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Als Cathy und ich unseren ersten Ritt unternahmen, um Linton zu treffen, waren wir schon mitten im Sommer. Der Tag war schwül und trübe, ohne Sonne. Aber da der Himmel nur von Dunst verhangen war, sah es nicht nach Regen aus. Verabredet hatten wir uns beim Wegweiser an der Straßenkreuzung. Dort erwartete uns nur ein kleiner Hirtenjunge, mit der Botschaft: »Master Linton ist auf der anderen Seite der Höhe. Er möchte bitten, daß Sie ihm noch ein bißchen entgegenkommen.«
»Dann hat Master Linton die erste Bedingung seines Onkels schon vergessen«, antwortete ich. »Man hat uns angewiesen, auf dem Grund und Boden von Grange zu bleiben. Hier würden wir darüber hinausgehen.«
»Höre, Ellen, sobald wir ihn erreichen, wenden wir die Pferde und machen unseren Ausflug dann zusammen in der Richtung nach Haus«, meinte Cathy.
Nun, als wir bei dem jungen Manne ankamen, und zwar kaum eine Viertelmeile von seiner eigenen Tür entfernt, stellten wir fest, daß er kein Pferd hatte. Wir waren gezwungen, abzusteigen und unsere Tiere grasen zu lassen. Er lag im Heidekraut und wartete, bis wir nahe bei ihm waren. Dann erst erhob er sich und ging die paar Meter mit so schwachen Schritten auf uns zu und sah so blaß aus, daß ich ausrief:
»Oh, Master Heathcliff, Sie scheinen so wenig auf der Höhe zu sein, daß Ihnen ein Spaziergang heute morgen wenig Vergnügen machen wird!«
Mit Erstaunen und Unruhe betrachtete ihn Catherine. Die freudige Begrüßung auf ihren Lippen verwandelte sich in einen ängstlichen Ausruf. Statt sich zu beglückwünschen, daß sie einander nach so langem Aufschub endlich wiedersahen, fand sie nur die bange Frage, ob es ihm schlechter gehe als sonst.
»Nein – besser – besser!« keuchte er zitternd und hielt ihre Hand fest, als brauche er eine Stütze. Schüchtern streiften sie dabei seine blauen Augen, die tief in den Höhlen lagen. Dadurch bekamen sie etwas von verstörter, beschatteter Wildheit, statt der weichen Mattigkeit, die sie früher besessen hatten.
»Aber es ist dir gewiß schlechter ergangen«, drängte sie, »schlechter als beim letzten Male. Du bist inzwischen magerer geworden und –«
»Ich bin müde«, unterbrach er sie. »Es ist zu heiß zum Spazierengehen. Wir wollen hier lagern. Außerdem fühle ich mich am Morgen oft besonders schwach. Mein Vater sagt, ich wachse so schnell.«
Nicht recht befriedigt setzte sich Cathy hin. Er ließ sich neben ihr nieder und lehnte sich an sie an.
»Hier ist es doch eigentlich so wie in deinem Paradies«, sagte sie, mit dem angestrengten Versuch, ihn aufzumuntern. »Du erinnerst dich, daß wir zwei Tage an einem Ort und auf eine Art und Weise verbringen wollten, die jedem von uns am angenehmsten schiene. Wirklich, es ist dein bequemes Paradies, nur daß Wolken darüber sind. Aber sie sind so zart und weich, daß es schöner ist als bei klarer Sonne. Nächste Woche, wenn du kannst, reiten wir zum Park von Grange und versuchen auch einmal mein eigenes Paradies.«
Linton schien sich nicht zu erinnern, wovon sie sprach. Ich hatte den Eindruck, daß es ihm überhaupt große Schwierigkeiten machte, irgendeine Unterhaltung durchzuführen. Seine mangelhafte Aufmerksamkeit für alle die Gegenstände, die sie zur Sprache brachte, sein vollständiges Unvermögen, selbst etwas zum Plaudern beizutragen, enttäuschten sie schließlich so sehr, daß sie ihren Eindruck nicht mehr verbergen konnte. Eine unbeschreibliche Veränderung war über sein Wesen und seine Umgangsform gekommen. Die Mißgelauntheit von früher, die immerhin durch Freundlichkeit in eine nettere Stimmung verwandelt werden konnte, war einer stumpfen und gleichgültigen Haltung gewichen. Das war nicht mehr die verdrießliche Willkür eines Kindes, das schmollt und trotzt, um begütigt zu werden. Es war die starre Verdrossenheit eines kranken Menschen, der nur sich selbst kennt, jede Tröstung ablehnt und die gutgemeinte Munterkeit der anderen geradezu als eine Kränkung auffaßt.
