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An jenem Abend begab ich mich zu Frau Poyntz, da es einer ihrer gewöhnlichen Empfangtage war und sie natürlich es für in der Ordnung annahm, daß ich es an der »gebührenden Aufwartung« nicht werde fehlen lassen.
Um die Dame des Hauses war eine Gruppe in allgemeiner Unterhaltung versammelt: sie saß wie gewöhnlich im Mittelpunkt und strickte – hurtig, wenn sie sprach, langsam, wenn sie zuhörte.
Ohne des Besuchs zu erwähnen, den ich am Morgen gemacht hatte, lenkte ich das Gespräch auf die verschiedenen Edelsitze in der Nachbarschaft und warf dabei gleichsam zufällig die Frage hin, was Sir Philipp Derval für ein Mann sei, indem ich zugleich mein Bedauern beifügte, daß er einen so schönen Platz verfallen lasse. Die Antworten, die ich erhielt, gaben mir nicht viel mehr, als ich schon erfahren hatte. Frau Poyntz wußte von Sir Derval nur so viel, daß er schöne Besitzungen habe, deren Ertrag durch das Steigen seiner Grundstücke in der L– – -Markung, welche neben denen ihres Gatten lägen, sehr erhöht worden sei. Zwei oder drei andere Bewohner des Bergs erinnerten sich seiner noch aus seiner Jugendzeit als eines lebensfrohen, hochsinnigen, gastfreien, jungen Verschwenders. Einer bemerkte, in seiner späteren Abgeschiedenheit sei Doktor Lloyd die einzige Person gewesen, welche Zutritt zu ihm hatte: der Doktor habe damals noch keine Praxis gehabt und sei ihm bei gewissen chemischen Versuchen an die Hand gegangen.
Nun mischte sich ein Herr ins Gespräch, der mir und überhaupt in L– – fremd war, ein Gast eines der Bergbewohner, welcher sich die Erlaubniß erbeten hatte, ihn der Königin als einen vielgereisten Mann und bedeutenden Alterthumskenner vorstellen zu dürfen.
Sagt dieser Herr: »Sir Philipp Derval? Den kenne ich. Ich traf im Orient mit ihm zusammen. Wenn ich nicht irre, so war er damals ein großer Verehrer der Chemie – ein gescheider, menschenfreundlicher, aber wunderlicher Mann; hatte Medicin studirt, oder übte sie wenigstens aus und soll wahre Wunderkuren gemacht haben. Ich wurde in Aleppo mit ihm bekannt. Er war nach dieser von englischen Reisenden wenig besuchten Stadt gekommen, um Erkundigung einzuziehen über die Ermordung zweier Männer, von denen der eine ein Freund, der andere ein Landsmann von ihm gewesen war.«
»Das ist interessant,« bemerkte Frau Poyntz trocken. »Wir, die wir auf diesem unschuldigen Berg leben, sind ganz verliebt in Verbrechengeschichten, und ein Mord ist das köstlichste Thema, das Sie anregen konnten. Ich bitte, geben Sie uns die Einzelnheiten.«
»So ermuthigt,« entgegnete der Reisende mit Laune, »nehme ich keinen Anstand, das Wenige mitzutheilen, das ich weiß. In Aleppo hatte mehrere Jahre ein Mann gelebt, der von den Einheimischen mit großer Verehrung betrachtet wurde. Er stand im Ruf außerordentlicher Weisheit, war aber nur schwer zugänglich, und die lebhafte Einbildungskraft bekleidete seinen Charakter mit dem Reiz der Mythe; kurz, Harun von Aleppo galt bei dem Volk als Zauberer. Man erzählte sich abenteuerliche Geschichten von seiner Macht, von seinem übernatürlichen Alter und von seinen angehäuften Schätzen. Abgesehen von diesen zweifelhaften Ansprüchen auf Huldigung schien aus Allem, was ich hörte, hervorzugehen, daß er unstreitig ein sehr