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Das Haus, das ich in L– – bewohnte, war ein hübsches altmodisches Gebäude, ein Eckhaus, dessen eine Seite mit dem Haupteingang stets eine ruhige Wohnung bot, denn die Straße, welche sie begrenzte, hatte keine Läden, überhaupt keinen bedeutenden Verkehr gegen die Stadt hin und war zu gewissen Stunden des Tages fast ganz verlassen. Die andere Seite ging gegen eine Gasse hinaus und lag der langen und hohen Mauer eines Gartens gegenüber, der zu einem Fräuleinpensionat gehörte. Mein Stall lag in der Verlängerung des Hauses und stieß an eine Reihe kleinerer mit an der Vorderseite gelegenen Gärtchen versehener Wohnungen, die hauptsächlich Kaufmannsgehülfen und aus dem Geschäft zurückgetretenen Gewerbsleuten ein Unterkommen boten. Die kurze Gasse führte sowohl nach einer Hauptstraße als nach einigen angenehmen Spazierwegen durch die Wiesen und am Flußufer hin.
Ich bewohnte dieses Haus seit meiner Ankunft in L– –, und es bot mir viele Vortheile, indem es eine ziemlich centrale, für meine Patienten bequeme Lage hatte und doch dem Lärm entrückt war; auch konnte ich rasch ins Freie kommen und, wenn mir mein Beruf freie Zeit gestattete, zu Fuß oder zu Pferd »die solide Masse des Tages,« wie es der lateinische Dichter nennt, für mich zurechtschnitzeln, so daß ich es mit der Vergrößerung meines Einkommens nicht für ein besseres vertauschen mochte, obschon es nicht von einer Beschaffenheit war, wie sie wohl Frau Ashleigh für Lilian gewünscht haben würde. Der Hauptmangel, den es in dem Auge ›gentiler Leute‹ besaß, bestand darin, daß es früher einem Mitglied der Heilzunft angehört hatte, das mit dem Diplom eines Wundarztes einen Apothekerladen verbunden; aber eben dieser Laden verlieh dem Haus für mich einen besonderen Reiz, denn er lag gegen die Gasse hin, begrenzte den größeren Theil eines kleinen bekiesten Hofes, war gegen den Weg durch ein niederes Eisengeländer abgesperrt und stand mit dem Körper des Hauses nur durch einen kurzen schmalen, in die Hausflur ausmündenden Gang in Verbindung. Ich verwendete dieses Gelaß zu Anstellung von wissenschaftlichen Versuchen, mit denen ich mich in der Regel während der frühen Morgenstunden, eh' die Hausbesuche begannen, beschäftigte. Seine Abgeschiedenheit vom übrigen Haus sicherte mir Stille; die großen Kastanienbäume, die ihre Zweige über die Mauer des Pensionatgartens hinausbreiteten, boten dem Auge ein angenehmes Grün, und wenn ich Lust hatte, einen kleinen Spaziergang hinaus ins Feld zu machen, so brauchte ich nur die Glasthüre zu öffnen. Ich hatte den Laden so ganz zu meinem Heiligthum gemacht, daß nicht bloß mein Bedienter wußte, er dürfe mich hier nie stören, wenn es nicht etwa die Berufung zu einem Kranken nöthig machte, sondern auch dem Dienstmädchen verboten war, anders als auf specielles Aufgebot mit dem Besen und dem Wischer hineinzukommen. Vor Schlafengehen bildete es den letzten Dienst des Bedienten, für die Verschließung der Glasthüre und des Thors zu dem eisernen Geländer zu sorgen; den Tag über ging ich aber so oft durch diesen besonderen Zugang aus und ein, daß das Gatterthor selten verschlossen und die Glasthüre nie innen verriegelt war. Von Diebstahl hatte man, namentlich bei Tag, in L– – nicht viel zu fürchten; auch enthielt das von dem Hauptgebäude geschiedene Laboratorium nichts, was die gewöhnliche Habgier hätte reizen können. An der Wand waren von der Apotheke her noch einige Simse und Verschlüsse angebracht, und da und dort stand eine Flasche mit irgend einem chemischen Versuchspräparat. Zwei oder drei wurmstichige hölzerne Stühle, zwei oder drei schäbige alte Tische, ein alter Nußbaumschrank ohne Schloß, in den alles Mögliche