Als auch Catherine merkte, daß ihm unsere Gesellschaft eher Strafe als Freude bedeutete, machte sie freimütig den Vorschlag, sogleich wieder zurückzureiten. Gegen alle Erwartung riß diese Absicht Linton aus seiner Gleichgültigkeit. Er geriet in einen sonderbaren Zustand von Aufregung, blickte ängstlich nach Wuthering Heights und bat, sie solle wenigstens noch eine halbe Stunde bleiben.
»Ich denke«, erwiderte Cathy, »du würdest daheim besser aufgehoben sein, als wenn du hier lagerst. Heute kann ich dich leider mit meinen Geschichten und Liedern oder mit meinem Geschwätz nicht aufheitern. In diesen sechs Monaten bist du offenbar klüger geworden als ich, und meine Unterhaltsamkeiten sind nicht mehr nach deinem Geschmack. Wenn ich dir Vergnügen machen könnte, würde ich gern bleiben.«
»Ja, bleib und ruh dich selbst aus. Du mußt nicht denken, Catherine – du mußt nicht sagen, daß ich etwa sehr krank bin. Nein, nicht sehr. Es ist die drückende Witterung, die Hitze, die mich ermattet. Übrigens bin ich verhältnismäßig viel gegangen, ehe du kamst. Also sage deinem Vater, daß es mir ganz leidlich gut geht, nicht wahr?«
»Ich werde ihm sagen, daß du selbst dies sagst, Linton! Denn ich könnte nicht behaupten, daß es stimmt.« Sie wunderte sich offensichtlich, daß er so hartnäckig auf einer glatten Unwahrheit bestand.
»Und sei nächsten Donnerstag wieder hier«, fuhr er fort, ihrem forschenden Blick ausweichend. »Und statte ihm meinen Dank dafür ab, daß er dir erlaubt hat, zu kommen – meinen besten Dank, Catherine. Und – und falls du meinen Vater treffen solltest und er dich über mich befragt, dann soll er nicht annehmen, ich sei besonders schweigsam und blöd gewesen, verstehst du. Sieh dann bitte nicht so traurig und niedergeschlagen aus wie jetzt – er wird böse werden.«
»Ich fürchte mich nicht vor seiner Wut!« rief Cathy, in der Annahme, er sage es, um sie selbst vor Heathcliffs Wut zu bewahren. »Aber ich«, erwiderte er zitternd. »Reize ihn nicht gegen mich auf, Catherine. Denn er ist hart.«
»Ist er sehr streng zu Ihnen?« fragte ich. »Hat er jede Nachsicht aufgegeben – ist sein Haß von der halben Verstellung zu wirklicher Mißhandlung übergegangen?«
Linton blickte mich an, sagte aber nichts. Das Mädchen blieb noch weitere zehn Minuten an seiner Seite sitzen. Sein Kopf sank schläfrig auf seine Brust, er ließ nichts mehr vernehmen als halbe Seufzer der Erschöpfung oder des Schmerzes. Cathy wollte sich ein wenig ablenken, sie suchte Heidelbeeren und teilte mit mir, was sie gepflückt hatte. Ihm bot sie nichts an, da jede Beschäftigung mit ihm nur als Belästigung zu wirken schien.