gelehrter und sehr wohlthätiger Mann war, der sein Leben in einer tadellosen Ascetik zubrachte. Er scheint Aehnlichkeit mit den arabischen Weisen des Mittelalters gehabt zu haben, denen die neue Wissenschaft so viel verdankt: denn was ich von ihm hörte, deutete auf einen mystischen Schwärmer, der sich zugleich wissenschaftliche Studien ernstlich angelegen sein ließ. Ein wunderlicher reicher Engländer, der sich lang in einem anderen Theil des Morgenlands aufgehalten und mit einem langwierigen Siechthum behaftet war, unternahm die Reise nach Aleppo, um diesen Weisen zu befragen, welcher der Sage nach seltene Geheimnisse in der Arzneikunst – seine Landsleute nannten es »Zaubermittel« – entdeckt hatte. Eines Morgens, nicht lange nach der Ankunft des Engländers, fand man Harun todt, augenscheinlich erdrosselt, in seinem Bette; zu gleicher Zeit war auch der Engländer, der in einem anderen Theil der Stadt wohnte, verschwunden; dagegen hatte man einige von seinen Kleidungsstücken und eine Krücke, auf die er sich zu stützen pflegte, ein paar Meilen von Aleppo unfern der Landstraße aufgefunden. Man zweifelte nicht, daß auch er ermordet worden sei, doch kam trotz allen Suchens seine Leiche nicht zum Vorschein. Sir Philipp Derval war ein treuer Schüler des Weisen von Aleppo gewesen, der ihn, wie ich aus Sir Philipps eigenem Munde weiß, nicht nur in seine ärztlichen Kenntnisse, sondern auch in verschiedene Naturwahrheiten eingeweiht hatte, auf deren Veröffentlichung Sir Philipp den Ehrgeiz baute, selbst als eine philosophische Celebrität betrachtet zu werden.«
»Welcher Art mögen wohl diese Naturwahrheiten gewesen sein?« fragte ich etwas sarkastisch.
»Hierüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Sir Philipp machte mir keine Mittheilungen, und ich mochte ihn auch nicht darum befragen, denn was man in Asien als Wahrheiten verehrt, wird in Europa gewöhnlich als Phantasterei verachtet. Doch um auf meine Geschichte zurückzukommen: Sir Philipp war einige Zeit vor dem Mord in Aleppo gewesen und hatte den Engländer unter Haruns Behandlung zurückgelassen: auf die Kunde von dem tragischen Ereigniß kehrte er wieder nach der Stadt zurück und war, als ich zufällig nach Aleppo kam, eben eifrig damit beschäftigt, Alles, was sich ermitteln ließ, zu sammeln und nach unserem vermißten Landsmann Nachforschungen anzustellen. Ich ging ihm dabei an die Hand: aber wir erzielten keinen Erfolg – die Meuchelmörder blieben unentdeckt. Es ist mir nicht zweifelhaft, daß die That von gewöhnlichen Räubern verübt wurde; Sir Philipp aber hegte einen schwärzeren Argwohn, aus dem er gegen mich keinen Hehl machte, obschon ich ihn für grundlos hielt und daher um Entschuldigung bitten muß, wenn ich hier darüber schweige. Ob seit meiner Rückkehr aus dem Orient die Leiche des Engländers aufgefunden worden ist, weiß ich nicht; doch muß es wohl geschehen sein, denn ich höre, daß seine Erben von seiner Hinterlassenschaft, welche viel geringer war, als man erwartet hatte, Besitz ergriffen haben. Man trug sich auch mit dem Gerücht, er habe bedeutende Schätze verscharrt, und so abgeschmackt dies auch klingen mag, wäre ein solcher Schritt mit seinem Charakter nicht eben unverträglich gewesen.«
»Er stand also nicht in dem besten Geruch?« bemerkte Frau Poyntz.
