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Bei Mitsou. Sie erwartet ihn. Er muß seit Mittag in Paris sein; aber er hat seine Familie … Er hat Mitsou versprochen, zum Tee zu kommen. Sie erwartet ihn. Am Tage vorher hat sie einen englischen Tee- und Likörtisch gekauft, Portwein, drei Spitzenschürzen für das Stubenmädchen, Parfüms für hundertfünfundzwanzig Francs und einen Hut, und ist stundenlang bei der letzten Anprobe zweier Kleider gestanden. Und heute früh hat sie Blumen und Früchte besorgt.
Es ist fünf Uhr. Die neuen Parfüms glänzen braun und grün wie Kognak und Chartreuse in den Flaschen des Toilettetisches; der Cherry Brandy, der Portwein und der Kognak auf dem Likörtisch hingegen sehen aus wie Toilettewasser und wie flüssige Schminke, mit der sich Mitsou das Innere der Lippen, das Zahnfleisch und die Zunge röter färbt. Den Blumen ist heiß. Die Sonne, die langsam ihres Weges zieht, schickt einen Strahl auf die Kirschenschale, wirft einen goldenen Fleck auf das Tischtuch und berührt endlich die Schulter Mitsous, die seit langem in einem Lehnstuhl sitzt.
Mitsou plötzlich aufstehend: Es ist fünf Uhr. Ihre eigene Stimme schüchtert sie ein und sie wiederholt leiser: Es ist fünf Uhr.
Sie öffnet eine illustrierte Zeitung und schließt sie gleich wieder, denn die Blätter zittern in ihrer Hand. Sie versucht, das Zimmer der Länge und Breite nach zu durchschreiten, aber das Zimmer hat weder Länge noch Breite. Schließlich flüchtet sie zum Fenster hinter den Spitzenvorhang und fühlt, daß sie nun endlich den Platz gefunden hat, von dem sie sich nicht mehr wegrühren wird, bis … bis ein Wagen heranrollt, bis sie die Hupe und das Türschlagen eines Taxis hört, bis eine Klingel erzittert.
Sie trägt ein schwarzes Seidenkleid, am Hals smaragdgrün bestickt und mit kurzen Ärmeln, die – wie Petite Chose sagt – beim »Mageren« des Armes enden. Mitsou ist heute nicht sehr hübsch. Immerhin, ihre ungeschminkte Blässe, ihre langen, schweren Wimpern, ihr weiches Haar ebenfalls wie aus schwarzer Seide – und der altmodisch lange und vornehme Schwanenhals verleihen ihr den Ernst, den schwarz-weißen Zauber einer romantischen Heldin – aber welche romantische Heldin hätte ein so winziges Näschen?
Sie ist durstig und beißt sich auf die trockenen Lippen. Sie lehnt die Stirn gegen das halboffene Fenster, freut sich des leichten Luftzuges und meint, daß durch ihr Gehirn tausend wirre Gedanken ziehen; in Wirklichkeit denkt sie an nichts – sie wartet. Sie sieht auf die Straße, und manchmal wirft sie einen Blick auf ihre kleinen Schuhe mit den hohen Absätzen. Ab und zu huscht eine Sorge durch ihren leeren, beunruhigten Geist, verletzt ihn flüchtig und entschwindet gleich darauf wieder. ›Ich glaube, in meinem Strumpf ist eine Masche los. Ich hätte ein Aspirinpulver nehmen sollen … Wenn er keine Zeit hat, mit mir zu Abend zu essen? … Wenn ich Pierre im Restaurant treffe … Und wenn er mit mir heute abend nach Hause kommen will, was werde ich da sagen? … Ich hätte doch den schwarzen Hut nehmen sollen anstatt des schwarz-grünen … Es ist halb sechs … Vielleicht ist er verhindert …‹
Mit einemmal ist das Taxi da. Mitsou hat noch Zeit, eine Stimme zu hören, die dem Chauffeur streng befiehlt, ›drei Francs‹ zu nehmen. Zwei Türen öffnen und schließen sich. Er steht vor ihr und … erkennt sie nicht. Wenngleich er sie sich hundertmal vorgestellt hat – auf dem Hintergrund eines erleuchteten Himmels, einer mondlosen Nacht, einer lehmbraunen Erdmauer, eines bunten Traumgebildes – eine Mitsou im Straßenkleid, im Pyjama oder im Morgenkleid – er hat sie ja doch nur ein einziges Mal gesehen, wenig bekleidet, in Tüll und fraisefarbenen Strümpfen … Er ist überrascht und verlegen. Er ist gekommen, um ›Mitsou‹ zu schreien, die Arme zu öffnen und eine zarte Gestalt in einem Hauch von zerdrücktem Tüll an sich zu ziehen … Aber hübsch findet er sie und rührend, dieses schwarz gekleidete junge Mädchen, das ihm da die Hand reicht.
