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Das Fest der Poesie – Das »Dichterkissen« – Östliches Poesieempfinden – Ein paar Beispiele – Der Kuckuck
Ob es moderne japanische Poesie gibt, die wir Europäer wirklich als Poesie gelten lassen würden, weiß ich nicht. Es wäre ganz gut möglich; aber ein Gedicht läßt sich nicht übersetzen wie ein realistischer Roman, und was ich von japanischer Dichtkunst in englischer Übersetzung sah und hörte, kam mir seelenlos und gekünstelt vor. Diese Kritik bezieht sich insbesondere auf die kurzen, beinahe lyrischen Epigramme, die gegen Ende des Jahres von allen Japanern jeglichen Standes verfaßt werden und ein Thema behandeln, das der Mikado selber stellt. Für die Neujahrsgedichte des Jahres 1922 gab er den Text: »Die aufgehende Sonne bescheint die Wogen.« Das gleiche Motiv also, das ja für das Ballett der Geishas gewählt wurde, das ich in Kioto sah und beschrieb. Vor dem 15. Dezember müssen die Gedichte beim Hofe zu Tokio eingereicht sein. Jeder darf an diesem Wettbewerb teilnehmen. Reich und Arm, Jung und Alt, Hoch und Niedrig. Alles beginnt also zu dichten; insbesondere die »oberen Klassen« müssen mitdichten – das läßt sich denken. In diesem Jahre gingen 26 000 lyrische Epigramme ein. Hoffähige Autoritäten auf dem Gebiet der Dichtkunst begannen sie zu sichten und wählten 280 aus. Eine besondere Kommission unter Leitung einer Persönlichkeit aus der kaiserlichen Hofhaltung wählte daraus wieder dreizehn (Unglückszahl!). Am 18. Januar wurden diese Gedichte der Kaiserin und dem Prinzregenten vorgelesen. (Der Mikado, der immer krank ist, hielt sich allen offiziellen Veranstaltungen fern.) Die Gedichte der Prinzen und Prinzessinnen des kaiserlichen Hauses waren natürlich über alle Kritik erhaben und wurden zuerst vorgetragen. Das war das »Fest der Poesie«.
So etwas erscheint mir ein wenig lächerlich in dem »modernen«, sonst nur immer Europa nachahmenden Japan. Wenn man die hohen Schornsteine in den staubigen Städten sieht, wenn man weiter alle die schlecht getragenen Gehröcke und Zylinderhüte anschaut, so empfindet man gleich, wie töricht es ist, in unserer Zeit noch die alten Bräuche bewahren zu wollen, die dereinst an dem japanischen Hofe und in den Palästen der Daimyos galten. Besonders war das der Fall zur Zeit der Fujiwaras (9. bis 10. Jahrhundert). Damals war jeder Ritter, der mehr Brokat als Stahl trug, und jede Dame, die ihre langen Schleppgewänder mit den schweren seidenen Falten um sich zu drapieren wußte, wie die feine chinesische Hofsitte der Sung-Zeit es verlangte, ein Dichter oder eine Dichterin. Damals waren der Mode zuliebe oder auch manchmal aus wirklichem Gefühl heraus jeder, der nicht gerade ein Kuli war, imstande, Verse zu machen und sie mit einem Stift oder mit chinesischer Tusche auf einen seidenen Streifen oder eine lange Rolle Goldstaubpapier zu malen. Aber heutzutage? Um aus unserer materialistischen Welt zu Idealerem zu gelangen, bedürfen wir anderen Anreizes als der vorgeschriebenen Themas eines Kaisers, über das dann mehr oder weniger lyrische Verse geschmiedet werden. Ich fand denn auch, wie gesagt, alles, was ich in englischer Übersetzung davon zu lesen bekam, recht dürftig und armselig. Aber wer weiß … Ich bin vielleicht ungerecht. Möglich, daß hier und dort nur die Übersetzung schlecht und das ganz kurze Gedicht in Wirklichkeit echt und tief empfunden war, denn der Japaner – soviel ist nun einmal sicher – hat stets viel Sinn für Poesie gehabt.
