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Mitsou an den blauen Leutnant
Ich sitze an meinem kleinen Schreibtisch. Aber ich habe mich nicht gleich hergesetzt und habe meinen Brief nicht, wie Sie es verlangten, ohne nachzudenken begonnen. Erstens liegt das meiner Natur nicht. Und dann muß man einem doch Zeit lassen, einen Brief zu lesen, ihn gut zu lesen, zu lächeln, sich zu schneuzen, die Augen zu wischen und zur Vernunft zu kommen. Ich bab's Ihnen ja auch schon einmal gesagt, ich kann nicht schnell schreiben. Übrigens haben Sie Ihren Brief auch nicht schnell geschrieben. Für einen plötzlich abkommandierten Offizier war er recht lang. Mein Liebster, das ist kein Vorwurf. Schieben Sie nicht gleich die Augenbrauen bis in die Mitte der Nase! Es ist kein Vorwurf, und ist doch einer. Ich frage mich, ob es mir nicht lieber gewesen wäre, wenn Sie geschrieben hätten: »Muß mit Hauptmann abreisen. Küsse.« Wie ein Telegramm, meine ich. Werden Sie nicht böse, ich bitte Sie! Lassen Sie mich zuerst sagen, was nicht gut ist, das Bessere kommt dann hinten nach. Sie reisen also ab, das ist abscheulich und noch schlimmer. Aber warum entschuldigen Sie sich deshalb? Es kommt mir vor, als ob Sie sich nicht entschuldigen, weil Sie abreisen, sondern weil Sie mich verlassen. »Ah!« werden Sie nun sagen, »diese Mitsou! Wie kann ich denn abreisen, ohne sie zu verlassen!« Oh, ja, das kann man! Es ist nur schwerer zu erklären, als zu verstehen … Mein Liebster, Sie müssen sich etwas merken – und das ist, daß ich Sie liebe. Oh, ich sage das nicht so, wie man ein Geschenk macht. Im Gegenteil! Mein armer Freund, ich liebe Sie. Aber ich gebe Ihnen die Erlaubnis, wenn Sie das lesen, auszurufen: »Na, das ist ja eine hübsche Geschichte!« Denn eine Frau, die liebt, die wird, selbst wenn sie auch nur ein kleines dummes Ding ist, wie ich, unerträglich, sie versteht, sie errät … Es geht einem mit ihr wie mit der Elektrizität, sobald der Strom eingeschaltet ist: vor einer Minute war da nichts weiter als eine Schnur und eine Glasbirne, und nun glüht mit einemmal ein Faden, der alles erleuchtet.
Eine gute Seite hat das Übel für Sie, und die ist, daß ich jetzt weiß, Sie können sich auf mich verlassen. Sie können sich in allem auf mich verlassen; ich werde auf Sie warten, wenn Sie wollen, daß ich auf Sie warte; ich werde erraten, was Sie sich zu sagen schämen; und wenn es Ihnen einfallen sollte, mir zu erklären: »Es ist aus mit uns beiden«, dann werde ich Ihnen zeigen, daß ich mich benehmen kann und kein Riechsalz und keinen Essig brauche.
Und noch eins: wenn Sie es gerne hätten, daß ich mir einen anderen Beruf suche, daß ich etwas lerne, daß ich mich in diesem oder jenem ändere, so werde ich das ebenfalls können – schon damit ich gescheiter zu reden verstehe und Sie sich besser mit mir unterhalten.
Nehmen Sie nun das Unglück, daß ich Sie liebe, nicht schon etwas leichter? Oh, ich hoffe es sehr! Ich fühle mich schon getröstet, denn nichts verbirgt mir mein Unglück, besonders Ihr Brief nicht. Mein lieber, sehr geliebter blauer Leutnant, es ist nicht schwer zu begreifen, daß Sie versuchen, mit beiden Beinen aus unserer gestrigen Begegnung herauszuspringen. Man kann nicht liebenswürdiger sein, als Sie es sind, wenn Sie über unsere vergangene Korrespondenz sprechen. Ein ungebildeter Kerl hätte mir geschrieben: »Ich war rasend in Dich verliebt, ehe ich Dich kannte, streichen wir die letzten vierundzwanzig Stunden und beginnen wir von neuem.« Aber wozu würde die Bildung dienen, wenn nicht dazu, das hübsch auf einer hübschen Platte zu servieren, was einem andere einfach ins Gesicht schleudern –
»Aha«, sagen Sie sich nun wohl, »aha, diese Mitsou ist beleidigt.« Ich bin nicht beleidigt, ich bin auch nicht verzweifelt, Liebster, und wenn man ein ganz klein wenig in mich dringt, so gestehe ich, daß ich mich jetzt schon viel wohler fühle als heute früh. Stellen Sie sich vor, heute früh, als Sie fort waren, fragte ich mich: »Wer wird mir wohl sagen, was er über mich denkt?« Selbstverständlich habe ich nicht gedacht, daß Sie mich darüber aufklären werden. In Ihrer Gesellschaft sagt man einer Frau nicht: »Du bist die Letzte der Letzten!« – man sagt: »Madame, meine ehrerbietige Hochachtung, ich geh' mir Zigaretten kaufen, warten Sie einen Augenblick«, und damit verläßt man sie fürs ganze Leben. Ich bin nicht die Letzte der Letzten, aber trotzdem habe ich recht große Angst gehabt, Sie nie mehr wiederzusehn, nicht einmal brieflich …