bunt durch einander hineingesteckt war, und unterschiedliche häßlich aussehende mechanische Apparate – solche Gegenstände brauchte selbst ein ängstlicher Eigenthümer mit keiner besonderen Sorgfalt gegen die Möglichkeit des Gestohlenwerdens zu schützen. Man wird später finden, warum ich in meiner Beschreibung so ausführlich gewesen bin. An dem Morgen nach meiner ersten Zusammenkunft mit dem jungen Fremden, der einen so vortheilhaften Eindruck auf mich gemacht hatte, war ich wie gewöhnlich, während mein Dienstpersonal noch tief in den Federn lag, ein wenig vor der Sonne auf. Ich ging zuerst nach dem beschriebenen Gelaß, das ich fortan mein Studirzimmer nennen will, öffnete die Glasthüre, schloß das Gatter auf und schlenderte einige Minuten in dem stillen Gäßchen an der Mauer auf und ab, hinter der die Kastanienbäume in ihrem schönsten Sommerschmuck prangten. Nachdem ich mich in solcher Weise für die Arbeit erfrischt hatte, kehrte ich nach meinem Studirzimmer zurück und war bald in die Untersuchung eines jetzt wohlbekannten Apparats vertieft, der mir damals etwas Neues war und, wenn ich mich recht erinnere, den wegen seiner Untersuchungen über organische Elektricität so berühmten Dubois-Reymond zum Erfinder hatte. Er bestand aus einem an einem Tischeck befestigten Holzcylinder, und auf dem Tisch waren zwei Gefäße mit Salzwasser so aufgestellt, daß man, wenn man den Cylinder mit den Händen umfaßte, jeden Zeigefinger in eines der Wassergefäße tauchen konnte; in letzterer befand sich je eine Metallplatte, die durch Drähte mit einem Galvanometer und seiner Nadel in Verbindung stand. Wenn man nun den Cylinder fest mit der rechten Hand faßt und die linke völlig unbetheiligt läßt, so soll sich der Theorie nach die Nadel von Süden nach Westen bewegen; bedient man sich dagegen in ähnlicher Weise der linken Hand, so weicht die Nadel von Westen nach Norden ab. Daraus wird nun gefolgert, daß das Nervensystem auf den inducirten elektrischen Strom einwirke, und daß der menschliche Wille, welcher die erforderliche Muskeltraktion bedinge, die Ursache der Nadelabweichung sei. Ich dachte mir, wenn diese Theorie sich durch das Experiment bestätige, so dürfte die Entdeckung ein wichtiges ungeahnetes Geheimniß der Wissenschaft aufschließen; denn welch' ein weites Feld öffnete sich nicht dann für die Thätigkeit des Geistes, wenn sich erwies, daß der Wille einen Einfluß übte auf den elektrischen Strom, folglich auch auf die gesammte lebende oder unbelebte Materie, die mehr oder weniger Elektricität in sich hat. Vielleicht gelangte man durch eine Reihe sorgfältig angestellter Versuche zu der Lösung von Problemen, für die das Newtonische Gesetz der Schwere nicht ausreichte, und – – Doch ich darf mich durch die unbestimmten Erinnerungen aus einer Wissenschaft, die ich so lang vernachlässigt und zur Hälfte wieder vergessen hatte, nicht hinausreißen lassen in das endlose Feld der Vermuthungen.
Der Versuch befriedigte mich nicht. Die Nadel rührte sich allerdings, aber unstät und nicht in den Richtungen, welche sie der Theorie nach einschlagen sollte. Ich war eben im Begriff, in liebloser Verachtung gegen die Lehrsätze des französischen Physikers das Experiment aufzugeben, als ich an meiner vorderen Hausthüre laut schellen hörte. Während ich noch lauschte, ob mein Bedienter dem Aufgebot wohl Folge gebe, und mir Gedanken machte, welcher von meinen Patienten möglicher Weise zu so ungewohnter Stunde ein Anliegen haben mochte, wurde meine Glasthüre durch einen Schatten verdunkelt. Ich blickte auf und erkannte das schöne Gesicht des Herrn Margrave. Der Schieber der Thüre war bereits theilweise aufgezogen; er schob ihn noch höher hinauf und trat in das Zimmer.
