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Einundsechzigstes Kapitel.

So entschwanden zwanzig Tage – die glücklichsten in meinem ganzen Leben. Abgesehen von dem Zauber, welchen die Liebe den Geliebten verleiht, wurde Lilian namentlich durch ihre Unterhaltung zu einer entzückenden Gesellschafterin. Lag es in dem Umstand, daß bei dem Ausruhen von den Anstrengungen meines Berufs mein Geist sich besser in ihre anmuthige Phantasie fügen konnte, oder daß diese in Mitte der ländlichen Scenen, welche in ihrer romantischen Lieblichkeit eher den ihr vorschwebenden Idealen entsprachen, als der kleine Garten in der Nähe des Gewühls und Lärmens einer geschäftigen Stadt, weniger unklar und träumerisch war – in Vielem, was ich früher als eine Verirrung einer ungezügelten Einbildungskraft leichthin behandelt oder gering geachtet hatte, erkannte ich jetzt das Spiel und die Funken eines beschaulichen Genius, der dem unterrichteten Denker manche dunkle Tiefe aufschloß. Manche Charaktere verhalten sich wie die edleren, geistigeren Dichter – um sie würdigen zu können, muß man heraustreten aus der Bahn des künstlichen Lebens. In der Stadt nennen wir solche Personen Träumer, auf der Höhe eines Berges werden sie für uns zu Auslegern.

Bei Lilian war die Sympathie für die Natur nicht wie bei Margrave die Wirkung der Lust über eine von der Natur verschwenderisch verliehene Lebenskraft, sondern eine Folge der feinen Auffassung des göttlicheren Geistes, von dem diese Lebenskraft beseelt ist. So zog sie denn dem Künstler gleich aus den äußeren Formen der Schönheit die verborgenen Typen, welche dem gewöhnlichsten Gegenstande eine zuvor nie geahnete hohe Bedeutung verleihen. Ein weiser Kritiker der Vorzeit hat die richtige Bemerkung gemacht, daß es ein Attribut der Kunst sei, unendlich mehr ahnen zu lassen, als sie ausdrückt, und solche leichte Andeutungen, die aus der innersten Gedankenwelt des Künstlers in dafür empfängliche Gemüther übergehen, wogen weiter und weiter in dem endlosen Ocean der Ideen, wie die von einem Ruderschlag in Bewegung gesetzte mondhelle Welle der Reihe nach einen lichten Kreis um den andern, immer weiter sich ausdehnend, hervorruft.

So glitten die Tage dahin bis zum Vorabend unseres Hochzeitmorgens. Wir hatten uns vorgenommen, nach Vollzug der Feierlichkeit, welche mit Licenz in einer nahegelegenen, an die früheren Güter meines Vaters grenzenden Dorfkirche begangen werden sollte, einen kurzen Ausflug nach Schottland zu machen, Frau Ashleigh aber in dem kleinen Gasthaus zu lassen, bis wir wieder zurückkämen.

