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Ich habe einmal in Wuthering Heights einen Besuch gemacht, aber ich sah sie nicht mehr, seit sie von mir wegging. Josef hielt die Tür in der Hand, als ich nach ihr fragte, und wollte mich nicht hindurchlassen. Er erklärte, Mrs. Linton Heathcliff habe zu tun, und Master Linton sei nicht zu Haus. Zillah hat mir allerhand über ihre Lebensweise erzählt, sonst wüßte ich nicht einmal, wer von ihnen gestorben und wer noch da ist. Sie hält Catherine für sehr hochmütig und mag sie nicht. Die junge Frau hatte in der ersten Zeit einige Hilfe von ihr verlangt; Mr. Heathcliff aber sagte, Zillah solle sich ihren eigenen Angelegenheiten widmen und seine Schwiegertochter habe selbst für sich zu sorgen. Die engherzige Person gab sich gern damit zufrieden. Catherine legte einen kindlichen Unmut über diese Vernachlässigung an den Tag, erwiderte sie mit Mißachtung und drängte Zillah auf die Seite ihrer Feinde, nicht anders, als hätte sie ihr ein ganz großes Unrecht zugefügt.
Vor sechs Wochen, also kurz ehe Sie hierher kamen, Mr. Lockwood, traf ich Zillah im Moor und hatte eine lange Unterhaltung mit ihr. Sie erzählte mir folgendes:
»Das erste, was Mrs. Catherine nach ihrer Ankunft auf Wuthering Heights tat, war, die Treppe hinaufzulaufen, ohne mir und Josef auch nur Guten Tag zu sagen. Sie schloß sich in Mr. Lintons Zimmer ein und blieb dort bis zum Morgen. Während der Herr und Hareton Earnshaw beim Frühstück waren, kam sie herunter und fragte mit zitternder Stimme, ob man den Doktor holen könne. Ihr Vetter sei sehr krank. ›Das wissen wir‹, antwortete Mr. Heathcliff. ›Aber sein Leben ist keinen Heller wert, und ich gebe für ihn keinen Heller mehr aus.‹
›Ich weiß nicht, was ich tun soll. Und wenn mir niemand hilft, wird er sterben.‹
›Befreie mich von deiner Anwesenheit und laß mich nie wieder ein Wort über ihn hören! Hier kümmert sich niemand darum, was mit ihm wird. Wenn du dafür Sinn hast, spiele die Pflegerin. Wenn nicht, schließe ihn ein und laß ihn, wie er ist.‹
Dann begann sie mich zu plagen (fuhr Zillah fort), aber ich versetzte, daß ich mit dem lästigen Burschen schon Arbeit genug gehabt hätte. Wir hätten jeder unsere Beschäftigung, und die ihre sei nun, ihn zu pflegen, wie Mr. Heathcliff angeordnet habe. Auf welche Art sie eigentlich miteinander umgingen, weiß ich nicht. Er hat sie sicher reichlich geärgert. Tag und Nacht stöhnte er, so daß sie nicht gerade viel Ruhe hatte; man konnte es ihrem blassen Gesicht und den umränderten Augen ansehen. Manchmal kam sie ganz verstört in die Küche, als wollte sie bei uns Hilfe suchen. Aber ich habe mich auf keine Unbotmäßigkeit eingelassen; das wage ich nie, Mrs. Dean. Obwohl ich es für falsch hielt, nicht nach Dr. Kenneth zu schicken, war es nicht meine Sache, einen Rat zu geben oder zu widersprechen; ich mische mich da niemals ein. Zuweilen, nach dem Zu-Bett-Gehen, habe ich meine Tür nochmals aufgemacht: Sie saß oben auf der Treppe und weinte. Rasch habe ich die Tür wieder geschlossen, aus Angst, sie könnte mich überreden, irgendwie einzugreifen. Ja, sie tat mir damals wirklich leid, aber meine Stelle wollte ich nicht verlieren.
Eines Nachts kam sie geradewegs in mein Zimmer und erschreckte mich über alle Maßen, indem sie rief: ›Geh zu Mr. Heathcliff und sage, daß sein Sohn stirbt! Diesmal ist es sicher, er stirbt! Steh rasch auf und sage es ihm!‹
Nach diesen Worten verschwand sie wieder. Eine Viertelstunde lang lauschte ich zitternd. Nichts rührte sich; alles still im Hause.