»Er galt als ein finsterer, böser Mann und war der Schrecken der Diener, die ihn nach Aleppo begleitet hatten. Aber er kam aus einem sehr entlegenen, den Europäern wenig bekannten Theil des Orients und hatte dort, so viel ich erfahren konnte, sich ein außerordentliches, durch abergläubische Scheu verstärktes Ansehen zu verschaffen gewußt. Man sagte ihm nach, er habe in den ›verborgenen Wissenschaften‹, wie die alten Philosophen sie nannten, tiefe Studien gemacht, aber nicht, wie der Weise von Aleppo, zu guten, sondern zu bösen Zwecken. Er soll an seinem Wohnsitz mit bösen Geistern verkehrt und seinen barbarischen Hof (denn er spielte unter dem wilden Volk die Rolle eines Königs) mit Zauberern und Schwarzkünstlern umgeben haben. Am Ende war er nichts Anderes, als was ich selbst auch bin, ein eifriger Alterthumsforscher, und wußte die Furcht, die er einflößte, schlau zu benützen, um sich Autorität zu verschaffen und so ungehindert seine Nachforschungen in alten Gräbern und Tempeln verfolgen zu können. Wirklich war das Ausgraben solcher Ueberreste in seiner Nachbarschaft seine Hauptleidenschaft, mit welchem Erfolge weiß ich nicht, da ich nie so tief in Landstriche eingedrungen bin, in welchen Räuber hausen und der Gifthauch der Malaria weht. Er trug die morgenländische Kleidung und hatte immer Juwelen bei sich. Um dieser willen mag er wohl ermordet worden sein, vielleicht von einigen aus seiner eigenen Dienerschaft, die dann alsbald seine Leiche verscharrten und ihr Geheimniß zu wahren wußten. Er war alt, sehr gebrechlich, und hätte ohne Beistand nicht so weit von der Stadt wegkommen können.«
»Sie haben uns seinen Namen nicht genannt,« sagte Frau Poyntz.
»Er hieß Grayle.«
»Grayle?« entgegnete Frau Poyntz, indem sie ihr Strickzeug fallen ließ. »Ludwig Grayle?«
»Ja, Ludwig Grayle. Sie können ihn nicht gekannt haben.«
»Gekannt? Nein. Aber ich habe meinen Vater oft von ihm sprechen hören. Dies war also das tragische Ende des kräftigen, dunklen Mannes, für den ich als kleines Mädchen in der Kinderstube eine Art furchtsamen, bewundernden Interesses zu fühlen pflegte?«
»Jetzt ist die Reihe des Erzählens an Ihnen,« sagte der Reisende.
Und wir Alle rückten unserer Wirthin nahe, die mit gedankenvoller Stirne sich einige Augenblicke still verhielt, dann aber ihre Arbeit in den Schoß legte.
»Nun ja,« sagte sie, uns mit stolzen, fast herausfordernden Blicken messend, »Kraft und Muth üben immer einen Zauber, selbst wenn sie eine völlig falsche Richtung einschlagen. Ich gehe mit der Welt, weil die Welt mit mir geht; thäte sie es nicht – –«
Hier hielt sie einen Moment inne und ballte ihre feste weiße Hand; dann schwenkte sie dieselbe geringschätzig, ließ den Satz unvollendet und begann einen anderen.