»Haben Sie zu dieser Stunde an der Hausthüre geklingelt?« fragte ich.
»Ja, und als ich erst nach dem Klingeln bemerkte, daß die Läden noch geschlossen waren, schämte ich mich und wollte mich lieber davon machen, als dem vorwurfsvollen Gesicht einer beleidigten Hausmagd, die ich ihrer Morgenträume beraubt, entgegentreten. Ich bog daher, durch das Grün der Kastanienbäume verlockt, in diese hübsche Gasse ein, und wie ich Ihrer durch das Fenster ansichtig wurde, faßte ich Muth – und da bin ich. Sie verzeihen mir doch?« Während er so sprach, fuhr er fort, auf dem bestreuten Boden der lange nicht mehr getünchten Stube mit der wogenden Unruhe eines in seinen Käficht eingesperrten Thiers auf- und abzugehen: dann fuhr er in kurzen abgerissenen Sätzen fort, die nur in losem Zusammenhang standen, aber durch eine Stimme so frisch und musikalisch wie der Schlag der Lerche so zu sagen in Harmonie gebracht wurden. »Ja, wohl da, Morgenträume! Träume, die das Leben eines solchen Morgens verzehren. Rosige Pracht einer Sommermorgenröthe! Hast du nicht Mitleid mit dem Thoren, der lieber im Bett liegt und träumt, als lebt? Wie, und Sie, kräftiger Mann mit solchen edlen Gliedern in dieser Höhle? Haben sie nicht eine Sehnsucht, sich hinaus zu stürzen in das Grün der Felder und sich zu baden in dem Blau des Flusses?«
Er hielt inne. Das graue Licht des aufdämmernden Morgens beleuchtete ihn; seine Augen glänzten mit Lust der kommenden Sonne entgegen, und seine Lippen schienen selbst in ihrer Ruhe zu lächeln.
Dann aber blitzten diese Augen über die Wände, den Boden, die Simse, die Flaschen, die Apparate und die Modelle hin, bis sie auf dem an dem Tisch befestigten Cylinder haften blieben. Er trat heran, betrachtete ihn sorgfältig und fragte mich, was dies sei? Ich erklärte ihm die Sache, und um sie ihm deutlicher zu machen, setzte ich mich nieder und erneuerte den Versuch mit gleich schlechtem Erfolg. Die Nadel, welche sich in einem Bogen von dreißig bis vierzig oder gar fünfzig Graden hätte bewegen sollen, machte nur einige unruhige und unbestimmte Schwingungen.
»Halt!« rief der junge Mann. »Ich sehe, an was es liegt. Sie haben eine Wunde an Ihrer rechten Hand.«
Dies war richtig. Ich hatte mir einige Tage vorher die rechte Hand bei einem chemischen Versuch verbrannt, und die Beschädigung war noch nicht geheilt.
»Ja,« versetzte ich. »Aber was macht dies?«
»Sehr viel. Die geringste Hautverletzung an der experimentirenden Hand veranlaßt auf den elektrischen Strom chemische Einwirkungen, die Sie mit Ihrem Willen nicht bewältigen können. Lassen Sie mich den Versuch machen.«
Er nahm meine Stelle ein und hatte kaum den Cylinder gefaßt, als auch schon das Galvanometer genau dieselbe Bewegung machte, welche dem französischen Physiker zufolge aus dem Experiment hervorgehen sollte.
Ich staunte.
»Aber wie kömmt es, Herr Margrave, daß Sie so vertraut mit einem wissenschaftlichen Prozeß sind, der noch so wenig bekannt ist und erst kürzlich entdeckt wurde?«
»Ich, vertraut? Nicht doch. Aber ich habe eine Freude an allen Versuchen, die auf das thierische Leben Bezug haben. Namentlich ist für mich die Elektricität voll Interesse.«
Auf dies hin holte ich (wie ich meinte) ihn aus und er antwortete mir mit großer Geläufigkeit. Ich war erstaunt, zu finden, daß dieser junge Mann, von dem ich glaubte, sein Gehirn habe sich nie mit Gedanken an ernste Dinge beschäftigen mögen, sich recht gut auf die physikalische Wissenschaft und namentlich auf mein Lieblingsstudium, die Chemie, verstand; doch war mir nie ein Student vorgekommen, der mit einem so ausgedehnten Wissen so veraltete oder wunderliche Ansichten verbunden hätte. In dem einen Satz zeigte er, daß er irgend eine neue Entdeckung von Liebig oder Faraday vollkommen inne hatte, und im anderen ließ er den abenteuerlichen Ideengang eines Kardan oder van Helmont erkennen. Ich brach in ein helles Lachen aus wegen einer Paradoxe über sympathetische Kräfte, die er hinstellte, als ob sie eine ausgemachte Wahrheit sei.
