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Fahrt über Land – Die Cryptomerien-Alleen – Lackierte Brücken und Tempel – Shogùngräber – Das »Heilige der Heiligen«
Zuerst ging's mit der Eisenbahn nach Utznomya, dann im Auto weiter nach Nikko. Das ist der berühmteste Ort Japans – und ich bin froh, ihn gesehen zu haben. Diese Autofahrt in einem Lande, wo das Autofahren an sich höchst unbequem ist, lohnt sich ungemein. Man sieht einen kleinen Provinzort mit Kleinstadthäusern oder ganz offenen Gehöften, und das alles unterscheidet sich sehr stark von den sogenannten »großen«, ganz charakterlosen japanischen Städten. Insbesondere die Häuschen sind sehr charakteristisch. Nun, im Sommer, sind alle Schiebewände zurückgeschoben; man sieht gerade hinein und erblickt die mit Matten belegte, rundum laufende Sitzstufe, die der in Indien üblichen großen »Baleh-Baleh« oder Bambusruhebank gleicht. Gehören diese Häuschen irgendeinem Wohlhabenden, so gewahrt man auch wohl die Tokonoma, eine Nische, darin der Kakemono hängt oder ein kleines Kunstwerk aufgestellt ist – oder wenigstens eine mit Blumen gefüllte Vase. In reichen Familien wird dieses »Arrangement«, auf das in japanischen Häusern sehr viel Wert gelegt wird (und das übrigens den einzigen Zimmerschmuck darstellt), alle zwei Tage gewechselt: andere Kakemono, andere Kunstgegenstände. In den Gehöften auf dem Lande indessen findet man ein Tokonoma nur sehr selten, und wenn jemand einen Kakemono und ein Bronzebildnis und eine Vase besitzt, so erscheint ihm dies schon als ungeheurer Luxus. Wenn ich so in die ganz durchsichtigen Häuschen einen Blick werfe, so sehe ich meistens nichts anderes als Sonnenschein, der sich auf den Matten spiegelt, und hin und wieder mal ein Polster. Oft hocken die Bewohner um ein niedriges Tischchen und essen, wobei die geschickt gehandhabten Holzstäbchen lustig klappern. Ein Zwergbäumchen, wie es beinahe jede Familie besitzt, ist in grauem oder grünem Topf vor das Haus in die Luft gerückt. Ganz kleine Wände aus Bambus, so winzig, daß sie wie Spielzeug wirken, sind hier und dort aufgestellt, um den Eindruck einer gewissen Intimität zu erwecken. Den Japanern liegt sonst nicht viel daran, sich zu verstecken: was sich hinter diesen Wänden abspielt, muß also, glaube ich, schon sehr intim sein! Übrigens scheinen sie ziemlich empfindlich zu sein und sich in ihren ganz offenen Häuschen vor der Abendluft zu fürchten: denn oft sehe ich den Brasero, einen großen runden, grünen oder blauen irdenen Topf, in dem unter der Asche Holzkohle glimmt. Draußen sind gewaschene Kimonos aufgehängt: straff über Bretter gespannt und gänzlich zertrennt. Ein mißgestalteter Kater oder ein häßlicher chinesischer Hund liegt daneben. Schöne Tiere habe ich – mit Ausnahme der großen Falter! – in Japan niemals zu Gesicht bekommen – Hund und Katze liegen vor dem Haus inmitten eines heillosen Wirrwarrs, der niemals aufgeräumt wird, und dazwischen spielen buntfarbig gekleidete Kinder …
So ist das Bild, das ich von den Häusern auf dem Land gewann. Kleine Geschäfte tragen eine bunte Note herein. Arbeiter oder Wagenführer schützen sich gegen den Regen mit einem langen Regenmantel und einem spitzen Hut aus Stroh – ein Motiv für die japanischen Maler! –
Die Landschaft vor welligen Gebirgslinien ist nicht weiter auffallend. Flachs wächst üppig empor, und überall sind Paulowniabäume gepflanzt, aus deren schönem Holze Kleidertruhen angefertigt werden: die sind, glaube ich, die einzigen Möbelstücke, die der Japaner neben seinen unbequemen hölzernen Kopfstützen besitzt. Das sind mehr oder weniger weich gepolsterte Halbkreise auf einem Ständer, die hinter dem »Futon« stehen, und darauf legen die Frauen ihr wohlfrisiertes, die Männer ihr unfrisiertes Haupt! Die seidenen Matratzen dieses »Futon« werden tagsüber in Schubfächern verwahrt, die in das Haus eingebaut sind, so daß nie ein Bett sichtbar ist.