»Wenn man mit der Welt geht, muß man natürlich Diejenigen niedertreten, die sich ihr in den Weg stellen. Aber wenn ein einzelner Mann bloß mit seiner eigenen Kraft sich diesem Gang entgegenstemmt, so können wir ihn nicht verachten; es genügt, ihn zu vernichten. Es ist mir lieb, daß ich Ludwig Grayle nicht kennen lernte, als ich ein sechzehnjähriges Mädchen war.«
Wieder trat eine kurze Pause ein. Dann fuhr sie fort:
»Ludwig Grayle war der einzige Sohn eines Wucherers, der sich durch die Gier, mit welcher er sich einen ungeheuren Reichthum zusammengerafft, allgemein verhaßt gemacht hatte. Der alte Grayle wünschte seinen Erben zu einem Gentleman zu erziehen und schickte ihn nach Eton. Knaben sind immer aristokratisch; man warf ihm bald sein Herkommen ins Gesicht. Er war stolz und raufte sich mit Knaben, die größer waren als er, bis sie ihn halb todt geschlagen hatten. Mein Vater befand sich mit ihm auf der Schule und schilderte ihn als einen jungen Tiger. Eines Tags – er war noch ein Neuling – schlug er einen Knaben aus der sechsten Klasse. Die Knaben der sechsten Klasse balgen sich nicht mit Neulingen, sondern züchtigen sie. Man befahl Ludwig Grayle, die Hand zur Bestrafung mit dem Rohr auszustrecken; er erhielt den Schlag, zog aber dann sein Taschenmesser und versetzte dem Züchtiger einen Stich. Darauf verließ er Eton. Ich glaube nicht, daß er öffentlich ausgestoßen wurde, da er für diese Ehre noch zu sehr Kind war – kurz, man nahm ihn eben weg oder schickte ihn fort. Zu Haus erhielt er durch die besten Lehrer eine sorgfältige Erziehung, und als er das Alter zum Bezug der Universität erreichte, war der alte Grayle todt. Ludwig wurde von seinen Vormündern nach Cambridge geschickt; er besaß Kenntnisse, durch die er sich vor den meisten seiner Altersgenossen auszeichnete, und dabei Geld, so viel er nur haben wollte. Mein Vater war mit ihm in dem gleichen College und schilderte ihn wieder als stolz, händelsüchtig, unbekümmert, schön, hochstrebend und trotzig. Kann ein solcher junger Mann wohl Interesse für Sie haben, meine Damen?«
»Pah!« versetzte Miß Brabazon; »eines abscheulichen Wucherers Sohn!«
»Ah, richtig. Das gemeine Sprüchwort sagt, es sei gut, mit einem silbernen Löffel im Mund geboren zu werden; und so ist's auch, wenn Eines ein Familienwappen darauf hat. Wenn's aber ein Löffel ist, auf welchem Leute ihr Familienwappen erkennen, und diese ausrufen: ›Gestohlen aus unserer Silbertruhe,‹ so ist er ein Erbstück, das schon das Kind in der Wiege ächtet. Aber junge Leute auf der Universität, die Geld brauchen, nehmen es mit dem Herkommen weniger genau, als die Etoner Knaben. Ludwig Grayle fand in Cambridge eine Menge Bekannte von guter Geburt, die sich bereitwillig dazu hergaben, ihm von dem Raub, den sein Vater den ihrigen abgepreßt hatte, wieder Einiges an sich zu bringen. Er war ein zu wilder Mensch, um nach der Auszeichnung akademischer Ehren zu ringen; doch sagte mein Vater, die Hülfslehrer des Colleges hätten erklärt, es seien an der Universität keine sechs nicht graduirte Studenten, die so viel von den harten und trockenen Wissenschaften los hätten, wie der wilde Ludwig Grayle. Er war in die Welt hinausgegangen, ohne Zweifel in der Hoffnung, eine Rolle zu spielen; aber der Name des Vaters hatte einen zu üblen Geruch, um dem Sohn Zutritt in die gute Gesellschaft zu gestatten. Die feine Welt untersucht allerdings nicht mit dem scharfen Auge eines Heraldikers und betrachtet den Reichthum nicht mit der erhabenen Verachtung eines stoischen Philosophen; aber dennoch hat sie ihren Familienstolz und ihr moralisches Gefühl. Sie liebt es nicht, betrogen zu werden – ich meine, in Geldangelegenheiten – und wenn der Sohn des Mannes, der ihr den Beutel geleert und ihren Grund und Boden für verfallen erklärt hat, mit auf die Hüfte gestemmter Hand und den Kopf hochtragend vor den Fenstern ihres