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Siebenunddreißigstes Kapitel.

Laßt mich ihn zurückrufen – gemach – gemach! Laßt mich den Abend zurückrufen, den ich mit ihr verbrachte – jenen Abend, den letzten vor der Dunkelheit, die sich wie eine feste Mauer zwischen uns legte.

Es war Abend, am Schluß des Sommers, und auf die untergegangene Sonne die Dämmerung gefolgt. Wir befanden uns in dem alten Klostergarten; es war alles so ruhig, so kühl, so duftig. Sie saß in der Mitte des freien Platzes mit seinem kleinen Blumenparadies unter der hohen Ceder auf einer Bank, und ich hatte mich zu ihren Füßen auf den Rasen hingeworfen. Ihre Hand lag so vertrauensvoll in der meinigen. Ich sehe sie noch – so jung, so schön, so unschuldig.

Seltsam, seltsam! So unaussprechlich englisch; so ganz das Geschöpf unseres nüchternen, heimischtrauten Lebens! Das schöne feine, weiße Gewand, das ich so schüchtern berührte, und die Bänder, die so gut ließen zu dem sanften Rosenroth ihrer Wangen und der wallenden Seide ihres braunen Haars! Sie antwortet in leisem Flüstern auf meine bebende Frage –

»Ebenso, wie bei unserem Abschied? Lieben Sie mich noch so?«

»Hier gibt es kein noch,« sagte sie, die Hand leicht auf ihr Herz drückend. »Gestern ist wie morgen in der Ewigkeit!«

»Ach, Lilian, wenn ich nur auch in so poetischen Worten mit Ihnen sprechen könnte.«

»Wie, Sie, die dergleichen thun, als kümmern Sie sich nicht um Poesie?«

»Das war, eh' Sie fortgingen – eh' Sie sich meinen Augen, meinem Leben entzogen – eh' ich wußte, wie theuer Sie mir waren, viel theurer, als die gewöhnliche Welt es auszudrücken vermag! Ja, es gibt eine Periode im Leben, in der alle Menschen zu Dichtern werden, wenn auch die Armuth ihrer Sprache dem Ueberströmen ihrer Phantasie nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen kann. Was würde aus mir werden, wenn Sie aufhörten, mich zu lieben?«

»Oder aus mir, wenn Sie zu lieben aufhören könnten?«

»Und es kömmt mir irgendwie vor, als werde mein Herz diesen Abend inniger zu Ihnen hingezogen – näher, wie wenn Sie des Schutzes bedürften.«

»Das ist Sympathie,« sagte sie mit zitterndem Eifer – »jene Art geheimnißvoller Sympathie, die Sie so oft geläugnet oder verspottet haben; denn auch ich fühle mich näher zu ihnen hingezogen, wie wenn ein Ungewitter bevorstehe. Als ich nach Haus zurückkehrte, fühlte ich mich von einer unaussprechlichen Angst bedrückt, und mit dem Moment, in welchem ich Ihrer ansichtig wurde, tauchte in mir das Bewußtsein der Schutznähe auf.«

Ihr Haupt sank auf meine Schulter, und wir blieben eine Weile stumm. Dann standen, wie von einem gemeinsamen Impuls getrieben, wir beide auf, während mein kräftiger Mannesarm ihre zarte Gestalt umschlungen hielt. Wir gingen langsam unter den Acazien und den Fliederbüschen hin, welche den freien Platz säumten. Lilian hatte noch nichts von dem Mord gehört, der in L– – fast ausschließlich das Tagesgespräch bildete, denn alle Erzählungen von Gewalt- und Blutthaten wirkten auf sie so einschüchternd wie auf ein furchtsames Kind, und Frau Ashleigh war daher besorgt gewesen, alle die Briefe und Zeitungen bei Seite zu schaffen, durch welche die ungeheuerliche Kunde ihr zugeführt werden konnte. Ich brauche kaum zu sagen, daß der bedauerliche Vorfall durch mich nicht in Anregung gebracht wurde. Ueberhaupt hatte ich eben jetzt keinen Sinn für die Ereignisse, die noch vor kurzem so verwirrend und peinlich auf mir lasteten, und selbst die schwermüthige Ahnung, die in den ersten Momenten unserer Wiedervereinigung mich überschattete, war gewichen unter dem Einfluß der ruhigen Umgebung und der wonnigen Nähe der Geliebten. Wir kamen allmählig auf unsere Zukunft, auf den nicht mehr fernen Tag zu sprechen, der uns unzertrennlich vereinigen sollte, und machten Plane zu unserer Brautreise. Wir wollten die Schauplätze besuchen, die ihr durch das Lied, mir durch die Tage meiner Kindheit theuer geworden – die Ufer und Wellen meines heimathlichen Windermere; es sollte ein kurzer Festtag sein vor der Zurückkehr zu dem Leben arbeitsamer Thätigkeit; die Herzen, die jetzt so unruhig klopften von Lust und Hoffnung, konnten dann Ruhe finden in dem Frieden eines eigenen häuslichen Herdes.