Und oft ist überhaupt nichts sichtbar! Die Leute sitzen auf ihren Matten und trinken Tee oder Sake. Sie sind klein und brauchen nur ein wenig Platz. Wir Europäer würden in einem solchen japanischen Häuschen manchmal zu ersticken fürchten und dann mit einer einzigen, unbedachtsamen Bewegung die Wände, den Tokonoma, und ich weiß nicht was sonst noch einstoßen oder vielleicht gar beim Eintreten straucheln und dann gleich auf der anderen Seite des Hauses wieder hinaustaumeln!
Plötzlich gewinnt die Landschaft ein bedeutenderes Aussehen. Wir nähern uns Japans berühmtesten Cryptomerien-Alleen, die zu der Gräberstadt Nikko hinführen: dort liegen die ersten Tokùgavva-Shogùns begraben. Es gibt zwei Alleen: eine war dem Shogùn selber vorbehalten, der sie majestätisch durchschritt, wenn er seinen Vorfahren eine Ehrung erweisen wollte, die andere dem Botschafter des Kaisers, wenn dieser Geschenke und Opfergaben darbrachte. Ungeheure, dunkelbelaubte Bäume recken sich empor. Vor drei Jahrhunderten wurden sie von Daimyos gepflanzt, denen es zu kostspielig war, an diesem meilen- und aber meilenlangen Wege steinerne Votivlaternen aufzustellen, mannshohe, typische Lichtspender aus schwerem Granit, die eigentlich als das einzig Wahre gelten. So pflanzten sie denn kleine Cryptomerien hin und erklärten dem Shogùn, daß sie damit für die Zukunft sorgten. Und wirklich: obgleich während der »Restauration« (Imperialisten gegen Shogùnisten, 1868) den Bäumen viel Schaden zugefügt wurde, obgleich die Bauern sich nicht scheuten, die heiligen Bäume oft gleich gruppenweise zu fällen, so waren diese doch so zahlreich und riesengroß, daß sie nicht vollends vernichtet werden konnten. Wir fahren durch den dunklen Schatten dieser düsteren Bäume – Totenbäume, wie unsere Zypressen; sie ziehen sich links und rechts mehr als zwanzig Kilometer lang hin und brauchen sich nicht auf die eine oder andere Art »ästhetischem« Zwange zu fügen und zu krümmen! Ihre schweren, ungeheuren Stämme recken sich gerade empor. Die Wurzeln haben sich da und dort aus der Erde losgelöst und wirken nun wie Schlangen und Drachen. Ihre dichten Nadeln flechten sich fest und schwarz ineinander, und der Schatten, den sie werfen, gleicht dunkler Gaze. Wenn auch die japanische Trauerfarbe weiß ist: für uns bleibt doch diese schwarze Schattengaze weit eher das Symbol der Trauer! Man hat einen außerordentlich starken Eindruck, wenn man an diesen Baumriesen vorbei unter diesem schwarzen Kuppeldach dahinfährt. Aber den Japanern selber wird, fürchte ich, diese dunkle Allee aus Riesenbäumen zu gespenstisch, zu düster, zu atembeklemmend erscheinen.
Hier und dort ist so ein Riesenbaum gefällt, und dann sind nur noch die schweren Wurzeln und der Stumpf sichtbar, – und darüber hinweg gewinnt man einen Blick auf Nikkos Berge, die in der Ferne sichtbar sind.
Wir fahren an der heiligen Roten Brücke vorüber, die einstmals nur den Shogùnen vorbehalten war. Diese Rote Brücke ist lackiert, genau so wie die schönen Präsentiertabletts in unserem Eßzimmer. Lackiert sind auch alle Pforten, alle Tempel, die wir sehen: genau so wie jene eben erwähnten Servierbretter! Scharlachfarben leuchten Tor und Brücke uns entgegen: sie sind schichtweise rot auf schwarz, oft auch rot auf gold lackiert.
Als wir im Hotel ankamen, begann es zu regnen. Es war eine düstere Abendstimmung: ringsum Berge, Pinien, Zedern, dunkle Nacht, Regen. Dann hörten wir eine Glocke, die große Hauptglocke des buddhistischen Tempels, die ganz in der Nähe die Stunde des Abendgebetes der Priester verkündigte. Der Klang war dumpf, eintönig, voll schweren Ernstes. Diese Glocken werden bekanntlich nicht geläutet, sondern mit einem wagrecht dagegen geführten Klöppel angeschlagen. Durch die finstere Nacht klang dieses dumpfe Geräusch, klangen die Gongschläge, und wir horchten in seltsam weihevoller Stimmung, von Ehrfurcht erfüllt, auf diesen Ruf zur Frömmigkeit, indes der Regen unablässig herniederströmte.
