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Frau Poyntz saß auf dem Sopha, zu ihrer Rechten die wohlbeleibte Frau Bruce, die Enkelin eines schottischen Lords, und links von ihr das magere Fräulein Brabazon, die Nichte eines irischen Baronets. Die übrigen Gäste hatten sich, zum Theil sitzend, meist aber stehend, um sie her gruppirt, und nur zwei alte Herrn machten hievon eine Ausnahme, indem sie sich mit Oberst Poyntz in die Nähe des Whisttisches hielten und daselbst zur Vervollständigung ihrer Partie auf einen vierten Herrn warteten, der jedoch in diesem Augenblick sich nicht von dem Zauberkreis losmachen konnte, welchen die Neugierde, dieser mächtigste von allen socialen Dämonen, um die Wirthin gesammelt hatte.
»Wer sich im Abthaus eingemiethet hat? Das will ich Ihnen sagen. – Ah, Doktor Fenwick! Freut mich, Sie zu sehen. Sie wissen, daß das Abthaus endlich Bewohner gefunden hat? Und Sie, Fräulein Brabazon, fragen, wer sich darin einmiethete. Ich will es Ihnen sagen – eine besondere Freundin von mir.«
»So? Ach Gott,« versetzte Fräulein Brabazon mit einer etwas verwirrten Miene, »ich hoffe, daß ich doch nichts gesprochen habe, was –«
»Meine Gefühle verletzen könnte? Nein, nicht im Geringsten. Sie sagten, Ihr Onkel, Sir Phelim, habe bei einem Kutschenmacher Namens Ashleigh arbeiten lassen, und Ashleigh sei ein sehr ungewöhnlicher Name, Ashley dagegen sehr häufig; damit deuteten Sie den schrecklichen Argwohn an, daß die Frau Ashleigh, welche den Berg bezogen hat, die Wittwe eines Kutschenmachers sein könnte. Ich will Sie in dieser Beziehung beruhigen – es ist nicht so; sie ist die Wittwe des Gilbert Ashleigh von Kirby Hall.«
»Gilbert Ashleigh,« ließ sich einer der Gäste, ein Hagestolz vernehmen, der von seinen Eltern für die Kirche bestimmt wurde, aber wie der arme Goldsmith nicht gut genug für dieselbe zu sein meinte – ein Irrthum allzu großer Bescheidenheit, sofern er zu einem sehr harmlosen Geschöpf herangereift war. »Gilbert Ashleigh. Ich war mit ihm in Oxford – ein Stipendiat des Christchurchcollegiums. Ein recht hübscher Mann – ochste sehr –«
»Ochste – was ist dies? – Ah, studirte. Das hat er sein ganzes Leben lang gethan. Er heirathete jung – die Anna Chaloner; wir sind miteinander aufgewachsen und heiratheten in dem nämlichen Jahr. Sie bezogen Kirby Hall – ein hübscher Platz, aber langweilig. Poyntz und ich waren einmal über Weihnachten dort. Ashleigh war ganz bezaubernd, wenn er sprach, kam aber nicht oft dazu. Anna dagegen schwatzte viel, aber nur alltägliches Zeug. Kein Wunder, das arme Ding war so glücklich. Poyntz und ich brachten nur diese einzige Weihnachten dort zu. Die Freundschaft ist lang, aber das Leben kurz. Gilbert Ashleigh hat es in der That recht kurz gemacht, denn er starb im siebenten Jahr seiner Ehe und hinterließ ein einziges Kind, ein Mädchen. Seitdem bin ich nie mehr auf Weihnachten nach Kirby Hall gekommen, obschon ich es hin und wieder auf einen Tag besuchte und mein Bestes that, um Anna aufzuheitern. Das arme Geschöpf war nicht mehr so redselig. Sie lebte nur ihrem Kind, das jetzt zu einem schönen achtzehnjährigen Mädchen herangewachsen ist – solche Augen, ganz die ihres Vaters – das reinste Dunkelblau – selten; ein süßes Wesen, aber zart – ich will nicht hoffen schwindsüchtig, aber zart; still – fehlt am Leben. Meine Hanna ist ganz hingerissen von ihr. Hanna hat Leben genug für zwei.«
»Ist Fräulein Ashleigh die Erbin von Kirby Hall?« fragte Frau Bruce, die einen unverheiratheten Sohn hatte.