Ich befand mich auf meinem Zimmer, um die Briefe einiger ängstlicher Patienten zu beantworten, und nachdem ich mit diesem Geschäft fertig, sah ich mich in meinem Koffer nach einem Wegweiser für den Norden um, den ich mitgebracht hatte. Da kam mir Margrave's Stab in die Hand. Ich erinnerte mich des seltsamen Bebens, das sich meiner bemächtigte, als ich ihn zum letztenmal aufgegriffen, und beschloß, bei ruhigem Blut ihn näher zu untersuchen, um etwa der Ursache jener eigenthümlichen Empfindung auf den Grund zu kommen. Es war jetzt nicht Nacht, also keine Zeit, in welcher die Einbildungskraft den Eindrücken der Leichtgläubigkeit besonders zugänglich ist; auch befand ich mich nicht in einem aufgeregten Gemüthszustand, der gleichfalls die Wirkung solcher Eindrücke begünstigt. Die Sonne senkte sich langsam gegen den Horizont der herrlichen Landschaft, die Luft war kühl und heiter, mein Geist gesammelt und mein Herz sowohl, als mein Gewissen im Frieden. Ich umfing den Stab wie früher mit meiner Handfläche, fühlte, wie letztere von dem feinen Draht innen leicht berührt wurde, und verspürte abermals das Beben. Diesmal fuhr ich nicht zurück, sondern hielt den Stab fest und suchte bedächtig die von dem Kontakt ausgehenden Empfindungen mir klar zu machen. Das erste war ein Gefühl gesteigerter Lebenskraft, eine gewisse Heiterkeit, Elasticität und Kraft, wie sie etwa ein kräftiges Excitans bei einem geschwächten Menschen hervorbringt. Alle Kräfte meines Leibes schienen erfrischt und verdoppelt zu sein; und da solche Wirkungen auf den Körper gewöhnlich von entsprechenden auf den Geist begleitet werden, so entwickelte sich bei mir auch ein gewisser stolzer, trotziger, selbstgefälliger Aufschwung. Alle Furcht schien aus meinen Gedanken ausgetilgt zu sein als eine Schwäche, die sich nicht vertrug mit der Größe und Macht des geistigen Menschen; es kam mir vor, als sei es eine königliche Lust, die Erde und ihre Meinungen zu verachten und der Hölle und ihren Gespenstern Trotz zu bieten. Schnell steigerte sich diese neugeborene Anmaßung zu einem unbestimmten aber kühnen Verlangen; ich gedachte der abenteuerlichen Erscheinungen, die sich mit dem Bilde Margraves verknüpften, und sagte halblaut: »Wenn ein an Willensfestigkeit und Denkkraft so tief unter mir stehendes Geschöpf der Natur so wunderbare Vortheile abzwingen kann, was muß nicht erst ich, der geduldige beharrliche Forscher ihr zu entringen im Stande sein? Wie, wenn es wirklich um uns her Geister gäbe, die dem gewöhnlichen Auge unsichtbar sind, aber sich doch unserem Willen unterwerfen lassen – wenn dieser Stab mit einer verborgenen Flüssigkeit geladen wäre, welche durch die ganze Schöpfung sich verbreitet und so bewältigt werden kann, daß sie einen Verkehr herstellt, wo immer Leben und Denken Wesen, die leben und denken, zu erreichen vermag? So würden wohl die Mystiker des Alterthums erklären, was mich verwirrt. Und ist es denn so ausgemacht, daß diese Mystik nur Selbsttäuschung oder Betrug war? Dieser leichte Stab, so leicht in meiner Hand wie eine Gerte, war also das Werkzeug, vermittelst dessen Margrave seinen unwiderstehlichen Willen durch Luft und Raum entsandte – vermittelst dessen ich selbst ihn schlagen konnte, so daß seine Tigerwuth sich zu der Hülflosigkeit eines ohnmächtigen Menschen umwandelte! Kann es auch auf diese Entfernung ihm gebieten und, wenn er jetzt auf Unheil sinnt, ihn entwaffnen und seine Anschläge vereiteln?« Während diese Gedanken unwillkührlich mir durch den Kopf gingen, streckte ich den Stab mit dem festen Wunsche aus, sein Einfluß möchte Margrave erreichen und ihm gebieten. Und da ich nicht wußte, wo er sich aufhielt – es kam mir nämlich die dunkle Vorstellung, wenn der Stab seine vermeintliche Wirkung in entfernte Räume und nach einem bestimmten Ziel hintragen solle, so müsse er dem letzteren wirklich zugekehrt sein – so machte ich langsam mit demselben eine Kreisbewegung um mich her, in der nothwendig ein Punkt der beabsichtigten Richtung entsprechen mußte. Ich hatte jedoch den Kreis kaum zur Hälfte beschrieben, als der Stab von selbst inne hielt und der Weiterbewegung einen fühlbaren Widerstand entgegensetzte. Hatte ich also die Stelle gefunden, nach der hin mein Wille ihn lenkte, und gehorchte er diesem meinem Willen in Folge einer magnetischen Beziehung, die noch von keiner anerkannten Wissenschaft begriffen wurde? Ich weiß dies nicht, hatte aber kaum einige Sekunden den Stab in solcher Weise festgehalten, als die kalte Luft, deren ich mich so wohl erinnerte, an mir vorbeistrich und meine Haare sträuben machte; zu gleicher Zeit zeigte sich an der Wand mir gegenüber die verhaßte Scin-Läca. Der Schatten war trüber, als bei seinen früheren Erscheinungen, und der Umriß des Gesichts unbestimmter; gleichwohl konnte ich die Lemure oder das Bild Margraves nicht verkennen.

Und eine Stimme wurde meinen Sinnen zugeführt, die wie aus großer Entfernung in erschöpftem aber zornigem Tone sprach:

»Du hast mich gerufen! Warum?«

Ich bezwang den schreckhaften Schauder, der mich überlaufen hatte, als ich zum erstenmal den Schatten sah und die Stimme hörte.