Nun, da die ersten harten Augenblicke vorüber sind, sehe ich, daß nicht viel Schlimmes geschehen ist. Ich sage mir: »Er schreibt mir ja, er erinnert sich meiner, er fragt mich etwas, er will etwas wissen …« Sie sollen alles wissen, mein Liebster. Sie müssen nur fragen. Ob mir ein Spaziergang am Tag lieber gewesen wäre als unsere nächste Nacht? Ich zögere nicht, zu antworten: »Ich hätte die Nacht gewählt.« Mein Liebster, die Nacht macht mich weniger verlegen, beschämt mich weniger. Ich werde mich niemals sehr klein vor Ihnen fühlen, wenn ich nackt bin und in Ihren Armen im Bett. Das Schrecklichste ist, daß wir wieder aufstehen müssen, und da zittere ich vor Ihnen. Alles, was Sie vergeblich von mir erhofft haben, während wir beisammen waren, habe ich von Ihnen gehabt. Ich habe mich noch immer nicht von dem Staunen darüber erholt, wie weich Ihre Haut ist, wie ernst Sie aussehen, wenn Sie schlafen, und daß Sie ohne Hemd im Bett liegen. Ich habe auch nicht gedacht, daß Sie so schöne Füße haben. Und dann habe ich geglaubt, daß ein so feiner junger Mann, der mit so vielen Umständen und Manieren im Restaurant ißt, in der Liebe alle möglichen Umwege machen wird. Aber nicht im geringsten! Wie ich gemerkt habe, daß Sie an nichts anderes denken, als mich ganz einfach und ganz und gar zu nehmen, ich kann es Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich da war. Und da wollen Sie, daß ich Sie nicht liebe?
Mein Liebster, das Schwierige für Sie war, von mir nicht geliebt zu werden. Das fast Unmögliche für mich ist, von Ihnen geliebt zu werden. Ich sage fast unmöglich, weil ich nun einmal so geartet bin, daß ich weder ein übergroßes Unglück noch ein übergroßes Glück hinnehme. »Viel zu vernünftig für ihr Alter, diese Mitsou«, sagen meine Kolleginnen. Wenn ich es nicht wäre, so hätte ich die letzte Nacht, als Sie schliefen, nicht so viel nachdenken müssen über Sie. Während Sie schliefen, liebster Freund, habe ich schon auf das Höchste, was Sie mir geben könnten, verzichtet. Aber nur aus Klugheit – denn ich hoffte, mir dadurch ein ganz klein wenig von Dir zu erhalten … Du findest mich wohl sehr demütig! Glaube nicht, daß ich bettle. Wenn Du antwortest »Adieu, Mitsou«, so werde ich daran nicht sterben. Ich habe ein recht hartes Herz, und man kann es mit Kummer ernähren. Ich glaube, ich bin ähnlich wie meine Kollegin Gitanette, die, wenn man sie über einen großen Verlust, den sie erlitten hat, trösten will, immer wieder antwortet: »Was nützte es mir schon, wenn ich meinen Kummer nicht mehr hätte? Dann hätte ich ja gar nichts mehr auf der Welt.«
Vorläufig hoffe ich beharrlich, daß Du mir mehr schenken wirst als Kummer. Als Du mich das erstemal sahst, stand ich auf der Bühne, wo ich drei Couplets sang, und in meinem Kopf waren nicht einmal ebenso viele Gedanken. Was Dir an mir gefallen hat, das hast Du in mich hineingelegt; aber ob es nun von Dir gekommen ist oder nicht, Wurzeln geschlagen hat es. Warst Du nicht gerührt, mich nach vier Monaten so gewachsen zu sehen? Schade nur, daß alle meine Knospen wieder zurückgegangen sind, sowie Du leibhaftig vor mir standest … Trotzdem, wenn eine Frau sich eine Liebe in den Kopf setzt, dann wächst sie schnell, blüht, nimmt Gestalt an, Farbe, so daß sie auch den Anspruchsvollsten bezaubern kann. Mein Liebster, ich will versuchen, das zu werden, was Du Dir erträumst. Das ist ein sehr großes, ehrgeiziges Ziel, mein lieber blauer Leutnant, und Sie haben mich ja gar nicht zu einem Spaziergang fürs ganze Leben eingeladen … Fangen wir also mit dem Leichtesten an – wenn Sie nicht allen Mut verloren haben, vergönnen Sie mir wieder, ich bitte Sie, den Schlaf an Ihrer Seite, schenken Sie mir die Überraschung, Ihnen so leicht in die Freude folgen zu können, gewähren Sie mir das Vertrauen und die gute Freundschaft Ihres Körpers: vielleicht führt mich das endlich eines Nachts ganz sachte bis zu Ihnen.
Mitsou