»Ist die halbe Stunde jetzt vergangen, Ellen?« flüsterte sie mir dann ins Ohr. »Ich weiß nicht, warum wir noch bleiben sollen. Er schläft, und der Vater wird auf unsere Rückkehr warten.«
»Während er schläft, können wir ihn nicht verlassen«, erwiderte ich. »Haben Sie noch Geduld, bis er erwacht. Sie waren doch so sehr darauf aus, daß wir ihn trafen. Hat sich Ihre Sehnsucht nach dem armen Jungen so rasch verflüchtigt?«
»Weshalb hat er mich eigentlich sehen wollen? Ich muß sagen, in seinen schlechtesten Stimmungen habe ich ihn damals lieber gehabt als in dieser merkwürdigen Verfassung. Es wirkt doch so, als erfülle er mit dieser Zusammenkunft eine Aufgabe, eine erzwungene Aufgabe, und als fürchte er, sein Vater würde mit ihrer Erfüllung nicht zufrieden sein. Ich komme aber durchaus nicht deshalb hierher, um Mr. Heathcliff zufriedenzustellen, ganz gleich, aus welchen Gründen er Linton die Buße abverlangt. Wenn es ihm gesundheitlich besser geht, so freut es mich; aber es tut mir doch leid, daß er weniger vergnügt und weniger zärtlich zu mir ist.«
»Sie glauben also, daß seine Gesundheit sich gebessert hat?«
»Ja, weil er sonst immer so viel von seinen Leiden hermachte. Es geht ihm nicht so gut, wie ich nach seinem Wunsche meinem Vater erzählen soll, aber besser, als es scheint.«
»Dann sind wir verschiedener Ansicht, Miß Cathy. Ich glaube, es steht viel schlechter um ihn.«
Hier fuhr Linton erschrocken aus seinem Schlummer auf und fragte, ob ihn jemand beim Namen gerufen habe.
»Nein«, erwiderte Catherine, »vielleicht im Traum. Ich kann gar nicht begreifen, wie du es fertig bringst, am Morgen hier draußen zu schlafen.«
»Ich dachte, daß ich meinen Vater hörte!« stöhnte er und starrte zu der finsteren Anhöhe hinauf. »Weißt du sicher, daß niemand gerufen hat?«
»Niemand. Nur Ellen und ich haben miteinander gesprochen; über deine Gesundheit. Bist du tatsächlich kräftiger als bei unserer Trennung im Winter? Eins ist leider ohne jeden Zweifel nicht stärker geworden, nämlich deine Zuneigung zu mir. Sag, bist du gesünder geworden?«
Tränen strömten aus Lintons Augen, als er antwortete: »Ja, ja, ich bin gesünder!« Und immer noch unter dem Bann des eingebildeten Rufes glitten seine Blicke umher, um zu entdecken, wer gerufen haben könnte. Cathy erhob sich:
»Für heute müssen wir gehen. Ich sage dir ganz offen, daß ich von unserem Treffen herzlich enttäuscht bin. Aber ich will es niemandem verraten. Nicht etwa aus Angst vor Mr. Heathcliff!« »Still, ums Himmels willen still!« flüsterte Linton. »Er kommt.« Er umklammerte ihren Arm und wollte sie zurückhalten. Aber sie befreite sich hastig und pfiff Minny, die wie ein Hund gehorchte.
»Nächsten Donnerstag will ich hier sein!« rief sie, in den Sattel springend. »Leb wohl. Rasch, Ellen!«
So verließen wir ihn, und er schien sich unseres Aufbruchs nicht einmal bewußt zu sein, bis ins Innerste vom Gefühl der Annäherung seines Vaters in Anspruch genommen.
Ehe wir zu Haus ankamen, beschwichtigte sich Catherines Enttäuschung und verwandelte sich in eine verwirrte Empfindung des Mitleids und des Bedauerns. Dies Gefühl war mit peinlichen Zweifeln über Lintons gegenwärtigen Zustand, über seine Gesundheit wie über seine Behandlung daheim vermischt. Ich verstand sie, riet ihr aber, nicht viel darüber zu sprechen; nach einem zweiten Ausflug würden wir besser urteilen können. Auf Mr. Edgars Wunsch nach einem ausführlichen Bericht wurde ihm der Dank seines Neffen geziemend ausgerichtet. Den Rest aber streifte Miß Cathy nur mit freundlichen Andeutungen. Auch ich klärte ihn nicht im einzelnen auf, denn ich wußte kaum, was noch verheimlicht und was schon enthüllt werden sollte.