»Ich habe dich nicht gerufen,« sagte ich, »sondern wollte dir bloß verbieten, daß du mit deinen gespenstischen Einflüssen ferner mich und die Meinigen verfolgest. Kraft der Macht, welche dieser Stab mir verleiht, vernimmst du jetzt in dieser Beziehung meinen Befehl.«

»Eitler Thor; es ist nur ein Schatten, an den du deinen Befehl richtest. Meinen Körper hast du in Schlaf gewiegt, und er weiß nicht, daß der Schatten hier ist; auch trägt das Gehirn keine Erinnerung an die Worte, die du sprichst oder die du hörst, in den wachen Zustand hinüber.«

»Was ist denn dieser Schatten, den der Körper nachbildet? Ist es das, was man gemeiniglich Seele nennt?«

»Nein; die Seele ist kein Schatten.«

»Was denn?«

»Frage mich nicht. Benütze deinen Stab und rufe höhere Intelligenzen als die meinige auf.«

»Wie?«

»Das sage ich dir nicht. Du kannst es selbst lernen, wenn dein stolzer Wille und dein Verlangen den Stab leitet. Aber in den Händen dessen, der die Kunst nicht versteht, hat der Stab seine Gefahren. Noch einmal, sprich, warum bin ich herbeschieden? Aus welchem Grunde?«

»Lügenhafter Schatten, ich habe dich nicht gerufen.«

»So würdest du auch zu den Dämonen sagen, im Fall sie heranstürmten in ihrem schrecklichen Zorn, wenn der Stümper ohne Kenntniß von den Triebfedern, die er in Bewegung setzt, sie unversehens herauf beschwört und weder Gewalt über sie üben, noch sie vertreiben kann. Weniger rachsüchtig als sie lasse ich dich unbeschädigt und entweiche.«

»Halt! Wenn, wie du sagst, kein Befehl, den ich an dich richte, weil du nur ein Bild, ein Schatten bist, Einfluß hat auf den Körper und den Geist des Wesens, das du nachbildest, so kannst du mir doch sagen, was in seinem Gehirn vorgeht. Trägt es sich jetzt mit Entwürfen gegen mich durch das Weib, das ich liebe? Antworte der Wahrheit gemäß.«

»Ich antworte für den Schläfer, von dem ich mehr bin, als ein Abbild, obgleich nur der Schatten. Seine Gedanken sind diese: ›Ich weiß, Allen Fenwick, daß in dir die Eigenschaft liegt, deren ich bedarf zu Erreichung des von mir angestrebten Zweckes. Durch das Weib, das du liebst, hoffe ich dich zu unterwerfen. Ein Leid, das dir in die Seele fressen wird, ist nahe: wenn es über dich hereinbricht, wirst du mich willkommen heißen. Auf mir allein steht dann deine Hoffnung – durch mich allein wirst du den Ausweg aus deinem Leide finden. Ich stelle meine Bedingungen, und sie werden dich zu meinem Werkzeug und Sklaven machen!‹«

Der Schatten wurde matter – und war verschwunden. Ich suchte ihn nicht zurückzuhalten und würde, wenn ich es auch gewollt hätte, nicht gewußt haben, wie ich es angreifen sollte. Aber eine neue Idee kam mir jetzt. Dieser Schatten, der mich einst so entsetzt und Gewalt über mich geübt hatte, war also seinem eigenen Geständniß zufolge nichts weiter als ein Schatten! Er hatte von höheren Intelligenzen gesprochen, von denen ich erfahren würde, was er mir nicht enthüllen konnte. Während ich den Stab fester und fester in meiner Hand hielt, wurden meine Gedanken großartiger und kühner. Konnte er wohl jene höheren Wesen, auf die so dunkel angespielt worden war, mir vorführen? Ganz von dieser Vorstellung erfüllt, hielt ich den Stab gegen den Raum hinaus, dessen endloses Blau von dem Rahmen des Fensters umfaßt wurde; er leistete meiner Hand keinen Widerstand mehr.

Einige Augenblicke fühlte ich den Boden des Zimmers unter mir zittern. Die Luft verdunkelte sich, und außerhalb des Fensters schien eine dunstige Nebelwolke von dem Boden aufzusteigen. Ein Grauen, unendlich mächtiger und feierlicher als das bei dem ersten Erscheinen der Scin-Läca, rieselte mir durch die Adern und brachte sogar den Schlag meines Herzens zum Stillstand.

In diesem Augenblick vernahm ich von Außen die Stimme Lilians. Sie sang ein einfaches frommes Lied, das mich in meiner Kindheit meine Mutter gelehrt und das ich am Abend vorher ihr vorgesagt hatte. Der Gesang klang leise und kam mir wie eine warnende Engelstimme vor. In Folge eines unwiderstehlichen Antriebs warf ich den Stab zu Boden und beugte mein Haupt wie zur Zeit, da mein kindlicher Sinn mit Leichtigkeit noch erhabenere Geheimnisse als diejenige begriff, welche mich jetzt verwirrten. Langsam erhob ich die Augen und schaute umher. Die Nebelwolke war verschwunden oder in den flüchtigen rosigen Tinten aufgegangen, welche den Abglanz der niedergegangenen Sonne wiederspiegelten.

