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Vierundzwanzigstes Kapitel

Als ich nach drei Wochen das Zimmer verließ und mich im Hause bewegte und abends zum ersten Male aufblieb, bat ich Catherine, mir vorzulesen; meine Augen waren schwach. Wir waren in der Bibliothek, da Mr. Edgar sich hingelegt hatte. Sie willigte ein, aber mit offensichtlichem Widerstreben. Ich glaubte, meine Bücher seien ihr in ihrer Art nicht recht, und sagte, sie solle selbst ihre Wahl treffen. Sie nahm eins ihrer Lieblingsbücher und las etwa eine Stunde lang ohne Unterbrechung. Dann kamen häufige Fragen:

»Ellen – bist du nicht müde? – Ellen, willst du jetzt nicht lieber zu Bett gehen? – Ellen, es wird sicher nicht gut für dich sein, wenn du so lange aufbleibst.«

»Aber nein, meine Liebe, ich bin gar nicht müde«, antwortete ich immer wieder.

Als sie sah, daß ich bei der Sache blieb, versuchte sie es auf andere Weise. Sie begann zu gähnen, reckte sich und streckte sich: »Ellen – bin ich müde!«

»Dann hören Sie natürlich auf. Wir plaudern ein bißchen.«

Das machte die Geschichte noch schlimmer. Sie verzog das Gesicht, seufzte, blickte nach der Uhr, bis es acht war. Schließlich begab sie sich in ihr Zimmer und mußte entsetzlich schläfrig sein, nach ihrem leeren trägen Aussehen und dem beständigen Reiben ihrer Augen zu schließen. Am nächsten Abend war sie noch ungeduldiger; am darauffolgenden klagte sie über Kopfweh und ließ mich bald allein.

Ich fand ihr Verhalten merkwürdig, und nachdem ich eine ganze Weile für mich geblieben war, ging ich hinauf. Ich wollte ihr vorschlagen, lieber bei mir auf dem Sofa zu liegen, statt oben im Dunkeln. Aber oben war keine Catherine zu entdecken; unten auch nirgends. Die Angestellten versicherten mir, sie nicht gesehen zu haben. Ich lauschte an Mr. Edgars Tür; alles war still. Ich kehrte in Cathys Zimmer zurück, löschte die Kerze und setzte mich ans Fenster.

Es war heller Mondschein. Eine dünne Schneeschicht bedeckte den Boden. Vielleicht war es ihr in den Sinn gekommen, im Garten spazieren zu gehen und die frische Luft zu genießen? Dann bemerkte ich eine Gestalt, die innen am Parkgitter entlang schlich. Cathy war es nicht. Als die Gestalt ins Licht des Mondes kam, erkannte ich einen der Stallknechte. Er stand eine Weile da und blickte durch die Sträucher auf die Straße hinaus. Als hätte er etwas entdeckt, rannte er plötzlich davon und erschien sogleich wieder, Cathys Pony führend. Und da war sie selbst, soeben vom Pferd gestiegen. Sie ging neben ihm her; der Junge zog das Tier vorsichtig über das Gras in den Stall.

Durch das Fenster des Wohnzimmers stieg Cathy herein. Lautlos kam sie die Treppe herauf, in ihr Zimmer, wo ich sie erwartete. Sie schloß die Tür, streifte die Schuhe, die voller Schnee waren, von den Füßen, legte den Hut ab und wollte gerade den Mantel ausziehen, ohne die Anwesenheit einer Spionin zu ahnen – als ich aufstand und mich zu erkennen gab. Einen Augenblick lang war sie vor Überraschung wie versteinert; dann stammelte sie etwas Unverständliches.

»Meine liebe Miß Catherine«, hob ich an, noch zu stark unter dem Eindruck ihrer Freundlichkeit in all den Wochen, um sie heftig schelten zu können, »wohin sind Sie um diese Zeit geritten? Und warum haben Sie mich zu täuschen versucht und mir Geschichten erzählt? Wo sind Sie gewesen?«

»Am Ende des Parks«, stotterte sie. »Ich habe keine Geschichten erzählt.«

»Und sonst sind Sie nirgendwo gewesen?«

»Nein«, murmelte sie.