Sie irrt sich, sagte ich mir. Er ist darüber hinweggekommen. Ich brauche niemanden zu stören. Wieder schlummerte ich ein. Aber mein Schlaf wurde zum zweitenmal unterbrochen, die Klingel läutete, die einzige, die wir haben; sie ist nur für Linton eingerichtet worden. Der Herr rief, ich solle nachsehen, was es gäbe, und den beiden sagen, er wolle diesen Lärm nicht noch einmal hören.
Darauf bestellte ich ihm, was mir Mrs. Catherine gesagt hatte. Fluchend kam er nach ein paar Minuten mit einer Kerze heraus und ging in ihr Zimmer. Ich folgte. Mrs. Catherine saß neben dem Bett, die Hände auf den Knien gefaltet. Ihr Schwiegervater trat hinzu, hielt das Licht an Lintons Gesicht, sah ihn an und berührte ihn. Dann wandte er sich zu ihr:
›Nun, Catherine, wie ist dir?‹
Sie schwieg.
›Wie dir jetzt ist, Catherine?‹
›Er ist geborgen. Und ich bin frei. Mir könnte gut zumute sein – aber‹, fuhr sie mit unverhohlener Bitterkeit fort, ›du hast mich so lange allein gegen den Tod kämpfen lassen, daß ich nur noch den Tod sehe und fühle. Ich bin selbst wie tot.‹
Und sie sah wahrhaftig so aus! Ich gab ihr etwas Wein. Hareton und Josef, geweckt durch das Klingeln und das Geräusch der Schritte, hörten uns von draußen sprechen und traten ins Zimmer. Josef war zweifellos sehr zufrieden damit, daß der Junge gestorben war. Hareton schien etwas aufgeregt, obwohl er mehr Catherine anstarrte als auf Linton achtete. Der Herr hieß ihn wieder zu Bett gehen; wir brauchten seine Hilfe nicht. Dann ordnete er an, daß Josef den Leichnam in sein Zimmer brachte. Ich mußte in meines zurückkehren, und Mrs. Catherine blieb allein.
Am Morgen schickte er mich zu ihr: sie solle zum Frühstück herunterkommen. Sie hatte sich entkleidet und schien schlafen zu wollen. Sie sei krank. Das wunderte mich nicht; ich richtete es Mr. Heathcliff aus, und er antwortete:
›Gut, bis nach dem Begräbnis laß sie in Ruhe. Ab und zu verfüge dich in ihr Zimmer und bringe ihr, was sie braucht. Sobald sie sich besser fühlt, melde es mir.‹«
– Cathy blieb vierzehn Tage lang oben, wie Zillah berichtete, die täglich zweimal nach ihr sah und jetzt gern freundlicher zu ihr gewesen wäre. Aber alle Versuche einer Annäherung wurden schroff und stolz abgewiesen.
Einmal stieg Mr. Heathcliff hinauf, um ihr das Testament Lintons zu zeigen. Alles, was er und sie an beweglichem Vermögen besaßen, hatte er seinem Vater vermacht. Der armselige Mensch war während der einen Woche ihrer Abwesenheit, als Mr. Edgar starb, durch Drohungen oder Schmeicheleien zu diesem Schritte getrieben worden. Als Minderjähriger konnte er über die Ländereien nicht verfügen. Diese hatte Mr. Heathcliff im Namen seiner Frau wie auch in seinem eigenen Namen für sich beansprucht und in Besitz genommen. Es scheint, daß er dazu berechtigt war. Auf jeden Fall kann Catherine ohne Geldmittel und ohne Freunde ihm dieses Eigentum nicht streitig machen.