»Ich bitte, sagen Sie mir, wen hatten Sie in der Physik zum Lehrer?« sagte ich; »denn ein fähiger Schüler hätte nie einen verschrobeneren Unterricht erhalten können.«
»Der Lehrer ist nicht Schuld daran,« antwortete er mit seinem heiteren Lachen. »Ich bin ein bloßer Papagei und schwatze einige Sätze nach, die ich da und dort aufgelesen habe. Indeß haben alle Forschungen in dem Gebiet der Natur und alle Muthmaßungen über ihre Geheimnisse Interesse für mich. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, der Grund, warum ich mich sehnte, Ihre Bekanntschaft zu machen, liegt nicht bloß in Ihrem Werk, in das ich einen flüchtigen Blick gethan hatte (entschuldigen Sie, aber alle meine Lektüre ist nur flüchtig), sondern namentlich auch in dem Umstand, daß der junge **** mir eine Mittheilung machte, welche mir hier von Allen, mit denen ich in Berührung kam, bestätigt wurde: er schilderte Sie mir nämlich als einen von den wenigen praktischen Chemikern, die mit großer Vorsicht auch eine große Kühnheit verbinden – als einen Mann, der gern auf neue Versuche eingeht, aber auch den Maßstab der strengsten Kritik an sie anlegt. Nun geht in diesem meinem schwindligen Kopf ein wildes Experiment vor, und ich wünsche, daß Sie eines Tages, wenn Sie Muße dazu haben, es der Untersuchung unterwerfen. Ich bin begierig, zu sehen, was Sie daraus machen können, wenn Sie es fixirt haben, wie diesen Cylinder da. Ich bin überzeugt, daß Sie der Mann dazu sind.«
»Was kann dies sein?«
»Etwas, das mit den in Ihrem Werk entwickelten Theorien verwandt ist. Sie möchten in jeder individuellen Constitution die specielle Substanz, die ihr etwa in dem Gleichgewicht der Gesundheit abgeht, erneuen oder erhalten. Aber Sie geben zu, daß in den meisten Fällen die beste Kur einer Krankheit weniger in der Behandlung dieser selbst, als in einer Unterstützung und Anregung des Systems besteht, wodurch die Natur in den Stand gesetzt wird, durch ihre Eigenthätigkeit die Krankheit zu überwinden und das gestörte Gleichgewicht herzustellen. Wenn Sie also finden, daß in gewissen Fällen von Nervenschwäche sich eine Substanz, die Salpetersäure zum Beispiel, wirksam erweist, so suchen Sie den Grund in dem Umstand, daß der Salpetersäure eine Eigenthümlichkeit innewohnt, durch welche die Nervenenergie so zu sagen gehemmt, das heißt, jede ungehörige Verschwendung gehindert wird. Ferner unterstützen in manchen Fällen des sogenannten kalten Fiebers Reizmittel, zum Beispiel Ammonium, die Natur in dem Bestreben, sich selbst der Störung zu entledigen, welche ihre normale Thätigkeit beeinträchtigt; und nach demselben Grundsatz wird, wie ich höre, behauptet, daß in jenen Spitälern, in welchen das kräftigende System einer guten Ernährung und alkoholischer Reizmittel im Brauch ist, weit weniger Menschenleben verloren gehen.«
»Ihre medicinische Gelehrsamkeit überrascht mich,« sagte ich lächelnd. »Ich will mich nicht damit aufhalten, Ihnen bemerklich zu machen, wo sie etwas oberflächlich mit strittigen Punkten im Allgemeinen und mit meiner eigenen Theorie im Besonderen umspringt, möchte aber dagegen die Frage stellen, welche Folgerungen Sie aus Ihren Vordersätzen ziehen.«
»Einfach diese, daß allen belebten Körpern, wie verschieden sie auch sein mögen, ein gemeinsames Prinzip, das Lebensprinzip selbst, zu Grund liegen müsse. Wenn nun dieses Prinzip sich durch gewisse Mittel ersetzen und das Geheimniß derselben sich erforschen ließe?«
»Pah! Das alte Hirngespinst der mittelalterlichen Empiriker.«