Ich glaube nicht, daß es in seiner Literatur ein großes Epos gibt. Wohl aber kennt er die in feinerer mittelalterlicher Sprache geschriebenen Nô-Spiele, buddhistische Spiele, die von nur wenigen Schauspielern dargestellt wurden, und von denen ich später berichten werde. Und er kennt unzählige Legenden in Poesie oder Prosa, die von öffentlichen Erzählern immer wieder gesprochen werden: im Theater oder auf der Straße. Auch das ist sicher, daß die Edlen des Landes und die Samurai allzeit Dichter gewesen sind, wenn anders man den anmutigen Anekdoten Glauben schenken darf, die über viele von ihnen geschrieben wurden. Ich will nur ein paar davon mitteilen:
Es gibt in Japan verschiedene Dialekte, und der aus dem Süden stammende Japaner kann den aus dem Norden nie gut verstehen. Einmal nun begegneten einander zwei Botschafter zweier verschiedener Daimyos. Der eine kam aus Norden, der andere aus Süden. Sie versuchten sich miteinander zu verständigen, allein es war vergeblich. Da kamen sie auf den hervorragenden Gedanken, das, was sie meinten, einander in der sehr sorgsam artikulierenden altbuddhistischen, sehr schwer verständlichen Sprache des Nô-Spieles zuzusingen. Und siehe da: dank der singenden, schleppenden Melodie verstanden sie einander vollkommen. So unterhielten sie sich in der Sprache der Poesie.
In der Zeit der Fujiwaras – im höchst kultivierten, fast preziösen Mittelalter – wurde dann und wann wohl ein Edelmann nach dem Nordosten Japans verbannt, nach Oshu, einem Ort, der dem in Ungnade gefallenen Höfling wohl ziemlich unwirtlich vorkommen mochte. »Suche dein Dichterkissen«, lautete dann der Befehl. Die Japaner haben in ihrer Sprache viele seltsame Redensarten, die unserer europäischen Mentalität fremd sind und einen ganz besonderen Sinn vermitteln. Ein Dichterkissen, ein Polster also, das zwar zum Dichten, aber nicht zum Schlafen sich eignet: das ist so ein absolut japanischer Begriff aus der Zeit der Fujiwaras. In seiner Verbannung nämlich dichtete der Höfling in schlaflosen Nächten, da er auf seinem Bett saß, und schickte seine Verse dann an den Hof zu Kioto. Viele wurden achtlos zur Seite geworfen – bis er auf einmal eine einzige feine, herrliche Verszeile sandte, durch die er Verzeihung erlangte und zurückkehren durfte.
Minamoto-no (= von)-Yoshino verfolgte einmal Abé-no-Sadato, der den Kaiser beleidigt hatte, und wollte ihn bestrafen und töten. Abé war bereits seit Monaten auf der Flucht. Endlich holte ihn Minamoto ein; beide waren zu Pferde. Minamoto verbarg dem andern noch, was der Kaiser ihm befohlen hatte. Der Weg, der zwischen vielen Herbergen entlangführte, und diese Stunde schienen ihm nicht geschickt, sein Vorhaben auszuführen. So verbarg er denn alle wahre Absicht hinter einem Scherze und improvisierte ein Gedicht auf den an der Naht zerrissenen Ärmel des Abé. Er sprach aber nur die erste Strophe die einer Ergänzung durch ein kurzes lyrisches Epigramm bedurfte. Und nun dichtete der Abé sogleich diesen zweiten Teil, und seine Verse klagten darüber, daß die Ungnade des Kaisers, den er niemals zu kränken oder zu verraten beabsichtigt hatte, ihn nötigte, von Ort zu Ort zu fliehen, und ihm nicht einmal den Augenblick Zeit gönnte, Antlitz und Gewand zu pflegen. Diese Verse waren so schön, daß Minamoto heftig bewegt zu dem Flüchtling sprach: Einem, der so schön dichtet, kann ich das Leben nicht nehmen, auch dann nicht, wenn es mir der Kaiser befohlen hat!
