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Der Sommer ging zu Ende, es wurde frühzeitig Herbst. Michaelis war vorüber, aber die Ernte wurde in diesem Jahre spät eingebracht, so daß einige unserer Felder noch nicht abgeerntet waren. Mr. Linton pflegte mit Cathy häufig zu den Schnittern hinauszugehen. Als die letzten Garben abgefahren wurden, blieben die beiden bis zur Dunkelheit draußen. Der Abend war feucht und kühl; der Herr zog sich eine böse Erkältung zu, die sich hartnäckig auf die Lunge schlug. Während des ganzen Winters mußte er fast ohne Unterbrechung das Haus hüten.
Die arme Cathy, vom Verlauf ihres kleinen Romans eingeschüchtert, war merklich trauriger und matter geworden. Der Vater redete ihr zu, sie solle weniger lesen und sich mehr Bewegung machen. Da sich beide aus diesem Grunde oft trennen mußten, bestrebte ich mich, Mr. Edgar bei ihr so gut wie möglich zu ersetzen. Freilich konnte ich mich von meinen zahlreichen Tagesverrichtungen nur auf zwei bis drei Stunden freimachen, um ihren Schritten zu folgen. Meine Gesellschaft war ihr auch ganz gewiß nicht so erwünscht wie die seine.
Im Oktober oder Anfang November – es war ein kalter regnerischer Nachmittag, auf dem Gras und auf den Wegen raschelten die nassen welken Blätter, der frostig blaue Himmel wurde von Wellen dunkelgrauer Wolken überschwemmt, die rasch von Westen her auftauchten und starken Regen ankündigten – an diesem Tage riet ich Cathy, von ihrem Spaziergang lieber Abstand zu nehmen. Sie wollte durchaus gehen, ich zog ungern den Mantel an und nahm meinen Regenschirm. Den weiten Spaziergang bis zum Ende des Parks liebte sie sehr, wenn sie bedrückter Stimmung war, und dies war sie immer, wenn es Mr. Edgar schlechter als gewöhnlich ging. Aus seinen Äußerungen konnten wir nie auf sein Befinden schließen, aber der Ausdruck seines Gesichts und die lastende Schweigsamkeit ließen uns alles erraten.
Trübselig wandelte sie dahin. Jetzt gab es kein Laufen und Springen mehr, obwohl der kühle Wind sie zu einem rascheren Tempo veranlassen konnte. Ich übersah nicht, wie sie manchmal die Hand hob und etwas von ihrer Wange wischte. Womit konnte ich sie von ihren Gedanken ein wenig ablenken? An der einen Seite des Weges erhob sich ein unregelmäßiger Erdwall, in dessen Boden Haselnußsträucher und kümmerliche Eichen mit ihren zum Teil freiliegenden Wurzeln unsicher nach einem Halt suchten. Für die Eichen war die Erde zu locker, und der starke Wind hatte manche fast bis zur waagrechten Haltung gebeugt. Im Sommer hatte es Cathy großes Vergnügen gemacht, an den Stämmen herumzuklettern, sich in die Zweige zu setzen, zwanzig Fuß über dem Boden zu schweben. Mir gefiel zwar ihre Geschicklichkeit und ihr kindlich leichtes Herz, aber ich hatte es doch für angebracht gehalten, sie jedesmal auszuschelten, zu ihrer übermütigen Höhe hinauf! Freilich hörte sie meiner Stimme an, daß sie tatsächlich nicht herunterzukommen brauchte. Dann lag sie vom Mittagessen bis zum Tee in ihrer vom Winde geschaukelten Wiege und tat nichts anderes, als die alten, einst von mir gelernten Lieder vor sich hin zu singen. Oder sie sah zu, wie die Vögel, die in dem Baume wohnten, ihre Jungen fütterten und fliegen lehrten. Oder sie kauerte sich nur zusammen, mit geschlossenen Augen, halb denkend, halb träumend, glücklicher, als Worte es ausdrücken können.