»Sonst ist niemand in die Nähe ihrer Tür gekommen«, erzählte Zillah, »niemand hat nach ihr gefragt. An einem Sonntagnachmittag kam sie zum erstenmal in den Wohnraum herunter. Als ich das Essen hinaufbrachte, hatte sie geschrien, sie könne die Kälte nicht länger ertragen. Ich hatte ihr geantwortet, der Herr reite nach Grange, und Hareton und ich brauchten sie nicht zu hindern, herunterzukommen. Daher erschien sie bei uns, sobald sie das Pferd davontraben hörte. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, die blonden Locken hinter die Ohren zurückgekämmt, straff wie bei einem Quäker; ganz glatt wurde ihr Haar nie. Josef und ich gehen sonntags gewöhnlich zur Kapelle. (Die Kirche hat jetzt keinen Pfarrer mehr, und man nennt diesen Versammlungsraum der Methodisten oder der Baptisten, oder welche Sekte es sonst ist, in Gimmerton: die Kapelle). Nur Josef war diesmal hingegangen; ich hielt es für angebracht, daheim zu bleiben. Für junge Leute ist es besser, unter Aufsicht eines älteren Menschen zu stehen. Hareton ist überhaupt bei all seiner Schüchternheit durchaus kein Muster richtigen Benehmens. Ich sagte ihm also, seine Kusine würde gern mit uns zusammen sein, und sie sei von jeher daran gewöhnt, den Sonntag heilig zu halten. Er solle seine Gewehre und seine gewöhnliche häusliche Beschäftigung beiseite lassen, solange sie anwesend sei. Bei dieser Mitteilung errötete er und besah seine Hände und seinen Anzug. Schmieröl und Schießpulver verschwanden in einer Minute. Ich sah, wie gern er ihr Gesellschaft leisten wollte, und daß er die Absicht hatte, sich so schmuck wie möglich zu machen. Darüber mußte ich lachen, wie ich es mir niemals erlaube, wenn der Herr da ist. Ich erbot mich, ihm zu helfen, und neckte ihn wegen seiner Verwirrung, bis er zu schimpfen begann.«
»Aha, Mrs. Dean«, unterbrach sich Zillah – sie merkte, daß mir diese ihre Art nicht gefiel –. »Sie denken vielleicht, Ihre junge Dame sei für Mr. Hareton zu gut. Das stimmt wohl, aber ich gebe zu, daß ich ihren Stolz gern um einige Grade herunterschrauben würde. Was nützt ihr jetzt im Grunde alle Bildung, alle Feinheit? Sie ist so arm wie Sie oder wie ich, vielleicht noch ärmer. Denn Sie können sparen, und ich komme auch langsam voran. – Hareton ließ sich also tatsächlich von mir helfen, und ich brachte ihn allmählich in gute Laune. Als Cathy kam, hatte er ihre Kränkungen von einstmals so ziemlich vergessen und suchte sich ihr möglichst angenehm zu machen. Die Gnädige kam ja zunächst steif wie ein Eiszapfen und hochnäsig wie eine Prinzessin herein. Ich stand auf und bot ihr meinen Platz im Armstuhl an. Sie rümpfte nur die Nase über meine Höflichkeit. Auch Hareton erhob sich und lud sie auf die Bank am Feuer ein; denn er hielt sie für ganz und gar erstarrt.
›Allerdings, länger als einen Monat habe ich gefroren‹, antwortete sie in möglichst verächtlichem Ton. Sie holte sich selbst einen Stuhl und stellte ihn in einiger Entfernung von uns hin. Nachdem sie sich erwärmt hatte, entdeckten ihre herumschweifende Blicke eine Reihe Bücher auf der Anrichte. Sie sprang auf und hob sich auf die Fußspitzen; aber sie standen zu hoch. Ihr Vetter beobachtete ihre Anstrengungen eine Zeitlang und faßte schließlich den Mut, ihr zu helfen. Sie spreitete ihren Rock aus, und er häufte Bücher hinein, wie sie ihm gerade in die Hand kamen.
Offenbar war das ein großer Fortschritt für den jungen Mann. Sie bedankte sich nicht. Aber er schien sich bereits belohnt zu fühlen, da sie seine Unterstützung überhaupt angenommen hatte. Während sie die Bücher durchsah, blieb er hinter ihr stehen, neigte sich sogar vor und zeigte auf Einzelheiten, die ihm bei irgendwelchen alten Abbildungen auffielen. Er bekundete nicht einmal eine Empfindlichkeit über die ungezogene Art, wie sie ihm die Blätter aus den Fingern riß; nur daß er ein wenig weiter zurücktrat. Und jetzt schaute er sie selbst an, statt des Buches.
Sie fuhr fort, zu lesen oder immer etwas Neues zum Lesen zu suchen. Seine Aufmerksamkeit wurde allmählich auf die Betrachtung ihrer dichten seidigen Locken gelenkt. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, und sie sah nichts von ihm. Vermutlich ohne zu wissen, was er tat, wie ein Kind vom Licht einer Kerze angezogen wird, ging er dann vom Anschauen zum Berühren über. Er streckte vorsichtig die Hand aus und strich über eine ihrer Locken, sanft wie über einen Vogel.