Noch ein Beispiel. Es lebte eine Dichterin namens Izumi-Shikibu. Die hatte im Garten einen Pflaumenbaum, der wegen des Wuchses seines Stammes und seiner dreidoppelten Blüten berühmt war. Der Mikado hörte davon und wünschte, ihn zu besitzen. Zu günstiger Stunde wurde der Baum in den Garten des Mikado verpflanzt. Allein die Dichterin hatte ein Gedicht auf einen langen Seidenstreifen gemacht, den sie um einen der Zweige gebunden hatte. Schmerzerfüllt wandte sie sich in ihren Versen an die Nachtigallen, die stets zu nächtlicher Stunde auf ihrem Baum zu singen pflegten: »Ihr Nachtigallen,« so sang sie, »ihr werdet vielleicht den Baum in dem neuen Garten wiederfinden, der der Garten eines Kaisers ist, aber wie soll ich auf eure Lieder nun antworten, auf daß unser beider Sang einem hochgestimmten Wechselgesang gleiche?« Der Kaiser las das Gedicht, der Baum wurde zurückgegeben, und die Dichterin sang mit ihren Nachtigallen weiterhin Lied auf Lied um die Wette.
Aus diesen Anekdoten geht hervor, daß der Japaner stets viel Empfinden für Poesie hatte. Ich glaube sogar, daß poetisches Empfinden bei allen östlichen Völkern: bei den Japanern, Chinesen und Javanern ein gewöhnlicheres und allgemeineres ist als bei den Europäern. Natürlich ist es bei dem einen stärker verfeinert als bei dem andern. Aber mehr und mehr komme ich zu der Überzeugung, daß es bei den meisten Orientalen wenigstens latent vorhanden ist. Sie haben nicht immer das Bedürfnis nach schwerer Epik; statt deren genügen ihnen ihre halb gesprochenen, halb gesungenen Balladen. Sie schwärmen ein wenig übertrieben für die allerkürzesten Gedichte. Dabei ist zu beachten, daß ein einziges Wort, eine Wortverbindung, ein chinesisch-japanisches Ideogramm in gehobener Sprache, durch Anordnung und Zusammenstellung mit zwei, drei andern Ideogrammen eine Bedeutung zukommt, die unserem europäischen Ohr, das nur an Rhythmus und Metrik und Reim gewöhnt ist, völlig entgeht. Eine englische Übersetzung vermag von derartigen schwierigen Stellen nur sehr wenig wiederzugeben. Da ist zum Beispiel ein Gedicht wie dieses:
»In allen Blüten mag der Lenz blühen;
Doch nur der Herbst gibt mir erhöhtes Lebensentzücken.«
Das sagt uns nicht viel. Es ist die einfache Feststellung dessen, daß der Dichter den Herbst mehr liebt als den Frühling. Aber ein Holländer, der die Sprache sehr genau kennt, versicherte mir, daß im Japanischen die verschiedenen nicht allzuvielen Ideogramme, die diese simple Mitteilung enthalten, in ihrer Anordnung und mit dem besonderen Metrum einen wundersam zarten Eindruck hervorrufen, und daß sie trotz ihrer Kürze ein sehr erhabenes poetisches Gefühl in überaus poetischem Ausdruck vermitteln. »Lebensentzücken« habe ich übersetzt, aber im Japanischen steht nichts anderes als: »Ah!« Und dieses »Ah!« umschließt für den Japaner all das Geheimnisvolle, zugleich mystische gen Himmel Strebende, Ekstatische, das für einen empfindsamen Chinesen in dem Ideogramm »Yu!« ruht.