Clubhauses vorbeireitet, so kann kein Löwe fürchterlicher die Stirne runzeln und keine Hyäne schrecklicher lachen, als eben diese ruhige, gelassene, duldsame und gebildete feine Welt, die als Bekannte so angenehm, als Freundin so matt, als Feindin aber erbarmenlos ist. Kurz, Ludwig Grayle glaubte ein Recht darauf zu haben, daß man ihm den Hof mache, und wurde gemieden; er wollte bewundert sein, und wurde verabscheut. Selbst seine alten Universitätsbekannten schämten sich, ihn anzuerkennen. Vielleicht hätte er alles dies vermeiden können, wenn er gesucht hätte, in aller Stille in eine Stellung hineinzuschlüpfen; aber es fehlte ihm der Takt der feinen Bildung, und er wollte sich nicht verstohlen einschleichen, sondern im Sturm sich Bahn brechen. Da er sich in Betreff seiner Gefährten auf dürftige Parasiten angewiesen sah, so bot er den Begriffen von Anstand verletzenden Trotz durch jene Schaustellung von Uebertreibung, mit der ein Richelieu oder Lauzun die öffentliche Meinung verhöhnte. Aber Richelieu und Lauzun waren Herzoge! Natürlich warf er nun auf die feine Welt seinen Haß und erwiederte Verachtung mit Verachtung. Er wollte sich mit der Demokratie verbinden; sein Reichthum war zwar kein Schlüssel zu einem Club, konnte ihn aber ins Parlament einkaufen; und wenn es zu einem Lauzun oder vielleicht zu einem Mirabeau nicht reichte, so war er am Ende doch im Stand, einen Danton zu spielen. An Kenntnissen und an Kühnheit fehlte es ihm nicht, und mit solchen Eigenschaften kann es dem kräftigen Haß auch nicht an Beredsamkeit fehlen. So wäre vielleicht dieser arme Ludwig Grayle berufen gewesen, eine bedeutende Figur zu machen, seinem Zeitalter einen neuen Impuls zu geben und seinen Namen in die Blätter der Geschichte einzuzeichnen; aber in dem Wahlkampf des Bezirks, den er für sich gewonnen, stand ihm als Mitbewerber ein wirklicher feiner Gentleman gegenüber, den sein Vater zu Grund gerichtet hatte, ein hochgebildeter ruhiger Mann mit einer Zunge wie ein Schwert und einem höhnischen Blick wie der einer Natter. Es kam zu einem persönlichen Streit, und Ludwig Grayle schickte ihm eine Herausforderung. Der feine Gentleman, der keine Memme war (Gentlemen sind dies nie), hatte anfangs Lust, das Ansinnen mit Verachtung abzulehnen; aber Grayle wurde von dem Pöbel angebetet. Ein Wort von ihm, und der feine Gentleman wäre unter das Brunnenrohr oder auf die Prelldecke gebracht worden. Dies hätte ihn lächerlich gemacht. Auf sich schießen lassen ist eine Kleinigkeit, aber der Gegenstand des Gespöttes werden eine ernste Sache. Er ließ sich deßhalb herab, die Herausforderung anzunehmen, und mein Vater war sein Sekundant.
»Nach englischem Brauch wurde natürlich das Abfinden getroffen, daß beide Duellanten auf ein gegebenes Zeichen zu gleicher Zeit Feuer geben sollten. Der Gegner schoß im rechten Augenblick, und seine Kugel streifte Ludwig Grayle's Schläfe. Grayle hatte nicht gefeuert. Den Sekundanten kam es vor, als nehme er jetzt erst langsam und bedächtig sein Ziel. Sie riefen ihm zu, nicht zu schießen, und eilten zwischen die Kämpfer, um ihn zu hindern; aber schon war der Drücker gerührt, und sein Feind lag todt auf dem Boden. Das Duell wurde sofort für unehrlich erklärt und Grayle auf Tod und Leben prozessirt; er stellte sich aber nicht vor Gericht, sondern entwischte nach dem Festland, machte Reisen durch ferne, uncivilisirte Länder, wohin man ihn nicht verfolgen konnte, und ließ sich in England nicht wieder blicken. Der Advokat, der seine Vertheidigung führte, entledigte sich seiner Aufgabe mit großem Geschick. Er behauptete, die Verzögerung des Schusses sei nicht absichtlich, daher auch nicht verbrecherisch, sondern nur eine Wirkung der Betäubung gewesen, in welche ihn die Schläfewunde versetzte. Der Richter war ein Gentleman und faßte die Anzeigen in einer Weise zusammen, daß den Geschworenen ein Wahrspruch