Und während wir so plauderten, ging der fast volle Mond an dem wolkenlosen Himmel auf. Wir hielten inne, um uns der erhabenen Pracht zu erfreuen – welches Liebespärchen wüßte sich nicht einer ähnlichen Scene zu erinnern? Wir standen auf dem Terrassenweg, von dem aus man die ganze Stadt unten überschauen konnte. Vor uns befand sich eine Mauerbrüstung, die gegen den Garten her nur nieder, nach außen aber unersteiglich war und mit der unregelmäßig an ihr hinziehenden Straße gegen die Unterstadt hin eine von den Grenzen des Abteibergs bildete. Die Straßenlaternen erstreckten sich in verschiedentlich gekreuzten Linien weit hin, da und dort durch zwischenliegende Hausdächer und Kirchenthürme verdunkelt. Das Gesumme der Stadt drang unbestimmt und eintönig bis zu unseren Ohren. Es war nicht unangenehm, daran erinnert zu werden, daß es auch draußen eine Welt gab, während wir, jedes für das andere eine Welt, uns so nahe standen. Plötzlich vernahmen wir den Gesang einer menschlichen Stimme, eine unregelmäßige, halb wilde Melodie – unverständliche, ausländische Worte; aber Lied und Weise waren mir nicht neu. Ich erkannte die Stimme und den Gesang Margrave's. Zusammenfahrend stieß ich einen unwilligen Ruf aus.

»Bst!« flüsterte Lilian, und ich fühlte unter meinem umschlingenden Arm ihren Körper beben. »Bst. Hören Sie! Ja; ich habe diese Stimme schon einmal gehört – in der letzten Nacht –«

»In der letzten Nacht? Da sind Sie ja nicht hier, sondern mehr als hundert Meilen weggewesen.«

»Ich vernahm sie im Traume. Stille!«

Der Gesang klang lauter. Unmöglich kann ich beschreiben, welche Wirkung er übte, mitten in der ruhigen mondhellen Nacht sich über die zackigen Dachgiebel erhebend. Er war nicht wie der kunstgerechte Gesang eines Menschen, denn es fehlte ihm die methodische Harmonie der einzelnen Takte, nicht wie der eines wilden Vogels, denn er hatte in seiner Melodie nichts Eintöniges, sondern er nahm sich eher wie das unstete, wechselnde Tönen der Aeolsharfe aus. Dabei sprach er die Sinne gewaltig an, ungefähr, wie ich seitdem erfahren habe, in fernen Landen und weiten Einöden das plötzlich erschallende Lied des Spottvogels, das den Zuhörer halb mit Entzücken, halb mit Scheu erfüllt, als ob irgend ein Dämon der Wüste den Menschen mit seiner Heiterkeit äffe. Der Gesang wandelte sich nun in eine Weise voll herausfordernder Heiterkeit und drohenden Jubels um, so daß man ihn für das triumphirende Kriegslied eines alten barbarischen Stammes hätte halten können. Die Melodie war unheimlich; ein Schauder durchrann meinen Körper, und Lilian, die ihre Augen geschlossen hatte, seufzte tief auf. Dann endigte das Lied mit einem raschen Uebergang in eine weiche Tonart, wie ihrer sich eine arabische Mutter bedienen mag, wenn sie ihren Säugling in Schlaf lullt. »Dort, dort, schauen Sie,« flüsterte Lilian, sich von mir losmachend; »dieselbe Gestalt, welche ich letzte Nacht in meinem Schlaf sah – dieselbe, die mir erschien in dem Raum oben an dem Abend, an welchem ich zum erstenmal mit Ihnen bekannt wurde.«