»Nicht doch – die mittelalterlichen Empiriker haben große Entdeckungen gemacht. Sie spotten über van Helmont, der das Prinzip aller Dinge im Wasser suchte; aber er entdeckte bei seinen Forschungen die unsichtbaren Körper, die wir Gase nennen. Nun muß das Lebensprinzip zuverlässig einem Gas zugeschrieben werden. »Nach den erwähnten Ansichten müssen wir das Leben einem Gas, das heißt, einem luftförmigen Körper zuschreiben.« Liebigs organische Chemie. Und die Chemie darf nicht verzweifeln, wo immer es sich um die Hervorbringung eines Gases handelt! Aber ich kann jetzt nicht länger disputiren – kann es nie lang in einem Zug fort – wir verderben uns den schönen Morgen, und, o Lust! Die Sonne ist heraus. Sehen Sie – kommen Sie mit hinaus ins Freie und begrüßen Sie die große Lebensspenderin von Angesicht zu Angesicht.«
Ich konnte der Einladung des jungen Mannes nicht widerstehen. Einige Minuten später befanden wir uns in der stillen Gasse unter dem Ueberhang der Kastanienbäume. Margrave sang in gedämpftem Ton eine wilde Weise mit einem Text in einer fremden Sprache.
»Was sind das für Worte? Sie gehören, wie mich däucht, keiner europäischen Sprache an, denn ich weiß ein bischen von fast allen, die auf unserem Erdtheil gesprochen werden, wenigstens von denen, die unter den civilisirteren Völkern üblich sind.«
»Mit Ihren civilisirten Völkern! Was ist Civilisation? Mein Text rührt von Männern her, welche Reiche gründeten, als Europa selbst noch uncivilisirt war! Geben Sie Acht – ist dies nicht ein prächtiges, altes Lied?«
Er erhob seine Augen gegen die Sonne und ließ seine Stimme klar und tief, ähnlich den Tönen einer mächtigen Glocke, erschallen. Die Weise war großartig; die Worte hatten einen klangreichen Schwung, der dazu paßte, und sie schienen mir in ihrer Feierlichkeit zugleich einen Jubel auszudrücken. Dann hielt er plötzlich inne. Ein Pfad von der Gasse aus hatte uns ins freie Feld geführt, das bereits halb im Sonnenlicht gebadet da lag, während die Hecken in dem perlenden Thau glänzten.
»Ihr Gesang müßte sich gut ausnehmen zur schmetternden Begleitung der Cymbeln und der Orgel,« sagte ich. »Ich verstehe mich nicht auf Melodieen; aber diese macht den Eindruck einer religiösen Hymne auf mich.«
»Sie haben vortrefflich gerathen. Sie ist eine Hymne der persischen Feueranbeter an die Sonne. Der Dialekt ist sehr verschieden von dem neupersischen. Der große Cyrus hat vielleicht so gesungen auf seinem Marsch nach Babylon.«
»Und wo haben Sie das Lied gelernt?«
»In Persien selbst.«
»Sie sind viel gereist – haben viel gelernt – und sind so jung und so frisch. Ist es nicht ungebührlich, wenn ich frage, ob Ihre Eltern noch leben und ob Sie ganz Ihr eigener Herr sind?«
»Ihre Frage ist mir sogar angenehm, und Sie können meine Antwort in der ganzen Stadt bekannt machen. Ich habe keine Eltern – nie welche gehabt.«
»Nie Eltern gehabt?«
»Wenigstens haben mich nie Eltern anerkannt. Ich bin ein natürlicher Sohn, ein Heimathloser, ein Niemand. Als ich herangewachsen war, erhielt ich einen anonymen Brief, in welchem mir mitgetheilt wurde, daß eine gewisse Summe – den Betrag brauche ich nicht zu nennen – bei einem englischen Bankier auf meinen Namen stehe und daß meine Mutter in meiner Kindheit, mein Vater erst vor Kurzem gestorben sei; ich sei ein Kind der Liebe, und da mein Vater nicht wolle, daß das Geheimniß meiner Geburt je enthüllt werde, so habe er nicht testamentarisch, sondern noch bei Lebzeiten dadurch für mich gesorgt, daß er so und so viel Baarmittel für mich dem Freunde