde. Einen Kontrast zu diesen mythischen und wunderbar sanften Buddhas und Boddhisatwas bildet der bronzene Keulenwerfer im Todaijitempel unweit Nara. Wirklich: ein starker Kontrast: beinahe verzerrte Züge, wie rasend rollende Augen, ein abgrundtief geöffneter Mund, aus dem die Zähne wie Blitze hervorleuchten; in einer Panzerrüstung, die Benvenuto Cellini getrieben haben könnte, steht er da und will gerade seine Keule werfen. (Vermutlich hat man es mit einer Arbeit von Giogi, 670–749, zu tun.) Dieser starke Ausdruck, dem mit einemmale alles Buddhistische fehlt, wird dann wieder etwas weicher beim Bilde der vier Könige der Windrichtungen, die am gleichen Ort auf hohem Altar stehen und deren breite Füße die sich windenden Gnomen und schlechten Erdgeister zertreten. Diese humoristischen Gestalten waren in einer anderen, etwas stärker durchgearbeiteten Darstellung in Kokufuji zu sehen; sie wurden jetzt in das Museum zu Nara überführt und stellen tanzende, musizierende und Bogen schießende, wuchtige, grinsende Erdgeister dar, die in interessantem Kontrast zu der damals herrschenden Mystik in der Skulptur stehen.
Allein die Kwannon überragt alles. Diese einigermaßen weltliche von Eurio-hon-Yen-Li-Pen, nach seinem chinesischen Namen (Nach-Tangperiode), würden wir in der Sammlung Charles Freer in Boston oder Neuyork sehen können. Das weibliche Element tritt hier stärker hervor als das männliche; sonst haben diese weiblichen Kwannonfiguren nämlich oftmals einen dandyhaften Haarwuchs auf Lippe und Kinn! Mir persönlich gefällt eine solche Auffassung weniger als diese durchaus weibliche Darstellung. Was für eine zierliche Gestalt hat doch diese sitzende Göttin mit dem durchsichtigen Heiligenschein um das Haupt und die ganze Figur! Dabei wirkt sie mehr wie eine vornehme Weltdame; sie entbehrt jeglicher Mystik, diese Königin, die vermutlich – genau zu erkennen ist es nicht – auf einem Sessel sitzt und ein Bein über das andere schlägt. Die zierlichen Hände hängen unbeschwert herab. Sie erinnert wenig an Gnadengöttinnen. Sie wirkt wie eine elegante Fürstin unter dem hohen Diadem und mit dem fürstlichen Halsschmuck aus Juwelen. Sie ist interessant, doch leider sehen wir sie wieder nur in einer Reproduktion.
Die Sammlung Freer da irgendwo in den U. S. A. besitzt noch eine andere Kwannon, mit jenem dandyhaften Schnurrbart, von dem ich eben sprach. Dies ist eine Kakemono von Godoshi (chinesischer Name: Wu-Tao-Tzu), der hin und wieder der Michelangelo von Japan genannt wird, und der ganze Palastmauern mit Fresken bemalt hat, in denen Himmel und Hölle dargestellt sind (Tangperiode, Mitte des 8. Jahrhunderts). Eine Gestalt – der Schnurrbart fällt sofort auf und wirkt nicht gerade angenehm, weil die Figur im übrigen wie die einer vornehmen Frau erscheint – schwebt aus einer Wolke herab, die sich wie ein Regenschaum zu ihren Füßen kräuselt. Das Wasser ist das wohltuende Element der Kwannon. Das Haar ist hoch aufgesteckt, und um den Kopf liegt ein breiter Heiligenschein. Ein Mantel aus Gazeschleiern fällt vom Kopf bis auf die Schultern und die emporgehobenen Arme herab. Die feinen Finger mit den spitzen Nägeln halten wiederum die mit Balsam gefüllte Vase und einen Weidenzweig als Symbole der Wohltätigkeit. Weiter unten, auf irdischem Boden, sind zwei Knaben damit beschäftigt, Lotosblumen, die Symbole der frommen Menschheit, in Vasen zu ordnen. Doch eine drachenähnliche Wolke treibt von links heran und bedeutet das nahende Schicksal. Sehr einfach ist diese Darstellung des großen berühmten Malers nicht. (Wie gerne ich ihre Farben sähe!) In hohem Maße gekünstelt erscheint mir diese von ihren faltigen Gewändern umflossene, in äußerster Anmut aus dem Regenhimmel herabschwebende Boddhisatwa der Gnade. Wir werden sie später noch in anderer Gestalt sehen, die uns vielleicht weniger durch vollendete Kunst, als durch schlichte, fromme Gläubigkeit rühren wird. Jetzt wollen wir nur noch einen Augenblick darauf verwenden, aus dieser prächtigen Sammlung Freer jenen Shakà-Muni (Buddha selber) zu bewundern. Eine ganz neue, rauhere, ursprüngliche Auffassung und wirklich: ganz »Michelangelo«. Obwohl nicht jegliche süße Mystik fehlt, so gleicht diese qualvoll starrende, grübelnde, ganz en face genommene Buddhagestalt doch nur sich selber und – einem Propheten aus der Sixtinischen Kapelle. Es ist ganz unglaublich! Befinden wir uns nun eigentlich in Japan oder in Rom? Dieses wirre Haar, dieser rauhe Bart … paßt das wirklich zu einem Buddha? Sind diese Augen voll bitteren Leidens um Menschen und Dinge, um Götter und Welt, um Himmel und Erde wirklich die eines Buddha? Nein: damals hieß er auch nur Shaka-Muni, so wie er als Kind Sidoharto geheißen hatte. Und so, als Shaka, als leidenden Menschen, hat Godoshi ihn vorzeiten mit einer geradezu frappanten psychologischen Erfassung und Durchdringung gemalt.