gegen den Elenden, der einen Gentleman gemordet, auf die Zunge gelegt wurde. Die Geschworenen aber waren keine Gentlemen, und Grayle's Advokat hatte natürlich ihre Sympathien geweckt für einen Sohn des Volks, der von einem Gentleman übermüthig beschimpft worden, und so lautete ihr Verdikt auf einfache Tödtung. Das Gericht nahm erschwerende Umstände an und erkannte auf dreijähriges Gefängniß. Dieser Strafe wich Grayle wohl aus; aber die Schmach blieb auf ihm haften, und er war ein verbannter Mann – sein Ehrgeiz geknickt, sein ferneres Leben das eines Geächteten, und er noch nicht Dreiundzwanzig. Mein Vater vermuthete, er werde seinen Namen geändert haben; Niemand wußte, was aus ihm geworden war. Und so mußte dieser kühne, prächtige Mensch, vor dem, wenn seiner Geburt günstigere Sterne geleuchtet hätten, die Menge hündisch gekrochen wäre, nachdem er – Niemand weiß wie – ein hohes Alter erreicht hatte, zu Aleppo sterben durch Mörderhand, ohne daß, wie Sie sagen, der Thäter bekannt wurde.«
»Ich las vor ungefähr drei Jahren in den Zeitungen einen Bericht über seinen Tod,« sagte Eines aus der Gesellschaft; »aber der Name war unrichtig geschrieben, und ich hatte keine Vorstellung davon, daß der Ermordete derselbe Mann sei, dessen Duell Frau Oberst Poyntz uns so anschaulich zu beschreiben beliebte. Die Gerichtsverhandlung schwebt mir noch dunkel vor; sie fand vor mehr als vierzig Jahren statt, als ich noch ein Knabe war. Die Sache machte damals viel Aufsehen, ist aber bald in Vergessenheit gerathen.«
»Ja, bald – was würde nicht bald vergessen?« entgegnete Frau Poyntz. »Verlasse Jemand seinen Platz in der Welt nur auf zehn Minuten, und wenn er zurückkömmt, so hat ihn schon ein Anderer eingenommen; scheidet man aber aus ihr für immer, wer erinnert sich dann noch, daß man je auch nur einen Platz im Kirchenregister eingenommen hat?«
»Gleichwohl,« erwiederte ich, »hat ein großer Dichter schön und wahr gesprochen:
»›Noch scheint auf uns die Sonne des Homer.‹«
»Aber sie scheint nicht auf Homer; und gelehrte Leute haben mir gesagt, man wisse eben so wenig, wer oder was Homer gewesen sei, und ob es nur einen einzigen oder eine ganze Herde von Homeren gegeben habe, als wir wissen, ob es wirklich einen Mann im Mond gebe und ob nur einen einzigen oder eine Million. Mein liebes Fräulein Brabazon, es wird recht gütig von Ihnen sein, wenn Sie unsere Gedanken in weniger düstere Kanäle hinüberführen – irgend eine hübsche französische Arie. Doktor Fenwick, ich habe Ihnen etwas zu sagen.« Sie nahm mich nach dem Fenster. »Anna Ashleigh schreibt mir, daß ich Ihrer Verlobung gegen Niemand erwähnen solle. Ist es wohl ganz klug, die Sache geheim zu halten?«
»Ich sehe nicht ein, was mit dem Geheimhalten oder Veröffentlichen die Klugheit zu schaffen hat, da dies rein eine Sache des Gefühls ist. Die meisten Menschen wünschen so gut sie können die Zeit abzukürzen, in der ihre Privatangelegenheiten der Gegenstand öffentlichen Klatsches sind.«
»Der öffentliche Klatsch ist bisweilen die beste Bürgschaft für den Vollzug von Privatübereinkünften. So lang man von einem Mädchen nicht weiß, daß es verlobt ist, muß der Verlobte auf Nebenbuhler gefaßt sein. Hat man die Verlobung veröffentlicht, so ist der Rival verwarnt.«
»Ich fürchte keinen Rivalen.«
»Nicht? Kühner Mann! Ich denke, Sie schreiben an Lilian?«
»Allerdings.«
»Thun Sie dies, und zwar fleißig. Beiläufig, Frau Ashleigh hat vor ihrer Abreise mich ersucht, ihr den Einladungsbrief der Lady Haughton zurückzusenden. In welcher Absicht? Um denselben Ihnen zu zeigen?«
»Wohl möglich. Haben Sie den Brief noch? Darf ich ihn sehen?«
»Nicht jetzt. Wenn Lilian oder Frau Ashleigh Ihnen schreibt, so kommen Sie und theilen mir mit, wie ihnen ihr Besuch gefällt und welche andere Gäste zugegen sind.«
Damit kehrte sie mir den Rücken zu und unterhielt sich bei Seite mit dem Reisenden.
