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Während der geschäftigen Jahre meiner Berufslaufbahn hatte ich immer noch Muße erübrigt, um wissenschaftliche Abhandlungen niederzuschreiben, die mehr oder weniger Aufsehen erregten. Eine davon unter dem Titel » das Lebensprincip, sein Verbrauch und sein Ersatz« fand auch unter dem nicht ärztlichen Publikum einen ausgedehnten Leserkreis. Die genannte Schrift enthielt die Ergebnisse gewisser, damals in der Chemie noch neuer Versuche, aus denen ich für die Ernährung des menschlichen Organismus Folgerungen nach denselben Grundsätzen zog, auf die Liebig die Kräftigung eines ausgenützten Bodens baut; das heißt: ich schlug vor, dem Leib als wesentliche Elemente der Ernährung die Stoffe wieder zu geben, die er durch seine Thätigkeit verbraucht oder durch Zufälligkeiten verloren hat – mit anderen Worten, ich forderte den speciellen Nährapparat, respektive die Kräftigung, deren der individuelle Organismus constitutionell bedarf, und eine Neutralisirung und Ausgleichung des im Uebermaß Vorhandenen – eine Theorie, auf welche in neuester Zeit einige vielberufene Aerzte sich mit ausgezeichnetem Erfolg gestützt haben. Ich legte auf diese Arbeiten, da sie eben flüchtig waren und nur Andeutungen, keine durchgearbeiteten Sätze enthielten, keinen Werth, da während der letzten zwei Jahre mich ein Werk von weit umfassenderem Umfang, ein von höherem Ehrgeiz eingegebenes Unternehmen beschäftigte, von dem ich mir den nachhaltigen Ruf eines streng wissenschaftlichen, nicht auf Vorgänger bauenden Physiologen versprach. Ich wollte nämlich das organische Leben nach dem Vorgang des deutschen Johannes Müller in ähnlicher umfassender Uebersichtlichkeit beleuchten – leider nur ein schwaches Trachten, die Gedankentiefe und Gelehrsamkeit eines großen Geistes zu erreichen, welcher die Speculation erhaben macht und sich weit ausschwingt über den Gang der gewöhnlichen Reflexion. Damals wurde ich freilich getragen von dem Gewicht meines Thema's, und ich bewunderte meine Leistung, weil ich die Arbeit mit Liebe besorgte. Während der Aufregung des letzten Monats war dieses Geschäft völlig bei Seite gelegt worden; nun aber Lilian fort war, nahm ich es allen Ernstes wieder auf als die einzige Thätigkeit, die Reiz und Macht genug besaß, mich den Verlust, die schmerzliche Leere, weniger empfinden zu lassen.
An dem Abend nach ihrer Abreise nahm ich mein Manuscript wieder vor, das ich in dem Anfang eines Kapitels über »Erkenntniß, von den Sinnen abgeleitet« abgebrochen hatte. Da meine Ueberzeugungen über diesen Gegenstand sich auf die wohlbekannten Sätze Locke's und Condillac's gegen angeborene Vorstellungen und auf die Speculationen gründete, durch welche Hume die Verbindung der Empfindungen zu einer allgemeinen Vorstellung auf einen bloß der Gewohnheit entspringenden Impuls zurückführt, so schickte ich mich zu einer Verwahrung gegen das gefährliche Zugeständniß an die Sentimentalität oder den Mysticismus einer Pseudophilosophie an, indem ich Widerspruch erhob gegen die Lehre, welche bei den meisten unserer neueren Physiologen Beifall findet und dem Wesen nach von den ausgezeichnetsten deutschen Metaphysikern angenommen, obschon ihrer positiven Form nach feiner aufgefaßt worden ist – ich meine die Lehre, welcher Müller selbst in folgenden Worten Ausdruck gab:
»Daß es angeborene Vorstellungen geben kann, läßt sich nicht im mindesten bezweifeln, indem dafür thatsächliche Beweise vorhanden sind. Alle die Vorstellungen der Thiere, welche aus dem Instinkt hervorgehen, sind angeboren und unmittelbar. Es vergegenwärtigt sich etwas der Seele, der Wunsch, etwas zu erreichen, was zu gleicher Zeit gegeben ist. Das neugeborene Lamm, das Fohlen hat solche angeborene Vorstellungen, durch die es bewogen wird, der Mutter zu folgen und an ihrer Zitze zu saugen. Trifft dies nicht einigermaßen auch bei den intellektuellen Vorstellungen des Menschen zu?« Müller, Handbuch der Physiologie, II. Theil.