»Sehen Sie, Miß!« rief ich jetzt, auf eine Höhle unter den Wurzeln eines gekrümmten Baumes zeigend. »Dahin ist der Winter noch nicht gekommen. Eine kleine Blume steht darin, die letzte aus der Menge blauer Glockenblumen, die im Juli auf den Wiesen wimmelten, so daß alles einen bläulichen Schimmer hatte. Wollen Sie nicht hinklettern und sie pflücken und sie dem Vater zeigen?«
Cathy starrte eine Weile auf die einsame Blüte, die im Schutz des Erdreichs dort stand und zitterte. Endlich antwortete sie: »Nein, ich will sie nicht anrühren. Sie sieht traurig aus, nicht wahr, Ellen?«
»Ja, und ähnlich ohne Saft und Kraft wie Sie selbst. Ihr Gesicht ist ganz blutlos. Wir wollen uns bei den Händen fassen und tüchtig rennen. Ich glaube, jetzt kann ich mit Ihnen sogar Schritt halten!«
»Nein.« Langsam ging sie weiter, hielt zuweilen an, grübelte über einen Fleck Moos nach oder über einen bleichen Büschel Gras oder einen Pilz, der sein leuchtendes Gelb aus den braunen Laubhaufen hervorsteckte. Und immer drehte sie ihr Gesicht weg und fuhr mit der Hand darüber.
»Aber, Cathy, meine Gute, weshalb weinen Sie?« Ich näherte mich ihr und legte den Arm um ihre Schulter. »Sie brauchen nicht zu weinen, weil der Vater erkältet ist. Seien Sie zufrieden, daß er nichts Schlimmeres hat.«
Da hielt sie die Tränen nicht mehr zurück und schluchzte: »Es wird aber schlimmer werden! Was soll ich tun, wenn er und du mich dann verlassen und ich allein bleibe? Du selbst hast es gesagt, und es klingt mir stets im Ohr: wie furchtbar das Leben, wie öde die Welt sein müßte, wenn ihr beide gestorben wäret.«
»Man kann doch nicht wissen, wann jemand stirbt – Sie am Ende vor uns!« erwiderte ich. »Man malt den Teufel nicht an die Wand, und wir können hoffen, daß noch Jahre und Jahre verfließen, bevor einer von uns dahin ist. Der Herr ist jung, und ich bin kräftig, kaum fünfundvierzig Jahre alt, meine Mutter ist achtzig geworden und war bis zuletzt eine muntere Frau. Nehmen wir an, Mr. Linton würde auch nur sechzig Jahre alt werden, so hätten Sie bis dahin längere Zeit vor sich, als Sie bis jetzt gelebt haben! Ist es nicht närrisch, ein Unglück zwanzig Jahre lang voraus zu betrauern?«
»Tante Isabella war aber jünger als der Vater«, versetzte sie und blickte zu mir auf, in der Hoffnung auf weiteren Trost.
»Sie hatte weder mich noch Sie als Pflegerin, und war auch nicht so gut daran wie der Herr, denn sie besaß nicht so viel, wofür es sich zu leben lohnte. Sie brauchen nichts anderes zu tun, als den Vater zärtlich zu betreuen und ihn dadurch froh zu stimmen, daß er Sie heiter sieht. Vor allem bedenken Sie, daß es ihn töten könnte, wenn Sie ihm Aufregungen zufügen. Sie dürfen also nicht so leichtsinnig sein, eine sinnlose und eingebildete Zuneigung zu dem Sohn eines Menschen zu hegen, der Ihren Vater gern im Grabe wüßte. Sie dürfen es Mr. Edgar nicht einmal merken lassen, daß Sie die Trennung, die er für notwendig gehalten hat, als schmerzlich empfinden.«
»Schmerzlich ist mir nichts so sehr wie des Vaters Krankheit, nichts ist mir wichtig im Vergleich zu ihm. Und ich werde niemals, o niemals, solange ich meinen Verstand behalte, etwas tun oder sagen, was ihn quälen würde. Mehr als mich selbst liebe ich ihn, Ellen, und dies erkenne ich daran: Ich bete allabendlich, daß ich länger leben möge als er! Denn lieber möchte ich unglücklich sein, als daß er es wäre. Ist das nicht ein Beweis?«
»Es sind gute Worte, aber beweisen Sie es auch durch Taten. Wenn er wieder gesund ist, vergessen Sie die Vorsätze nicht, die Sie in der Stunde der Befürchtung gefaßt haben.«