Diese Dinge sind für uns schwer zu verstehen und lassen uns nur um so deutlicher den ungeheuren Abgrund erkennen, der zwischen der europäischen und der japanischen Seele liegt. Die Sensitivsten unter uns mögen wohl vielleicht ähnlich empfinden, wenn sie die Fühlhörner ihrer Seele ausstrecken, aber wir andern brauchen doch viel mehr. Ein paar zierlich kalligraphierte Hieroglyphen auf einem langen Streifen Reispapier würden unsere Dichter nicht befriedigen, und die Leser vollends blieben durchaus unbefriedigt, wenn ein Gedicht unserer Dichter allzu kurz wäre. Ein Sonett ist schon eine beinahe zu kolossale Gießform für poetische Gedanken, die der japanische Dichter nur zwei, drei Sekunden lang anklingen läßt wie ein Glöckchen in der Hand des buddhistischen Priesters.
Wir haben nicht die Ruhe und auch nicht den Geist, so zwei, drei Sekunden lang eine poetische Stimmung festzuhalten. Sie hatten – zum mindesten in früheren Jahrhunderten – durchaus diese Ruhe und diesen Geist. Sie waren, wenigstens soweit sie der Poesie zugänglich waren, eigentlich stets bereit, so kleine Glöckchen in ihrem Lebenstraum klingen zu hören …
Wie abgrundtief orientalisches und europäisches Empfinden für Poesie voneinander verschieden sind, das läßt sich durch ein Beispiel am besten illustrieren. Hototogisu, »Kuckuck«, lautet der ursprüngliche Titel eines japanischen Romanes, dessen Heldin Nami-Ko, die Schwindsüchtige, der poetische, blutspeiende Kuckuck ist. Der Kuckuck gilt den Leuten des Ostens als Vogel des Schmerzes. Selten nur hört man ihn – aber wenn man ihn hört, so singt er vom ewigen Schmerz und speit Blut. Um dieser poetischen Deutung willen wird im Japanischen das Wort »Hototogisu« mit chinesischen Ideogrammen gezeichnet – wie jedes erhabene Empfinden stets in chinesischen, nicht in japanischen Ideogrammen ausgedrückt wird. Nun geben die chinesischen Schriftzeichen, die den Vogelnamen malen, zu gleicher Zeit in anderer Weise, eindringlicher gelesen, folgenden Sinn: Schmerzlich ist das irdische Leben, anderswo ist es besser. Die Chinesen und die Japaner glauben, daß der Vogel dies singt, wenn er ruft und Blut speit. In den ältesten chinesischen Gedichten, die von den Japanern übernommen wurden, wird der Kuckuck besungen. Ein Dichter sagt: »Ich höre, wie der Kuckuck seinen Schmerzensruf ausstößt; ich sehe nur den Mond hinter den Bäumen.« In diesen beiden Zeilen muß eine Welt der Wehmut verborgen sein. Für uns Europäer aber ist der Kuckuck … durchaus kein poetischer Vogel des Leidens, sondern ein uninteressanter Egoist! Wer nun hat Recht? Eines ist sicher: wenn wir uns nicht ganz in die chinesische und japanische Sprache, in ihre Ideen- und Gefühlswelt einarbeiten und hineinversenken, so werden wir von ihrer Poesie nicht viel verstehen.
Der letzte Kaiser, Meïji, war ein Dichter. Er schrieb 9000 Gedichte. Es wird eine Auswahl dieser Verse in drei Teilen nur in dreitausend Exemplaren für den Hof gedruckt erscheinen. Die letzte Kaiserin, Shoken-Kotaïko, war auch eine Dichterin. Sie schrieb vierzigtausend Gedichte. Auch aus diesen will der Hof eine Auswahl treffen, doch die Sache erscheint den Hofpoeten sehr hoffnungslos. Ein seltsames, sehr seltsames Volk! Sie sind von uns so weit entfernt wie der Osten vom Westen. Warum empfinden sie da gar so viel Sympathie für unsere Kultur der Maschinen? Ist ihr ganzes Modern-Tun nur ein Firnis? Begeben sich diese modernen Staatsmänner und Geschäftsleute nicht immer noch, wenn es niemand sieht, in einen Wald, um auf den Kuckuck zu lauschen, den Vogel der Lebenstrauer, der Blut speit?