vertraute, von welchem der Brief herrühre; ich solle mir keine Mühe geben, mehr zu erfahren. Dies that ich dann auch. Ich bin jung, gesund und reich – ja, reich! Jetzt wissen Sie Alles, und es wird am besten sein, wenn Sie es in die Oeffentlichkeit bringen, damit man mir nicht zur Last legen kann, ich habe mich unter falschen Vorwänden in die Gunst der Männer oder vielleicht in die Liebe eines Mädchens eingeschlichen. Sie sehen, ich habe nicht einmal ein Recht an den Namen, den ich trage. Bst! Lasten Sie mich jenes Eichhörnchen fangen.«
Wie pantherartig war nicht der Sprung, den er machte! Doch das Eichhörnchen war ihm entwischt und eine Eiche hinangeklettert – er im Nu dem Thierchen nach. Staunend folgten ihm meine Blicke, als er sich von Ast zu Ast hob. Seine hellen Augen funkelten und seine Zähne glänzten durch das grüne Laub. Bald darauf hörte ich das Eichhörnchen einen schrillen, kläglichen Schrei ausstoßen, auf den von Seiten des Jünglings ein fröhliches Lachen folgte: dann ließ sich Margrave aus dem grünen Blätterlabyrinth so leicht wie der fußbeflügelte Merkur wieder auf das Gras nieder.
»Ich hab' es – welche schöne braune Augen!«
Aber plötzlich wandelte sich der heitere Ausdruck seines Gesichts in den eines Wilden um; das Eichhörnchen hatte seinen Oberleib losgemacht und ihn gebissen. Das arme Thierchen! Im Nu war ihm der Hals abgedreht und sein kleiner Leib zu Boden geschleudert; an dem schönen, jungen Menschen aber zitterte jede Muskel vor Wuth, und er stampfte wieder und wieder mit dem Fuß auf sein Opfer. Ich faßte ihn unwillig beim Arm. Er wandte sich gegen mich um wie ein wildes Thier, das in seinem Fraß gestört wird. Seine Zähne waren verbissen, seine Hand hob sich und seine Augen funkelten wie Feuerbälle.
»Pfui!« sagte ich ruhig. »Schämen Sie sich!«
Er fuhr noch eine kleine Weile fort, mich so wild anzusehen; seine Augen stierten und sein Athem schnaubte. Dann aber fiel, als habe er durch eine unwillkührliche Anstrengung sich bemeistert, die Hand an seiner Seite nieder, und er sagte in kleinlautem Tone:
»Ich bitte um Verzeihung – ja, wahrhaftig, ich thue es. Ich war einen Augenblick außer mir; ich kann den Schmerz nicht ertragen.« Dann betrachtete er wie in tiefem Mitleid mit sich selbst seine verwundete Hand. »Die boshafte Bestie!« Dann stampfte er wieder auf den Körper des Eichhörnchens, der bereits ganz formlos geworden war.
Ich wandte mich voll Abscheu ab und ging weiter.
Doch bald fühlte ich meinen Arm sanft bei Seite gezogen, und eine Stimme, weich wie das Girren der Taube, klang in meinen Ohren. Dem Zauber, mit welchem dieser außerordentliche Sterbliche auch den Harten und Kalten zu gewinnen vermochte, konnte man nicht widerstehen – vielleicht diese gerade am wenigsten. Denn wie man in dem hohen Alter, wann das Herz eingeschrumpft und nur eines matten Schlags für die erwachsenen nächsten Verwandten fähig zu sein scheint, die verhärtete Selbstsucht plötzlich weich werden sieht gegen ein spielendes Kind – oder wie im mittleren ein Menschenfeind, der in Folge erfahrener Leiden und Ungerechtigkeiten sich gegen sein eigenes Geschlecht abschließt, sich vielleicht mit der niedereren Thierwelt befreundet und in eine mildere Stimmung versetzt wird durch die Liebkosungen eines Hundes, so lag für den Weltling oder den Cyniker eine Anziehung in der Frische dieses fröhlichen Lieblings der Natur – eine Anziehung, ähnlich der, welche ein verzogenes, eigensinniges schönes Kind, oder ein zierliches, halbgelehriges, halbwildes Thierchen übt.