»Nein. Kirby Hall fiel an Ashleigh Sumner, den männlichen Erben, ein Geschwisterkind. Und das glücklichste von allen Geschwisterkindern! Gilberts Schwester, eine Prunkdame (in der That nichts als Prunk), wußte es einzuleiten, daß ihr Vetter Sir Walter Ashleigh Houghton, das Haupt der Familie Ashleigh, sie heirathete – dies war ganz der rechte Mann, um ihrem Prunk als Reflektor zu dienen. Er starb vor Jahren und hinterließ einen einzigen Sohn, Sir James, der letzten Winter durch einen Sturz vom Pferd ums Leben kam. Und da war wieder Ashleigh Sumner der gesetzmäßige männliche Erbe. Während der Minderjährigkeit dieses glücklichen jungen Menschen hatte Frau Ashleigh von seinem Vormund Kirby Hall gemiethet. Jetzt ist er majorenn und dies der Grund, warum sie abzog. Lilian Ashleigh erhält indeß doch ein recht schönes Vermögen und mag deßhalb unter uns gentilen armen Leuten wohl als eine Erbin gelten. Will man noch mehr wissen?«
Sprach das magere Fräulein Brabazon, das seine dünne Figur benützte, um in aller Welt Angelegenheiten hineinzuschlüpfen: »Eine sehr interessante Mittheilung. Aber was führt Frau Ashleigh hieher?«
Antwortete Frau Oberst Poyntz mit der militärischen Freimüthigkeit, mit welcher sie ihre Gesellschaft sowohl bei guter Laune, als im Respekt erhielt:
»Warum sind wir alle hieher gekommen? Kann mir dies Jemand sagen?«
Es trat ein tiefes Schweigen ein, das die Wirthin selbst zuerst wieder unterbrach.
»Niemand von den Anwesenden weiß zu sagen, was uns herführte. Aber ich kann Ihnen mittheilen, warum Frau Ashleigh kam. Unser Nachbar, Herr Vigors, ist ein entfernter Verwandter des verstorbenen Gilbert Ashleigh, einer von dessen Testamentsvollstreckern und der Vormund des gesetzmäßigen Erben. Vor zehn Tagen besuchte mich Herr Vigors zum erstenmal wieder, seit ich's für meine Pflicht gehalten hatte, ihm über die seltsamen Ueberspanntheiten unseres armen lieben Freundes Doktor Lloyd meine Meinung zu sagen. Nachdem er eben da, wo Sie jetzt sitzen, Doktor Fenwick, Platz genommen hatte, begann er mit einer Grabesstimme, indem er zugleich zwei Finger ausstreckte – so – als sei ich eine von den (wie nennt man sie doch?), die einschlafen, wenn man sie's heißt: ›Madam, Sie kennen die Frau Ashleigh? Sie korrespondiren mit ihr?‹ ›Ja, Herr Vigors; ist dies ein Verbrechen? Sie machen eine Miene, daß ich dies fast befürchte.‹ ›Kein Verbrechen, Madam,‹ versetzte der Mann ganz ernst. ›Frau Ashleigh ist eine Dame von sehr liebenswürdigem Wesen, und Sie sind eine Frau von männlichem Verstand.‹«
Es fand ein allgemeines Kichern statt. Frau Oberst Poyntz stillte es mit einem Blick strenger Ueberraschung.