Bevor ich meine Leser nun in diese Gräberstadt führe, sind ein paar historische Angaben unerläßlich. Hier liegen Ieyasu (1524–1616) und sein Enkel Jemitsu (1604–1651) begraben, und mehr noch: hier werden sie wie Gottheiten verehrt. Ieyasu ist einer der größten Helden und Herrscher, die je das Shogùn-Zepter über Japan schwangen; er war der erste aus dem großen Geschlecht der Tokùgawas, das bis zur Wiederaufrichtung der Macht des Mikado die tatsächliche Regierungsgewalt behielt! Ieyasu diente anfangs unter dem nicht minder gewaltigen Hideyoshi, erklärte jedoch nach dessen Tode dem Enkel seines bisherigen Herrn, Hideyori, den Krieg, schlug seine ungeordneten Truppen, eroberte die große Feste Osaka und verbrannte Hideyoshis großen und fabelhaft schönen Palast in Monoyama. Seither hielt er die Macht in Händen, und der Mikado selber ward immer mehr zu einem bedeutungslosen Schatten.
Nachdem er die ganze Regierungsgewalt streng geregelt und gefestigt hatte, trat er – wie so viele japanische Herrscher! – zugunsten seines Sohnes zurück – von dem wir nicht viel wissen – und bereicherte die japanische Literatur um sein »politisches Testament«. Dieses »Testament des Ieyasu« ist vielleicht nicht ganz authentisch, bedeutet aber immerhin ein historisches Dokument aus Japans siebzehntem Jahrhundert.
Die Gräber also von Ieyasu und seinem Enkelsohn Iemitsu sind in Nikko zu sehen, und in unglaublich prächtigen Tempeln werden diese beiden Herrscher wie Götter angebetet.
Rasch noch ein paar bezeichnende Anekdoten. Unser Führer Kawamoto war beim Barbier gewesen, und der hatte ihn gefragt:
»Kommst du schon wieder mit Fremden, die unsere Tempel sehen wollen?«
»Und was ist denn dabei?« hatte unser Führer geantwortet.
»Diese heiligen Tempel sind nicht zum Ansehen!« hatte der Barbier erregt erwidert. »Sie sind dazu da, um die Götter, die gottgewordenen Geister des Ieyasu und Iemitsu zu ehren!«
Unser Führer verzichtete darauf, sich in weitere Diskussion einzulassen, weil er gerade unter dem Messer war. Aber am Mittag desselben Tages ging er, frisch rasiert und tadellos wie ein japanischer Gentleman gekleidet, zum Oberpriester der Tempel, bei dem er eine Audienz nachgesucht hatte.
»Und wie empfing Sie der Hohepriester, Kawamoto?« fragte ich interessiert. »Saß er auf einer Erhöhung, und knieten Sie nach zwölf Verbeugungen vor ihm nieder?«
»Die Sache war sehr einfach«, erwiderte Kawamoto. »Der Hohepriester, der ein weites, weißes Gewand und die schwarze Mütze aus Roßhaar trug – die ihm viel zu klein zu sein scheint, saß auf einem Stuhl. Ich verneigte mich mehrmals vor ihm, und darauf bat er mich, ebenfalls auf einem europäischen Stuhl Platz zu nehmen, und fragte, was ich wünsche.«
»Ich sagte ihm: ›Ein Herr und eine Dame, Holländer, die ich in Japan herumführe, haben durch ihren Gesandten in Tokio eine Empfehlung der zuständigen kaiserlichen Behörde erhalten, wonach es ihnen gestattet werden soll, in Nikko nicht nur sämtliche anderen Tempel und Gräber, sondern auch das Heiligtum der Heiligen zu sehen.‹«
Mir wurde ganz andächtig zumute: das Heiligtum der Heiligen – das Go-Nai-Naijin – das ist soviel wie das Allerheiligste, Allertiefste – war sonst für zehn Yen zu sehen; doch der Hohepriester war plötzlich sehr intransigent aufgetreten.
Kawamoto fuhr fort: »Er fragte mich, ob der Herr und die Dame das Heiligtum der Heiligen nur sehen, oder ob sie es auch dem Ritus gemäß verehren wollten? Da mußte ich antworten, daß ich fürchtete, sie würden diesen Ritus nicht befolgen wollen, da sie ja keine Shintoisten wären.
›Dann können sie das Heiligtum der Heiligen, das Allerheiligste und Allertiefste auch nicht sehen‹, entgegnete darauf der Hohepriester, während er das lange Empfehlungsschreiben langsam zusammenrollte und zurückreichte. ›Ebensowenig wie kürzlich der britische Prinz, der Prince of Wales, es hat sehen dürfen …‹«
Und Kawamoto erzählte mir, wie dem Prinzen von Wales, der mit einer großen Zahl von japanischen Ministern und hohen Beamten hierher gekommen, ziemlich ironisch dieselbe Frage vom Hohenpriester vorgelegt worden war:
»Kommen Königliche Hoheit nur, um das Go-Nai-Naijin zu sehen oder auch, um es dem Ritus entsprechend zu verehren?«
Wir müssen uns also bescheiden und auf die Besichtigung dessen verzichten, was nicht einmal einem britischen Prinzen gezeigt wurde …