»Aber,« bemerkte ich mit einem Lächeln, als ich fühlte, daß mein Unwille verschwunden war, »schickt sich's wohl für einen jungen Philosophen, daß er wegen dieser Kleinigkeit in solcher Weise die Leidenschaft über sich Herr werden läßt?«
»Kleinigkeit?« versetzte er in klagendem Tone. »Ich sage Ihnen, es ist Schmerz, und der Schmerz ist keine Kleinigkeit. Ich leide – sehen Sie nur her.«
Ich nahm seine Hand in die meinige und betrachtete sie. Das Thierchen hatte ohne Zweifel scharf zugebissen: doch die Hand war so, wie sie etwa der griechische Bildhauer einem Gladiator gibt – nicht groß (die Extremitäten sind nie groß an Personen, die ihre Kraft mehr dem ebenmäßigen Bau aller ihrer Glieder, als der vorzugsweise nachhaltigen Uebung gewisser Muskelpartieen verdanken, durch welche andere Partieen geschwächt werden), aber mit festen Gelenken, derben Fingern, feinen Nägeln, einer massigen Handfläche und der geschmeidigen platten Haut, an der wir erkennen, zu was die Natur die menschliche Hand geschaffen, nämlich zur geschickten, raschen und kräftigen Vollbringerin aller der Wunder, durch welche eben die Natur sich aus dem Zustand der Wildniß emporgerungen hat.
»Es ist seltsam,« sagte ich gedankenvoll, »aber Ihre Empfindlichkeit gegen den Schmerz bestätigt mich in meiner, von der gewöhnlichen Annahme abweichenden Ansicht, welche das lebhafteste Schmerzgefühl denen zuweist, deren animalische Organisation sich im Zustand der Vollkommenheit befindet; denn hier ist das Gefühl der Vitalität ungemein fein, jede Beschädigung ruft so zu sagen die Abwehr des ganzen Systems in Thätigkeit, und dieser Widerstand wird durch alle die Nerven, welche in der Garnison des Lebens den Wachendienst versehen, dem Bewußtsein zugeleitet; doch findet meine Theorie kaum eine Stütze in einer allgemein giltigen Thatsache. Die wilden Indianer müssen eine ebenso vollkommene Gesundheit, ein ebenso entwickeltes Nervensystem besitzen, wie Sie – dies beweist die wunderbare Feinheit ihres Gehörs, ihres Gesichts und ohne Zweifel auch ihres Tastsinns; dennoch sind sie gleichgiltig gegen körperlichen Schmerz. Oder muß ich vielleicht Ihren Stolz dadurch kränken, daß ich annehme, sie seien im Besitz einer Ihnen abgehenden moralischen Eigenschaft, welche sie befähigt, sich über den Schmerz zu erheben?«
»Die wilden Indianer,« versetzte Margrave finster, »haben keine so vollkommene Gesundheit wie ich, und was Ihre sogenannte Vitalität, das wonnige Lebensbewußtsein, betrifft, so sind sie in Vergleichung mit mir Stöcke und Steine.«
»Wie wissen Sie dies?«
»Weil ich unter ihnen gelebt habe. Es ist ein Irrthum, wenn man annimmt, der Wilde sei gesünder, als der civilisirte Mensch, wenn anders dieser mäßig lebt – und selbst wenn es nicht der Fall ist, so besitzt er einen Urstoff, der Jahre lang aushält, was einen Wilden in einem Monat aufreiben würde. Die Feinheit ihrer Sinne rührt nicht von einem besonders ausgezeichneten Grad des Gleichgewichts in ihrer körperlichen Organisation her, sondern ist eine Eigenthümlichkeit, die sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzt und von früher Jugend an durch Uebung geschärft wird. Ist der Jagdhund stärker und gesünder, als der Bullenbeißer, weil er vermöge einer Rassenanlage und früher Dressur verstohlen auf sein Wild zuschleicht und es regungslos steht? Doch davon später – jetzt habe ich Schmerz. Schmerz, Schmerz! Gibt es in der Welt etwas Schlimmeres, als den Schmerz?«
Zufällig hatte ich einige Zwiebel der weißen Lilie bei mir, die ich vor meiner Rückkehr nach Haus bei einem Kranken wegen einer von jenen örtlichen acuten Entzündungen zurücklassen wollte, in welchen dieses einfache Mittel oft große Erleichterung schafft. Ich zerschnitt eine davon und band die kühlenden Deckblätter mit meinem Taschentuch um die verwundete Hand.