»Was ist da zu lachen? Alle Frauen wären gerne Männer, wenn sie könnten. Wenn mein Verstand männlich ist, um so besser für mich. Ich dankte Herrn Vigors für sein sehr schönes Kompliment, und er fuhr dann fort, zu sagen, ›obschon Frau Ashleigh in einigen Wochen Kirby Hall zu verlassen habe, scheine sie doch nicht schlüssig werden zu können, wohin sie ziehen solle; da sei ihm eingefallen, daß es unpassend sei, Fräulein Ashleigh, die vermöge ihres Alters nun schon Anspruch habe, ein wenig von der Welt zu sehen, länger auf dem Land zu begraben, wobei jedoch in Betracht komme, daß sie bei ihrer stillen Gemüthsart einen Widerwillen gegen die Zerstreuungen Londons hege. Zwischen der Abgeschiedenheit des Landlebens und dem Lärm der Hauptstadt halte die Gesellschaft des Berges eine glückliche Mittelstraße ein. Es werde ihn freuen, meine Ansicht darüber zu hören. Er habe es verschoben, mich zu befragen, weil er gestehen müsse, daß er glaube, ich habe mich unfreundlich gegen seinen betrauerten Freund Doktor Lloyd benommen; aber jetzt befinde er sich in einer etwas unangenehmen Lage. Sein Mündel, der junge Sumner, habe sich klüglicherweise entschlossen, zu seinem Landsitz lieber Kirby Hall als den viel größeren Houghtonpark zu wählen, der ihm so plötzlich als Erbe zugefallen, weil er für letzteren eine Einrichtung brauchen würde, die abgesehen von dem Aufwand einem so jungen unverheiratheten Mann nur eine Last wäre. Er, Vigors, habe sich gegen seinen Mündel verpflichtet, dafür zu sorgen, daß er Kirby Hall an einem bestimmten Tag beziehen könne, aber Frau Ashleigh scheine sich nicht rühren zu wollen und werde nicht mit sich einig, wohin sie gehen solle. So falle ihm nun die leidige Aufgabe zu, die Wittwe und das Kind seines alten Freundes drängen zu müssen. Es sei tausend Schade, daß Frau Ashleigh so unschlüssig sei; Zeit zur Vorbereitung habe sie genug gehabt. Ein Wort von meiner Seite werde jetzt eine Wohlthat für sie sein und zu dem wünschenswerthen Erfolg führen. Das Abthaus sei frei und von einem so ausgedehnten Garten umgeben, daß die Damen das Land nicht vermissen würden. Es habe sich wohl auch ein anderer Liebhaber dafür gezeigt, aber – ‹ ›Kein Wort weiter,‹ rief ich; ›o Niemand als meine liebe alte Freundin Anna Ashleigh soll das Abthaus haben. Diese Frage wäre abgethan.‹ Ich entließ Herrn Vigors, bestellte meinen Wagen – das heißt Barkers gelbe Droschke mit seinen besten Pferden – und fuhr noch am nämlichen Tag nach Kirby Hall, das zwar in einem andern County aber nur fünfundzwanzig Meilen von hier liegt. Dort blieb ich über Nacht. Am andern Morgen um neun Uhr hatte ich Frau Ashleighs Einwilligung gegen das Versprechen, ihr alle Mühe zu ersparen, kam zurück, ließ den Hauseigenthümer rufen und schloß den Miethvertrag mit ihm ab; dann beauftragte ich Forbes, seine Möbelwagen nach Kirby Hall zu schicken und zuvörderst die Betten herüber zu führen. Gestern Abend langte mit ihrem eigenen Bett auch Anna Ashleigh an, und ich habe ihr schon heute Morgen einen Besuch gemacht. Der Platz gefällt ihr, ebenso auch ihrer Tochter Lilian. Ich lud sie auf heute Abend zu mir ein, um die beiden Damen der Gesellschaft vorstellen zu können; aber Frau Ashleigh lehnte es ab, weil sie zu müde sei. Die letzte Möbelfuhre sollte heute eintreffen, und obschon die liebe Frau einen so unschlüssigen Charakter hat, so ist sie doch nicht unthätig. Freilich wird sie heute nicht bloß das Angeben, wo die Tische und Stühle hingestellt werden sollen, so abgemattet haben. Herr Vigors ist ihr den ganzen Tag an die Hand gegangen und war dabei – ich habe hier ihr Billet – wie lauten doch die Worte? ohne Zweifel ›sehr gewaltthätig und tyrannisch‹ – nein, ›sehr gütig und aufmerksam‹ – andere Ausdrücke zwar, in der Anwendung auf Herrn Vigors, aber von gleicher Bedeutung.