Cathy fuhr herum, ungefähr als hätte er ihr ein Messer in den Nacken gestoßen: ›Weg! Gehen Sie augenblicklich weg! Wie können Sie sich erlauben, mich anzufassen? Warum stehen Sie überhaupt hier herum? Ich kann Sie nicht aushalten! Wenn Sie mir noch einmal nahe kommen, steige ich wieder hinauf!‹
Mr. Hareton wich zurück und sah so blöde aus wie nur je. Still setzte er sich auf die Ofenbank, und sie blätterte eine halbe Stunde lang weiter in ihren Bänden. Endlich kam Earnshaw zu mir herüber und flüsterte:
›Könntest du sie nicht fragen, ob sie uns etwas vorlesen will, Zillah? Es ist mir zu langweilig, nichts zu tun. Ich möchte es gern – ich möchte sie gern hören. Aber sage nicht, daß ich es mir wünsche, bitte sie von dir aus.‹
›Mr. Hareton läßt bitten, daß Sie uns etwas vorlesen, Madam‹, sagte ich sogleich. ›Es würde ihm große Freude machen, er wäre Ihnen dafür sehr dankbar.‹
Mit gerunzelter Stirn blickte sie auf: ›Mr. Hareton und ihr alle nehmt gefälligst zur Kenntnis, daß ich jeden heuchlerischen Anschein von Freundlichkeit zurückweise. Ich will mit euch nicht das geringste zu tun haben. Als ich für ein einziges nettes Wort mein Leben hingegeben hätte, sogar dafür, auch nur eins eurer Gesichter zu sehen, da bliebt ihr alle weg. Im übrigen will ich mich nicht etwa bei euch beklagen! Nur die Kälte hat mich heruntergetrieben. Weder will ich euch unterhalten noch eure Gesellschaft genießen.‹
›Was hätte ich damals machen sollen?‹ erwiderte Earnshaw. ›Was kann man mir vorwerfen?‹
›Oh, Sie bilden selbstverständlich eine Ausnahme, Ihre Teilnahme habe ich niemals vermißt‹, entgegnete Mrs. Heathcliff. Er geriet über die Schroffheit in Hitze: ›Aber ich habe mich mehr als einmal erboten – ich habe gefragt – ich habe Mr. Heathcliff gefragt, ob er mich nicht für Sie bei der Leiche wachen lassen würde –‹
›Schweigen Sie. Lieber gehe ich hinaus, lieber gehe ich sonstwo hin, als Ihre unangenehme Stimme hören zu müssen.‹
Hareton brummte vor sich hin, nahm seine Flinte vor und entzog sich nicht länger seiner gewöhnlichen Sonntagsbeschäftigung. Er begann von nun an wieder ganz natürlich und frei zu reden. Auf der anderen Seite hätte Catherine sich wohl gern in ihre Einsamkeit zurückgezogen. Aber der Frost hatte eingesetzt, und trotz ihres Hochmuts mußte sie sich mit unserer Gesellschaft mehr und mehr abfinden. Meine Gutmütigkeit durfte sie nicht mehr mißbrauchen und verspotten, dafür sorgte ich. Ich bin seither einfach genau so steif wie sie. Niemand unter uns liebt sie oder hat sie auch nur gern, und anders verdient sie es nicht. Wenn einmal jemand irgendein Wort zu ihr sagt, gleich hackt sie nach ihm, ohne jede Rücksicht. Sie wagt sich sogar an den Herrn selbst, als wollte sie ihn geradezu herausfordern, sie zu verdreschen. Es ist, als ob sie immer mehr abbekommen möchte, um desto giftiger zu werden.«
– Nachdem ich diesen Bericht Zillahs gehört hatte, dachte ich zuerst daran, meine Stellung aufzugeben, ein Landhäuschen zu mieten, Catherine kommen zu lassen und dort mit ihr zu wohnen. Mr. Heathcliff hätte sich zu einem solchen Unternehmen ungefähr ebenso verhalten, wie wenn Hareton unabhängig in einem Hause für sich hätte wohnen wollen: keins von beiden hätte er gestattet. So sehe ich für den Augenblick keinen Ausweg, es sei denn, sie könnte sich wieder verheiraten. Es liegt mir leider nicht, einen solchen Plan auszuhecken, Mr. Lockwood.«
Hier endete Mrs. Deans Erzählung. Ungeachtet der Schwarzseherei des Arztes erhole ich mich rasch. Wir sind jetzt in der zweiten Woche des Januar, aber ich will schon in ein paar Tagen ausreiten. Ich werde meinen Gutsherrn in Wuthering Heights aufsuchen und ihm mitteilen, daß ich die kommenden sechs Monate in London zu verbringen gedenke. Er könne sich nach einem neuen Pächter umsehen, wenn er wolle, der das Anwesen von Oktober an übernehmen könne. Um keinen Preis möchte ich hier noch einen Winter verbringen.