Während unseres Gesprächs näherten wir uns einer Pforte, die zur Straße hinausführte. Cathy war wieder lebhafter geworden; sie kletterte auf die Mauer hinauf, setzte sich und langte nach den Hagebutten, die leuchtend rot zwischen den Spitzen der den Weg überschattenden Heckenrosen standen. An den unteren Zweigen waren keine Früchte mehr, an die oberen reichten nur die Vögel und Cathy von ihrem hohen Sitz heran. Sie reckte sich, dabei fiel ihr Hut hinunter. Da die Tür verschlossen war, wollte sie hinabklettern und ihn holen. Schon verschwand sie mit geschmeidigen Bewegungen. Aber zurück zu kommen, war nicht so leicht. Die Steine waren glatt, die Ritzen genau verputzt, und die Rosenbüsche und Brombeersträucher boten keinen genügenden Halt. Es war dumm, daß ich daran nicht gedacht hatte. Ich hörte sie lachen; sie rief:
»Ellen, du mußt den Schlüssel holen, sonst habe ich um die ganze Mauer herum bis zur Pförtnerwohnung zu laufen. Von dieser Seite kann ich nicht hinaufkommen.«
»Bleiben Sie, wo Sie sind, ich habe meinen Schlüsselbund in der Tasche. Vielleicht kann ich die Tür öffnen; sonst werde ich gehen.«
Während ich alle meine großen Schlüssel nacheinander versuchte, vergnügte sich Catherine damit, große Tänze vor der Tür auszuführen. Keiner paßte, und ich wollte mich möglichst schnell nach Hause begeben, als ein auffallendes Geräusch sich näherte und mich zurückhielt. Es war der Hufschlag eines Pferdes, das jetzt anhielt. Auch Cathys Tanz draußen hörte auf.
»Wer ist es?« flüsterte ich.
»Wenn du doch die Tür aufmachen könntest, Ellen!« antwortete sie ängstlich.
»Hallo, Miß!« rief eine tiefe Stimme. »Ich freue mich, Sie zu treffen. Bleiben Sie noch ein wenig draußen. Ich brauche noch eine Erklärung von Ihnen.«
»Ich spreche nicht mit Ihnen, Mr. Heathcliff«, hörte ich Cathy erwidern. »Mein Vater sagt, Sie hassen ihn und mich.«
»Das tut nichts zur Sache. Meinen Sohn hasse ich doch wohl nicht, und um seinetwillen erbitte ich Ihre Aufmerksamkeit. Ja, Sie haben alle Ursache, zu erröten. Hatten Sie nicht vor zwei oder drei Monaten die angenehme Gewohnheit, an meinen Linton zu schreiben? Die Verliebte zu spielen? Wie? Ihr beide hättet Prügel dafür verdient. Besonders Sie, als die Ältere und, wie sich ergeben hat, weniger Empfindsame. Ich besitze Ihre Briefe, und wenn Sie jetzt auftrumpfen, lasse ich sie Ihrem Vater zukommen. Mir scheint, das Vergnügen wurde Ihnen lästig und Sie hörten auf, nicht wahr? Sehr schön, aber den armen Jungen haben Sie dadurch in einen wahren Abgrund der Verzweiflung gestürzt. Ihm war es Ernst, er war wirklich verliebt. Bei meinem Leben, er stirbt für Sie. Das Herz bricht ihm wegen Ihres Wankelmuts, nicht bildlich gesprochen, sondern tatsächlich. Obwohl Hareton ihn seit sechs Wochen unausgesetzt mit Spott überschüttet und ich selbst strengere Maßnahmen ergriffen habe, um ihn von dem Unsinn zu heilen, geht es ihm täglich schlechter. Noch ehe es Sommer wird, liegt er unter der Erde, wenn Sie sich nicht seiner annehmen!«
»Wie können Sie das Kind so offenkundig anlügen!« rief ich von drinnen. »Reiten Sie weiter! Das ist doch nichts als ein wohlüberlegter Betrug! Miß Cathy, ich werde das Schloß mit einem Stein zerschlagen. Glauben Sie nur kein Wort von diesen tückischen Reden. Sie fühlen selbst, daß kein Mensch deshalb stirbt, weil er einen Fremden liebt.«
»Oho, ich wußte nicht, daß hier ein Lauscher ist. Sehr würdige Miß Dean, ich mag dich gern, aber deine Doppelzüngigkeit weniger! Du selbst lügst, offenkundig! Du hast gleichfalls behauptet, ich haßte das arme Kind! Du hast es durch Schauermärchen von meiner Tür ferngehalten! Catherine – bei dem bloßen Namen wird mir warm ums Herz – mein liebes gutes Mädchen – ich werde während dieser ganzen Woche nicht daheim sein. Sie können also kommen und sich davon überzeugen, ob ich die Wahrheit gesprochen habe. Seien Sie nett und stellen Sie sich vor, Ihr Vater wäre an meiner Stelle und der Junge an der Ihren. Was würden Sie von einem gleichgültigen Liebhaber denken, der sich weigerte, auch nur einen Schritt zu Ihrem Trost zu tun, selbst wenn Ihr eigener Vater ihn darum anflehte? Begehen Sie nicht denselben Fehler, aus ganz dummen Gründen. Ich schwöre Ihnen bei meiner Seligkeit, er sinkt ins Grab, und nur Sie können ihn retten.«
Das Schloß gab endlich nach und ich eilte hinaus.