»Am nächsten Montag – bis dahin müssen wir sie im Frieden lassen – machen wir alle bei den neuen Ankömmlingen unsern Besuch. Der Berg weiß, was er sich schuldig ist, und kann nicht einem Herrn Vigors, der nicht zu den Unsrigen gehört, wie achtbar er sonst auch sein mag, den gehörigen Empfang von Personen übertragen, denen sein Schooß Schutz gewähren soll. Der Berg kann nicht durch einen Stellvertreter gütig und aufmerksam, gewaltthätig oder tyrannisch sein. Sie sind für den Familienkreis Neugeborenen gleich zu achten, gegen die sich der Berg nicht als gleichgültiger Pathe benehmen darf, wie er denn überhaupt gegen Alle die Gefühle einer Mutter oder Stiefmutter hegt, je nachdem der Fall ist. Wo er sagt, ›dies kann keines von meinen Kindern sein,‹ tritt er in der That als Stiefmutter auf; in Allen aber, welche ich seinen Armen übergab, hat er, wie ich stolz behaupten darf, bisher nur werthvolle Bekanntschaften gefunden und ist ihnen eine Mutter gewesen. Und nun, mein lieber Herr Sloman, gehen Sie an Ihre Whistpartie, Poyntz ist ungeduldig, obschon er's nicht merken lassen will. Fräulein Brabazon, wollen Sie so gefällig sein, uns auf dem Piano etwas zu spielen? etwas Heiteres, aber nicht allzu lärmend – Herr Leopold Smithe wird Ihnen die Blätter umwenden. Frau Bruce, Ihr Lieblingsspiel Einundzwanzig mit vier neuen Rekruten. Doktor Fenwick, Ihnen geht es wie mir; Sie spielen nicht Karten und machen sich nichts aus der Musik. Setzen Sie sich zu mir und sprechen Sie etwas oder nichts, wie Sie wollen, während ich stricke.«
Nachdem die übrigen Gäste in solcher Weise theils am Spieltisch, theils anderweitig untergebracht waren, nahm ich neben der Frau Oberst in einer Fensternische Platz, in welcher man, da der Abend für einen Maitag ungewöhnlich warm war, das Fenster offen lassen konnte. Meine nächste Nachbarin also hatte Lilian als Kind gekannt, und von ihr wußte ich, mit welchem Namen ich das Bild bezeichnen durfte, das meine Gedanken bereits wie ein Heiligthum umfing. Sie konnte mir so viel sagen, was ich noch zu wissen wünschte. Aber wie sollte ich den Gegenstand zur Sprache bringen, ohne merken zu lassen, welch' hohes Interesse er für mich hatte? Wie sehr ich auch zu sprechen verlangte, fühlte ich doch meine Zunge gebunden; ich ließ einen unruhigen Blick nach dem Gesicht neben mir hingleiten und fühlte tief die vom Berg längst voll Ehrfurcht anerkannte Wahrheit, daß Frau Oberst Poyntz eine sehr überlegene Frau, eine gewaltige Persönlichkeit war.
Und da saß sie und strickte, – rasch und mit sicherer Hand: eine Frau in den Vierzigen, mit bronzirtem blassem Teint, bronzirtem braunem Haar, das stark gelockt und hinten kurz geschnitten war (ein schönes Haar für einen Mann); Lippen, die geschlossen eine unbeugsame Entschiedenheit zeigten, beim Sprechen aber geläufig leichten Humor und Alles treffenden feinen Witz entströmen ließen; Augen von röthlicher Nußfarbe, scharf, aber ruhig-achtsame, durchbohrende, furchtlose Augen; im Ganzen ein schönes Gesicht, das für einen Mann sogar sehr schön gewesen wäre; Profil scharf, bestimmt, klar geschnitten und in der Ruhe mit einem Ausdruck, dem einer Sphinx ähnlich; ein kräftiger, nicht allzu massenhafter Körper von Mittelgröße, aber mit einer Haltung und Gebehrdung, daß sie fast als schlank erschien; eigenthümlich weiße, feste Hände, die eine kräftige Gesundheit verriethen und auf ihrer Oberfläche keine Ader wahrnehmen ließen.
Da saß sie in ihr Stricken vertieft und ich an ihrer Seite, bald nach ihr selbst, bald nach ihrer Arbeit hinblickend mit der unbestimmten Vorstellung, daß die Fäden in dem Strang meines eigenen Liebes- oder Lebensgewebes rasch durch diese lautlosen Finger glitten. Und in der That, selbst in dem überspanntesten Romangewebe wird sicherlich eine der Parzen durch einen unpoetischen weiblichen Charakter »die sociale Bestimmung« vertreten, die so wenig zur Romantik paßt, als diese weltliche Königin des Berges.