Dann folgte, wie es nach übermäßigen Aufregungen zu gehen pflegt, auf das Gefühl der Anmaßung und Vermessenheit, das diese wilden, nur halbbewußten Beschwörungen hervorgerufen, als Reaktion eine tiefe Demüthigung und ahnungsvolle Furcht.

»Wie?« sagte ich zu mir selbst; »haben sich alle die gesunden Entschließungen, die mein Verstand aus Julius Fabers weisen Worten schöpfte, in dem Trümmerwerk wilder, zerfließender Hirngespinnste aufgelöst? Ist dies mein gepriesener Verstand, das Wissen, auf das ich mir so viel zu gut that? Ich – ich, Allen Fenwick, nicht nur ein blinder Gläubiger, sondern sogar der stümperhafte Ausüber einer schlimmen Magie! Zugegeben, was immerhin möglich, wenn auch unbegreiflich ist – zugegeben, daß in diesem fluchwürdigen Werkzeug eines alten Aberglaubens einige wirkliche, seien es chemische, magnetische oder andere Kräfte liegen, welche die Einbildungskraft in einem Grade wecken, entzünden und verblenden, daß sie die Dinge schafft, die ich gesehen, in Tönen spricht, wie ich sie gehört habe – Alles dies zugegeben, soll ich einen beharrlichen Versucher, der mir den Verstand wegstiehlt und meine Sinne bethört, stets in meiner Nähe und in der Gewalt meines Willens behalten? Oder wenn ich andererseits meinen Geist zu Anerkennung dessen zwinge, was alle nüchternen Menschen verwerfen müssen – wenn ich alle meine Schule bei Seite werfe und glaube, daß in dem, was ich eben erfahren, kein Blendwerk liegt, sondern die Zauberei eine Thatsache ist und es eine Dämonenwelt gibt, deren Thore durch einen von einem Sterblichen geschmiedeten Schlüssel geöffnet werden können – wer als ein Heiliger wird dann nicht zurückschrecken vor dem Gebrauch einer Gewalt, die für jeden flüchtigen bösen Gedanken sogleich einen ausführenden Teufel zur Verfügung stellt? So wie so – wenn ich diese unheimliche Reliquie veralteter Künste bei mir behalte, bin ich stets umspukt, in Gefahr, um meine Sinne betrogen zu werden, und ungeeignet für die nutzbaren Zwecke des Lebens. Wenn mir, wie mein Ohr oder meine Phantasie mir in Aussicht stellt, ein Leid, ein menschliches Leid bevorsteht, soll ich in der Ungeduld über seinen Stachel meine Zuflucht nehmen können zu einer Hülfe, welche, wie dieselbe Stimme erklärt, mich zu einem Werkzeug und Sklaven macht? – zum Werkzeug und Sklaven eines Geschöpfs, in dem ich einen Feind zu fürchten habe? Fort mit diesem Alp – und hinweg mit dem Ding, das in meinem Gehirn solche quälende Traumgestalten hervorruft!«

Ich stand auf, nahm den Stab und hielt ihn so, daß seine Höhlung nicht mit meiner Handfläche in Berührung kam. Dann schlich ich mich hinten zum Haus hinaus, um Lilian nicht zu begegnen, deren Stimme ich noch immer hörte, wie sie im Hof vorne sang. Ich kam zu einer Bucht, in der ein Nachen angelegt war, machte die Kette los, ruderte nach dem tiefsten Theil des Sees hin und ließ das Zaubergeräth in die Wellen fallen. Es sank sogleich unter; keine Blase stieg aus der Tiefe auf, und nur einige schwache Ringe liefen von der Einsenkungsstelle aus. Als der Kahn weiter glitt, spiegelte sich ein Stern an dem Punkte, wo das ruhige Wasser sich über dem schlimmen Versucher geschlossen hatte.

Leichten Herzens sprang ich wieder ans Ufer, eilte zu Lilian, die noch immer auf dem silberhell beleuchteten Rasen stand, und drückte sie an meine Brust.

»Geist meines Lebens!« flüsterte ich; »ich bedarf keines anderen Zaubers, als des Deinigen! Er macht mir die Schöpfung schön und heiligt sie. Vom Rand des gegenwärtigen Augenblicks aus können wir freilich nicht in die endlose Zukunft schauen – aber welches Leid uns auch in unserem Wonnetraum treffen mag, wenn es nur Dich mir nicht raubt, so wird sich ein Balsam finden für jede Wunde. Liebe mich immer wie jetzt, meine Lilian; Treue um Treue, Seite an Seite, bis zum Grab!«

»Und über das Grab hinaus,« entgegnete Lilian in weichem Tone.


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