Mitsou aber hat ihn wiedererkannt, vom Kopf bis zu den Füßen. Sie ist weder überrascht, noch enttäuscht. Sie lächelt freudig, da sie bemerkt, daß die Haare ihres blauen Leutnants nicht so schwarz sind, wie sie geglaubt hatte; eher dunkelbraun, ein wenig rötlich im Nacken. Und sie sagt sofort, was sie sagen soll.
Er lächelt. Er küßt die kleine ausgestreckte Hand. Er ist rot geworden und getraut sich nicht, die runde weiße Wange zu küssen, deren silberner Flaum gepudert ist. Übrigens erwartet Mitsou auch gar keinen Kuß. Sie setzt sich, weist auf einen Stuhl ihr gegenüber und spricht …
Mitsou: Sind Sie gut gereist?
Der blaue Leutnant: Recht gut. Recht langsam natürlich. Schweigen.
Mitsou: Wollen Sie ein Glas Portwein?
Der blaue Leutnant: Wenn Sie mit mir trinken, ja bitte.
Mitsou zwei Gläser füllend: Die Zigaretten stehen neben Ihnen.
Der blaue Leutnant: Danke. Sie müssen aber auch rauchen.
Sie zündet sich eine Zigarette an und bläst den Rauch sehr weit von sich. Er trinkt. Sie trinkt. Sie stellt ihr Glas mit zitternder Hand nieder und zerbricht es.
Mitsou, als ob die Decke eingestürzt wäre: Ha!
Der blaue Leutnant sich erhebend: Ach, endlich. Auf diesen Ausruf habe ich gewartet. Er nimmt Mitsou in die Arme und küßt sie aufs Geratewohl.
Mitsou, nachdem er sie losgelassen hat: Es ist ein durchsichtiges Glas …
Der blaue Leutnant: Was, wie?
Mitsou heftig atmend: Das bringt Glück. Sie schmiegt sich wieder in die Arme des Leutnants. Küssen Sie mich weiter, bitte … Während Sie mich küssen, bin ich wenigstens nicht eingeschüchtert.
Der blaue Leutnant: Tu' ich nicht, was ich kann, um Ihnen Mut zu machen?
Es gelingt ihm, ihr Mut zu machen. Ihre eiskalten Händchen werden warm und weich, der zarte Körper, den er umfaßt, gibt nach und scheint sein Leben auszuhauchen. Mitsou hat die Augen geschlossen; der Leutnant: aber betrachtet aus nächster Nähe ihre schwarz umrahmten, gewölbten Lider, ihre freie Stirn und hinter ihr den mit Nippsachen gezierten Kamin …
Der blaue Leutnant für sich: Wenn ich nur einmal einen Augenblick allein bin, dann soll die Gipsstatuette dort unter meiner Hand zugrunde gehn …
Mitsou nach Atem ringend: Ach! … Sehr leise und ganz vorsichtig: Robert …
Er ist so entzückt, als ob sie ihm ein Geschenk gemacht hätte. Sie hat ihn noch nie Robert genannt.
Robert leise: Ja, Mitsou, ich bin es.
Der Flüsterton macht beide zuversichtlicher; sie sind den Klang ihrer Stimmen noch nicht gewohnt.
Mitsou: Also, da sind Sie!
Robert: …
Mitsou: Essen Sie mit mir zu Abend?
Robert …:
Mitsou: Aber nicht hier.
Robert zur Wirklichkeit erwachend: Warum nicht hier?
Mitsou verlegen: Weil nämlich … er runzelt auf alle Fälle die Stirn, und sie beeilt sich zu lügen – weil nämlich das Essen bei mir für Sie nicht gut genug ist. Bei mir wird nichts Feines gekocht.
Robert entrüstet: Aber, Mitsou! Sind Sie denn keine Feinschmeckerin?
Mitsou: O doch … Aber Kuchen und Süßigkeiten gibt's ja heutzutage nirgends.
Robert: Es gibt aber noch andere gute Dinge, nicht nur Kuchen! Also was werden wir heute abend essen? Kommen Sie einmal hierher auf meine Knie und schaffen Sie an. Warmen Hummer? Huhn mit Pilzen?
Mitsou verächtlich: Nein … Ich möchte kalten Lachs mit sehr viel Mayonnaise. Und dann vielleicht Kalbsbries … das ist mir gleichgültig … Das Dumme ist, daß wir früh essen müssen, wegen der Revue.
Robert: Ist es noch immer dieselbe Revue?
Mitsou: Nein, eine neue seit Freitag.
Robert: Haben Sie große Rollen?
Mitsou: Das glaub' ich! Ich habe: ›Das Bauchdekolleté‹, ›die Freiheit, die die Welt erleuchtet‹, ohne Trikot, und ›die Kleine aus dem sechzehnten …‹
Robert: Aus dem sechzehnten Jahrhundert?