Ihre Worte beunruhigten mich, und ich fühlte, daß dies ihre Absicht gewesen war. Den Grund konnte ich mir nicht denken. Es gibt keine Sprache auf Erden, welche mehr Worte von doppelter Bedeutung hätte, als die einer schlauen Frau, die nie mehr auf ihrer Hut ist, als wenn sie sich offen und unbefangen zu geben scheint.
Während ich gedankenvoll nach Haus ging, wurde ich von einem jungen Mann, dem Sohn eines der reichsten Kaufleute in L– –, angeredet. Ich hatte ihn einige Monate vorher mit gutem Erfolg an einem rheumatischen Fieber behandelt, und er sowohl, als seine Familie war mir zugethan.
»Ach, mein lieber Doktor, es freut mich sehr, Sie zu sehen. Ich bin Ihnen für etwas verpflichtet, von dem Sie nichts wissen, nämlich für einen ungemein angenehmen Reisegefährten. Ich kam heute mit ihm von London, wo ich während der letzten vierzehn Tage Ferien hielt und mir die Sehenswürdigkeiten betrachtete.«
»Vermuthlich sind Sie so freundlich, mir einen Patienten zu bringen?«
»Nein, nur einen Bewunderer. Ich hatte in Fenton's Hôtel Quartier genommen. Da ließ ich eines Tags in dem Kaffeezimmer Ihr letztes Werk über das Lebensprinzip, von dem mich der Buchhändler versicherte, daß es auch bei Laien wie ich reißenden Abgang finde, auf dem Tisch liegen. Als ich wieder zurückkam, fand ich, daß ein Herr darin las. Ich bat mir höflich das Buch aus, und er entschuldigte seine Freiheit, daß er es aufgenommen habe. So war eine Bekanntschaft eingeleitet, und am anderen Tag standen wir schon auf dem vertraulichsten Fuß. Er bezeigte großes Interesse für Ihre Theorie und Versuche. Ich sagte ihm, daß ich Sie kenne. Sie können sich wohl denken, daß ich Ihren Ruf als Praktiker eben so sehr hervorhob, als Ihre Schrift für Ihre Gelehrsamkeit sprach. Kurz, er kam mit mir nach L– –, theilweise um unsere gewerbsame Stadt zu sehen, hauptsächlich aber durch mein Versprechen, ihn mit Ihnen bekannt zu machen, verlockt. Sie wissen, meine Mutter gibt Morgen ein Déjeuner, wie sie's nennt – Déjeuner und Tanz. Sie kommen doch?«
»Ich danke Ihnen, daß Sie mich an die Einladung erinnern, und will von ihr Gebrauch machen, wenn ich abkommen kann. Ihr neuer Freund wird auch anwesend sein? Wer und was ist er? Studirt wohl Medicin?«
»Nein, er ist nur ein für sich lebender Gentleman, scheint aber viel allgemeine Bildung zu besitzen. Sehr jung, augenscheinlich sehr reich und von wunderbar gutem Aussehen. Ich bin überzeugt, Sie werden ihn liebgewinnen – es geht Jedermann so.«
»Der Umstand, daß er ein Freund von Ihnen ist, dient ihm zur besten Empfehlung.«
Wir schieden unter einem Händedruck.