Ihre Augen waren starr, ihre Hand erhoben; mein Blick folgte dem ihrigen und traf auf das Gesicht und die Gestalt Margrave's. Er stand da in vollem Mondlicht, als habe dieses Gestirn der Nacht alle seine Strahlen auf seinem Bild concentrirt. Der Platz, auf dem ich ihn bemerkte (der Balkon im oberen Stock eines etwa hundertundfünfzig Fuß entfernten Hauses) lag beträchtlich höher als die Terrasse, auf der wir uns befanden. Er hatte die Arme über der Brust gefaltet, und er schien gerade auf uns hernieder zu schauen. Sogar in solcher Entfernung konnte ich die strahlende Jugend seines Gesichts mit schrecklicher Deutlichkeit unterscheiden; das wunderbare Licht seines Auges schien durch den klaren Mondschein hindurch in einem stetigen Strahl auf uns zu ruhen. Unwillkührlich faßte ich Lilians Hand, um sie fast mit Gewalt fortzuziehen, denn sie verrieth keine Lust, von der Stelle zu weichen, und als ich sie hinwegführte, wandte sie den Kopf rückwärts. In eifersüchtiger Wuth that ich dasselbe. Gott Lob, ich konnte freier athmen – Margrave war verschwunden.

»Wie kam er dahin? Es ist nicht sein Hotel. Wem mag das Haus gehören?« sagte ich laut vor mich hin.

Lilian blieb stumm; ihre Augen hafteten wie in tiefer Träumerei auf dem Boden. Ich nahm ihre Hand, aber mein Druck fand keine Erwiederung. Ich fühlte mich in tiefster Seele verletzt, als sie diese Hand, die sie mir bisher so liebevoll überlassen, kalt zurückzog und blieb stehen.

»Lilian, was soll dies? Sie sind so kalt gegen mich. Kann dieser Mann durch den bloßen Ton seiner Stimme, bloß durch das Aeußerliche seines Gesichtes – –«

Ich hielt inne, denn ich wagte es nicht, meine Frage zu Ende zu bringen.

Lilian erhob ihre Augen zu mir, und ich bemerkte, daß in denselben eine Veränderung vorgegangen war. Ihr Blick war kalt, nicht stolz, aber zerstreut.

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte sie in mattem, verdrossenem Tone. »Es ist spät; ich muß hineingehen.«

So gingen wir verstimmt weiter, nicht mehr Arm in Arm oder Hand in Hand. Dann fiel mir ein, daß sie am nächsten Tag mit dem engen Kreis der gesellschaftlichen Welt in Berührung kommen werde; sie mußte da wohl von Margrave hören, vielleicht ihm begegnen und mit ihm bekannt werden. Die Eifersucht faßte mich mit allen ihren eingebildeten Schreckbildern, obschon sich in sie auch ein reineres, edleres Gefühl, die Sorge um das arme Mädchen mischte. Wäre ich statt des Verlobten Lilians Bruder gewesen, so würde ich nicht weniger vor dem Schatten gezittert haben, daß Margrave's geheimnißvoller Einfluß Gewalt üben könnte auf einen Geist, der so zugänglich war für den Zauber, welchen das Mysteriöse phantasievollen Träumern gegenüber geltend macht. Deßhalb nahm ich wieder das Wort.

»Lilian, auf die Gefahr hin, Sie zu beleidigen – ach, ich habe es bis auf diesen Abend nie nöthig gehabt – muß ich eine Bitte an Sie richten, die Sie ja nicht als die Eingebung eines meiner und Ihrer unwürdigen Argwohns betrachten mögen. Die Person, welche Sie eben gesehen und gehört haben, wird eben jetzt in den Zirkeln dieser Stadt sehr gefeiert. Ich bitte Sie dringlich, Niemand zu gestatten, sie bei Ihnen einzuführen Ich flehe Sie sogar an, alle Bekanntschaft mit diesem Margrave zu vermeiden. Ich kann Ihnen nicht alle Gründe namhaft machen, die mich zu dieser Bitte bewegen; genug, daß ich Ihnen die Bedeutsamkeit derselben mit meinem Ehrenwort versichere. Vertrauen Sie meiner Wahrheitsliebe, wie ich der Ihrigen. Sie dürfen überzeugt sein, daß ich in der Zusage, die ich von Ihnen wünsche, die Rechte, welche Ihr Herz dem meinigen verliehen hat, nicht mißbrauche; dagegen werde ich vollkommen beruhigt sein, wenn ich Ihr Versprechen habe, denn ich weiß, daß Sie es heilig halten werden, wenn Sie es einmal gegeben haben.«

»Was für ein Versprechen?« fragte Lilian zerstreut, als ob sie meine Worte nicht gehört habe.