»Ich schwöre, Linton stirbt«, wiederholte Heathcliff und blickte mich durchdringend an. »Dieser Kummer, diese Enttäuschung beschleunigen seinen Tod. Wenn du sie durchaus nicht hingehen lassen willst, Nelly, so stelle dich selbst ein. Ich komme erst nächste Woche um diese Zeit zurück; sogar dein Herr wird nichts dagegen haben, daß sie inzwischen ihren Vetter besucht.«
»Kommen Sie herein.« Ich faßte Cathys Arm und suchte sie gewaltsam herein zu ziehen. Denn sie zögerte und starrte zweifelnd in das Gesicht des Mannes, dessen eiserne Züge seine Gedanken nicht verrieten. Er drängte sein Pferd dicht heran und beugte sich zu ihr:
»Miß Catherine, ich gebe zu, daß ich mit Linton wenig Geduld habe, und Hareton und Josef noch weniger. Ja, ich gestehe, er ist in rauher Gesellschaft, während er sich nach Güte und Liebe sehnt. Ein freundliches Wort von Ihnen wäre die beste Arznei. Unterwerfen Sie sich nicht den grausamen Vorschriften unserer Mrs. Dean. Seien Sie großmütig und ermöglichen Sie es, daß Sie ihn sehen. Tag und Nacht träumt er von Ihnen und läßt es sich nicht ausreden, daß Sie ihn verabscheuen, seit Sie ihm weder schreiben noch ihn besuchen.«
Ich schloß die Pforte und sicherte sie durch einen Stein, da das Schloß zerbrochen war. Es begann zu regnen, die Tropfen schlugen durch die ächzenden Zweige der Bäume. Ich spannte meinen Schirm auf, und da wir uns beeilten, sprachen wir unterwegs kein Wort über diese Begegnung. Aber Cathys Gesicht war so traurig geworden, daß es gar nicht mehr das ihre zu sein schien. Offenbar hielt sie jede Silbe, die sie gehört hatte, für die volle Wahrheit.
Sie blickte ins Zimmer ihres Vaters, um zu erfahren, wie es ihm gehe; aber er war schon eingeschlafen. Darauf bat sie, ich solle mich zu ihr in die Bibliothek setzen. Nachdem wir Tee getrunken hatten, legte sie sich auf den Teppich. Ich sollte aber nicht sprechen, da sie müde sei. Also nahm ich ein Buch und tat, als ob ich läse. Sobald ich sie nicht mehr zu beobachten schien, ergab sie sich ihrer Lieblingsbeschäftigung – sie weinte, auf ihre stille Art. Nach einer Weile machte ich mich wieder bemerkbar und zog Mr. Heathcliffs Angaben über seinen Sohn ins Lächerliche, und zwar in einem Ton, als sei sie gewiß mit mir einer Meinung. Ach, ich war nicht geschickt genug, um die Wirkung seiner Darstellung aufzuheben. Das alles hatte er genau berechnet.
»Du magst recht haben«, erwiderte sie, »aber ich bin doch nicht eher ruhig, als bis ich Bescheid weiß. Ich muß Linton auch darüber aufklären, daß es nicht meine Schuld ist, wenn ich nicht schreibe. Ich muß ihn davon überzeugen, daß meine Gefühle sich nicht ändern werden.«
Was halfen mein Zorn und mein Widerspruch gegen ihre kindliche Leichtgläubigkeit? An jenem Abend trennten wir uns in feindlicher Haltung. Aber der nächste Tag sah mich an ihrer Seite neben dem Pony auf der Straße nach Wuthering Heights. Ich konnte ihren kummervollen Anblick nicht ertragen und gab nach, in der schwachen Hoffnung, daß Linton selbst durch die Art, wie er uns empfinge, Heathcliffs Erzählung widerlegen würde.