Mitsou: Nein, aus dem sechzehnten Bezirk, eine von denen, die in der Nähe des amerikanischen Lagerplatzes wohnen und die sich – Sie können sich schon vorstellen womit – beschäftigen.
Robert träumerisch: Seltsame Sitten …
Schweigen. Er vergißt, Mitsou zu küssen, und blickt sich um. Der chirurgische Toilettetisch hypnotisiert ihn. Er hat Lust, Mitsou mit bedauerndem Interesse zu fragen: ›Wie ist Ihnen das geschehn‹, denn er kann nicht glauben, daß sie ein derartiges Möbel auf dem Gewissen hat …
Mitsou: Er ist originell, nicht?
Robert: Wer, Mitsou?
Mitsou: Mein Toilettetisch. Ein junger Künstler hat ihn ausgeführt, er hat nur einen einzigen solchen gemacht, und dann ist er gestorben.
Robert: Recht spät.
Mitsou: Wieso recht spät? Er soll erst dreißig gewesen sein.
Robert: Nein, ich habe mich versprochen, ich wollte sagen: zu spät.
Mitsou in ahnungsloser Harmlosigkeit: Aber, wenn ich Ihnen erkläre …
Robert: Erklären Sie mir nichts, Liebste!
Mitsou mit Begeisterung: Oh, ich bin so froh, Sie hier zu haben. Sie müssen wissen, hier sind Sie bei mir, das ist mein Zuhaus. Haben Sie meine Vitrine gesehn? Und den Damastlehnstuhl – gefällt er Ihnen? Setzen Sie sich einmal auf seine Federn und lassen Sie sich schwingen … Und die Radierungen, sie sind alt, alt, etwas Älteres gibt es überhaupt nicht mehr! Sehn Sie?
Robert in mildem Ton vor sich hin: Ja, ich sehe. Man wird das alles verbrennen müssen.
Mitsou: Alles verbrennen?
Sie blickt ihn an und er redet nicht weiter. Sie hat eine Art, jegliche Ironie zu entwaffnen: wenn sie etwas nicht versteht, schweigt sie und öffnet die großen, geduldigen Augen so weit, daß die geschwungenen Spitzen der Wimpern die Brauen berühren.
Robert gerührt: Geliebte Mitsou!
Er zieht sie an sich und fühlt in diesem Augenblick wirkliche Zärtlichkeit für sie, weil er eben nahe daran war, sie zu verletzen.
Mitsou schmachtend: Ach … also … Was wollen wir nun tun?
Er hat diese Frage nicht erwartet. Aber seine Hände gleiten von ihren Schultern die Arme und die Hüften mit so festem Druck hinab, als ob er den gefügigen jungen Körper nicht streicheln, sondern kneten, neu erschaffen wollte …
Mitsou erwachend: Nein, o nein … ich sagte das nur, weil es schon spät ist …
Robert: Ich esse mit Ihnen zu Abend, Mitsou, wenn Sie mir die Ehre geben wollen.
Mitsou sehr ernst und so wie sie es fühlt: Die Ehre ist ganz auf meiner Seite.
Er senkt die Augen, errötet leicht unter seiner schönen, sonnverbrannten Haut, wie jedesmal, wenn Mitsou mühelos das übertrifft, was er von ihr erhoffte.
Robert: Ich begleite Sie in Ihr Theater, das eine Music Hall ist …
Mitsou ängstlich: Ja …
Robert: Und dann … Sie schweigt. Und dann begleite ich Sie bis an Ihre Tür … Mitsous Augen bekommen einen leuchtenden, feuchten Glanz, und von einem ein wenig sadistischen Mitleid getrieben, beeilt er sich, hinzuzufügen … bis an ihre Tür und dann, Mitsou, werde ich Ihnen im Vertrauen sagen: ›Mitsou, der alte Diener meiner Mutter schläft sehr fest und hört das Läuten nicht, es könnte mir geschehn, daß ich die Nacht auf dem Flur verbringen muß, wenn …‹
Er hält inne. Keiner von beiden hat Lust zu lächeln, und Mitsou senkt die Augen nicht. Ihr Blick ist so wenig der einer Frau und einer Liebenden, er enthält so viele Entschlossenheit, so viel Fatalismus und so wenig Hoffnung, daß das junge Herz des Mannes noch einmal von Mitleid und von etwas wie Ehrerbietung ergriffen wird. Er schwingt sich zur Einfalt Mitsous empor …
Robert: Mitsou, wollen Sie mich?
Mitsou: O ja, mit größtem Vergnügen.
Und er wundert sich, wie diese abgedroschene Wendung, durch eine fast fromme Stimme verjüngt, auf taktvolle Weise darüber hinweghilft, daß es sich zwischen ihnen um eine Liebesgeschichte handelt.