»Was für ein Versprechen? Je nun, alle Bekanntschaft mit diesem Menschen, diesem Margrave, zu vermeiden. Versprechen Sie mir dies, mein theures Leben – versprechen Sie es.«

»Warum ist Ihre Stimme so verändert?« sagte Lilian. »Ihr Ton thut meinem Ohr weh,« fügte sie mit einer Grämlichkeit bei, die an ihr so ungewöhnlich war, daß sie mich eher erschreckte als beleidigte. Und ohne ein weiteres Wort zu sprechen, beschleunigte sie ihre Schritte und trat in das Haus.

Für den Rest des Abends blieben wir beide schweigsam und abgemessen. Vergeblich suchte Frau Ashleigh in ihrer Gutmüthigkeit unsere wechselseitige Zurückhaltung zu durchbrechen. Ich fühlte, daß ich das Recht hatte, empfindlich zu sein, und hielt um so mehr an diesem Recht fest, da Lilian durchaus keinen versöhnlichen Schritt that. Auch dies mußte sehr an ihr auffallen, da sonst ihr Gemüth selbst bis zum Uebermaß sanft war; denn jedes Mißverständniß zwischen uns, das mich kränken konnte, ging ihr tief zu Herzen, und es drängte sie, mich um Verzeihung zu bitten, wenn sie durch ein Wort oder nur durch einen Blick mir wehgethan zu haben glaubte. Ich hoffte daher, der Friede werde hergestellt sein, noch eh' ich mich entfernte. Aber lange vor der gewöhnlichen Schlafengehenszeit erhob sie sich plötzlich, klagte über Müdigkeit und Kopfweh, wünschte mir gute Nacht und wich meiner Hand aus, die ich ihr bekümmert darbot, als ich die Thüre öffnete.

»Sie müssen sehr unfreundlich gegen die arme Lilian gewesen sein,« sagte Frau Ashleigh halb ernst, halb scherzend, »denn ich habe sie nie so wunderlich gegen Sie gesehen. Und dies obendrein am ersten Tag ihrer Rückkehr!«

»Die Schuld liegt nicht an mir,« entgegnete ich verstimmt. »Ich habe Lilian bloß gebeten, und zwar mit aller Bescheidenheit gebeten, der Bekanntschaft mit einem Fremden auszuweichen, der sich in dieser Stadt aufhält und gegen den ich Grund zum Mißtrauen und zur Abneigung habe. Ich weiß nicht, warum diese Bitte ihr Mißfallen erregen konnte.«

»Auch ich nicht. Wer ist dieser Fremde?«

»Eine Person, die sich Margrave nennt. Ich hoffe, wenigstens bei Ihnen Gehör zu finden, wenn ich Sie ersuche, ihm auszuweichen.«

»Oh, es ist mir nicht darum zu thun, mit Fremden Bekanntschaften anzuknüpfen. Doch Lilian ist jetzt fort; erzählen Sie mir von dieser schrecklichen Mordgeschichte. Die Mägde wissen von nichts Anderem zu sprechen, und man wird es vor Lilian nicht lange geheim halten können. Ich hoffte, Sie würden die Sache anbahnen.«

Ich erhob mich ungeduldig, denn ich konnte es nicht ertragen, in solcher Weise ein Ereigniß zu besprechen, dessen tragischer Ausgang für mich mit so geheimnißvollen Umständen verknüpft war. Ich gerieth in Aufregung, sogar in Unwillen bei den vielerlei weiberhaften Fragen: »Auf wen hat man Argwohn? Wer mag wohl der Thäter sein? Was war Sir Philipp für ein Mann? Welche Bewandtniß hatte es mit dem seltsamen Kästchen?« Ich suchte mich von diesem Verhör, auf das ich nur abgebrochene oder ausweichende Antworten geben konnte, loszumachen, griff nach meinem Hut und empfahl mich.


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