Auf diese Frage antwortete ich mit einem entrüsteten »Nein.« Ein »Ja« würde meinen Glauben an den Materialismus in den Wind zerstreut haben. Ich schrieb rasch und mit Eifer fort, definirte die Eigenthümlichkeiten und steckte die Grenzen der Naturgesetze ab, über die meiner Meinung nach selbst kein Gott hinausgreifen konnte. So klemperte und löthete ich in den Kettengliedern meiner Flicklogik Dogma an Dogma, bis aus meinen Blättern zu meinem großen Wohlgefallen der intellektuelle Mensch als das reine Gebild seiner materiellen Sinne herausgewachsen war; aus ihnen allein ging der Geist oder die sogenannte Seele hervor und zog Nahrung aus ihnen; durch sie wurde die Thätigkeit bedingt, und mit der sich bewegenden Maschine ging auch der Geist unter. Seltsam, daß zu derselben Zeit, in welcher meine Liebe für Lilian mich hätte lehren können, es gebe in der Tiefe der Gefühle Geheimnisse, welche meine Analyse der Vorstellungen nicht zu lösen vermochte, ich allem Geistigen so starrsinnig entgegenzutreten im Stande war. Seltsam, daß ich zu einer Zeit, nachdem kurz vorher mich der Gedanke an den zeitlichen Verlust eines Wesens, das ich nur einen Monat kannte, so tief erschüttert hatte, so selbstgefällig hinsitzen konnte, um den Beweis zu führen, daß ich nach den Gesetzen der Natur, denen meine Leidenschaft unterthan war, für die Ewigkeit das Glück verlieren müsse, welches ich für meine Lebenszeit gewonnen zu haben hoffte. Doch wie sehr verschieden ist nicht das Benehmen des Menschen von seinen Theorieen. Betrachten wir den Dichter, der im Waldesschatten Oden an die Geliebte dichtet, und folgen wir ihm hinaus in die wirkliche Welt, in der für ihn nie eine Geliebte gelebt hat! Cowley, der so schöne Liebesgedichte schrieb, soll nur ein einziges Mal wirklich verliebt gewesen sein, aber nie den Muth gehabt haben, dem Gegenstand seiner Leidenschaft seine Gefühle zu gestehen. – Johnson's Leben der Dichter: Cowley. Sieh den ernsten Mann der Wissenschaft, wie abgeschlossen er sich in seine leidenschaftlosen Probleme vertieft, und folge ihm dann dahin, wo sein Hirn ausruht von der Arbeit und das Herz seinen Sabbath findet – welches Kind ist so zärtlich, so schmiegsam, so weich?
Aber ich hatte zu meiner großen Befriedigung bewiesen, daß der Dichter und der Gelehrte weiter nichts ist als Staub, sobald sein Puls zu schlagen aufgehört hat. Und nach diesem trostreichen Schluß hielt meine Feder inne.
Plötzlich hörte ich deutlich neben mir einen Seufzer – einen mitleidigen, wehmüthigen Seufzer. Der Laut war unverkennbar. Ich fuhr von meinem Sitz auf, sah mich um und war erstaunt, daß ich nirgends ein lebendes Wesen entdecken konnte. Die Fenster waren geschlossen – draußen lautlose Nacht. Das Seufzen konnte also nicht vom Wind herrühren. Aber was war dort – in der dunklen Ecke des Zimmers? Ein silbernes Weiß, unbestimmt die Umrisse einer menschlichen Gestalt zeigend, die zurückwich, undeutlicher wurde und mit einemmal verschwunden war! Ich weiß nicht warum – denn ich konnte kein Gesicht, keine bestimmte Form, sondern nur im Allgemeinen einen farblosen Umriß unterscheiden – ich weiß nicht, warum, aber ich rief laut hinaus: »Lilian! Lilian!« Meine Stimme hallte seltsam in meinem Ohr wieder. Ich hielt inne, lächelte und erröthete ob meiner Thorheit. »So habe auch ich erfahren, was Aberglauben ist,« murmelte ich vor mich hin. »Da habe ich denn ein selbsterlebtes Geschichtchen, dergleichen Müller uns unverholen mittheilt, wenn er von den Illusionen spricht, die bei geschlossenen Augen vor ihn hintraten – ein Geschichtchen, das ich anführen kann, wenn ich an das Kapitel: Von dem Sinnentrug, den Hallucinationen und den Gespenstererscheinungen komme.« Ich kehrte zu meinem Manuscript zurück und schrieb fort, bis meine Lichter im Grau der Morgendämmerung erblindeten. Und ich sprach damals im Triumph meines Stolzes, als ich mich zur Ruhe niederlegte: »Meine Schrift weist mit der größten Genauigkeit dem Menschen seine Stelle an in dem Bereich der Natur; sie wird die Grundlage einer Schule abgeben und Schüler bilden. Geschlecht um Geschlecht von denen, welche vermittelst des reinen Verstandes die Wahrheit zu erforschen trachten, wird auf meinen Grundlagen mein Gebäude erweitern.« Und wieder hörte ich den Seufzer; aber diesmal überraschte er mich nicht. »Ein wunderliches Ding dieses Nervensystem,« murmelte ich vor mich hin. Ich legte mich auf meinen Pfuhl nieder, und die Ermüdung führte bald den Schlaf herbei.