»So,« sagte ich. »Zum Glück werden Sie, da Sie den Schmerz lebhafter fühlen, als Andere, auch rascher davon befreit sein.«
Schon nach einigen Minuten fühlte mein Begleiter große Linderung und drückte seine Dankbarkeit gegen mich nicht nur in übersprudelndem Redefluß, sondern auch mit einer Freude in seinen Zügen aus, die mich eigentlich rührte.
»Es ist mir fast zu Muth,« sagte ich, »als ob ich das Weinen eines Kindes gestillt und es lächelnd der Mutterbrust zurückgegeben hätte.«
»Das haben Sie auch. Ich bin ein Kind, und die Natur ist meine Mutter. Oh, wieder zurückgegeben zu sein der vollen Wonne des Lebens, dem Geruch der wilden Blüten, dem Gesang der Vögel und dieser Luft – dieser köstlichen Sommerluft!«
Ich wußte nicht, wie es kam, aber als ich in jenem Augenblick ihn betrachtete und sprechen hörte, freute ich mich, daß sich Lilian nicht in L– – befand.
»Aber ich bin herausgekommen, um zu baden. Können wir nicht dazu jenen Fluß benützen?«
»Nein. Sie würden den Verband an Ihrer Hand in Unordnung bringen; und bei allen körperlichen Leiden, vom kleinsten bis zum größten, ist es am zweckmäßigsten, daß man der Natur Ruhe gönnt, so bald man das Mittel getroffen hat, das ihre Heilbestrebungen unterstützt.«
»So gehorche ich; aber ich liebe das Wasser.«
»Sie schwimmen natürlich.«
»Fragen Sie den Fisch, ob er schwimme. Fragen Sie den Fisch, ob er mir entwischen könne. Es ist mir eine Lust, unterzutauchen – tief unterzutauchen, einer erschreckten Forelle nachzustürzen wie der Otter, und dann mich zu wälzen in dem kühlen, duftigen Schilf, oder in dem Wald von smaragdenen Wasserpflanzen, die bisweilen auf dem Grunde klarer Flüsse wallen. Mann! Mann! Könnten Sie nur eine Stunde sich meines Lebens erfreuen, und Sie würden wissen, was es schreckliches ist um das Sterben!«
»Die Sterbenden aber denken nicht so; sie gehen ruhig und lächelnd dahin, wie auch Sie eines Tages thun werden.«
»Ich – ich – eines Tages sterben – sterben?«
Und er sank auf das Gras nieder, in dem er sein Gesicht verbarg, und schluchzte laut.
Ehe ich noch ein halbdutzend Worte zu seiner Beschwichtigung hervorgebracht hatte, war er schon wieder aufgesprungen; er wischte sich die Thränen aus den Augen und begann ein wildes barbarisches Lied zu singen. Ich störte ihn nicht darin, sondern war bald in Gedanken vertieft über das seltsame Wesen dieses launischen, nur seinen Naturtrieben folgenden Menschen, der einem so ernsten und praktischen Mann wie ich Interesse eingeflößt hatte.
Ich wußte nicht, wie ich eine solche kindische Leidenschaftlichkeit, einen so aller Zucht entbehrenden Mangel an Selbstbeherrschung in Einklang bringen sollte mit der durch Reisen erweiterten Menschenkenntniß und mit einer Erziehung, welche bei aller Unstetigkeit und Unregelmäßigkeit zu einer oder der anderen Zeit doch einer angestrengten geistigen Thätigkeit und ernstem Studium nicht fremd geblieben sein konnte. Es schien ihm jenes geheimnißvolle Etwas zu fehlen, das so nothwendig ist, um unsere Vermögen, wie ausgezeichnet sie auch in ihrer Gesondertheit sein mögen, harmonisch zusammenzuhalten, der Schnur ähnlich, an welcher ein Kind mechanisch die gesammelten Blumen festbindet, um sie beliebig zum Kranz oder zur Guirlande zu bilden.