»Oh, Catherine!« rief ich traurig. »Sie wissen, daß Sie etwas ganz Unrechtes getan haben. Sonst wären Sie nicht auf solche Erfindungen und Schwindeleien gekommen. Das macht mir Kummer. Lieber möchte ich drei Monate lang krank sein, als eine bewußte Lüge von Ihnen hören.«

Sie sprang auf mich zu und warf die Arme um meinen Hals:

»Ellen, es erschreckt mich so sehr, wenn du zornig bist. Versprich mir, nicht zornig zu sein, und du sollst alles hören. Ich verberge so ungern die Wahrheit.«

Wir setzten uns auf das Fensterbrett. Ich sicherte ihr zu, daß ich nicht zanken würde, welches auch ihr Geheimnis sein möge; denn natürlich ahnte ich es. So begann sie:

»Ellen, ich bin in Wuthering Heights gewesen. Täglich, seit du krank bist, ging ich hin, ausgenommen dreimal, ehe du dein Zimmer verließest, und zweimal danach. Ich schenkte dem Michael allerhand Bücher und Bilder, damit er Minny jeden Abend sattelte und in den Stall zurückbrachte. Selbstverständlich darfst du auch ihm keine Vorwürfe machen. Etwa um halb sieben kam ich drüben an und blieb bis halb neun; dann galoppierte ich heim. Nicht zu meinem bloßen Vergnügen tat ich es; oft war mir während der ganzen Zeit schlimm zumute. Manchmal war ich glücklich, vielleicht ein einziges Mal in jeder Woche. Zuerst wollte ich dich, wenn auch mit noch soviel Anstrengung, überreden, daß du mich mein Wort halten ließest. Denn ich hatte Linton nach unserem gemeinsamen Besuch versprochen, am nächsten Tage wiederzukommen. Weil du aber am Morgen im Bett bliebst, wurde mir diese Mühe erspart. Während Michael nachmittags das Schloß an der Pforte in Ordnung brachte, ließ ich mir den Schlüssel geben. Ich schilderte ihm, wie heftig sich mein Vetter meinen Besuch wünsche, da er seiner Anfälligkeit wegen nicht zu uns kommen könne. Ich verriet ihm, daß mein Vater gegen diesen Besuch sei. Dann aber verhandelte ich mit ihm über das Pony. Er liebt es sehr, zu lesen; und da er uns bald verläßt und heiraten wird, wollte er gern tun, was ich wünschte, wenn ich ihm Bücher aus der Bibliothek leihen würde. Ich zog es vor, ihm meine eigenen zu geben; damit war er noch zufriedener.

Bei meinem neuen Besuch war Linton viel lebhafter. Die Haushälterin Zillah räumte das Zimmer auf und machte uns ein schönes Feuer. Sie sagte, Josef sei zur Andacht gegangen, und Hareton sei mit den Hunden unterwegs. Wie ich später erfuhr, hat er in unserem Walde Fasanen gejagt. Daher könnten wir tun, wozu wir Lust hätten. Sie brachte mir Glühwein und Pfefferkuchen und schien überhaupt sehr nett zu sein. Linton saß im Lehnstuhl, ich in dem kleinen Schaukelstuhl am Kamin. Wir plauderten vergnügt und lachten sehr viel und hatten uns allerhand zu sagen. Wir machten sogar Pläne, wohin wir im Sommer gehen wollten. Ich möchte dir nicht alles ausmalen, du würdest es nur albern finden.

Einmal hätten wir uns allerdings fast gezankt. Er meinte, einen heißen Julitag brächte man am schönsten auf die Art hin, daß man vom Morgen bis zum Abend ganz faul auf einem Heidehügel mitten im Moor läge, wenn die Bienen wie im Traum zwischen den Blumen summten, die Lerchen hoch zu Häupten sängen und die Sonne möglichst lange an der gleichen Stelle am blauen wolkenlosen Himmel strahlte. Das war seine vollkommenste Vorstellung von Glückseligkeit. Meine aber war, mich in einem rauschenden grünen Baum zu wiegen, wenn der Westwind weht und weiße Wolken rasch über mir hinfliegen. Nicht nur Lerchen, auch Drosseln, Amseln, Hänflinge und Kuckucke müßten von allen Seiten Musik machen. In der Ferne würde man das Moor sehen, mit seinen kühlen dunklen Tälern, aber in meiner Nähe große Hügel mit hohem Gras, das unter dem Winde in Wellenlinien schwingt, und Wälder und klingendes Wasser – die ganze Welt müßte wach und wild vor Freude sein. Er wollte, daß alles im tiefsten Frieden daliegen sollte. Ich wünschte, alles sollte tanzen und funkeln in jubilierender Schönheit. Ich sagte, sein Himmel würde nur halb lebendig sein, und er sagte, mein Himmel wäre betrunken. Ich sagte, er würde in dem seinen einschlafen, und er sagte, er könnte in dem meinen nicht atmen. Also er begann, schnippisch zu werden. Schließlich einigten wir uns, beide Himmel auszuprobieren, sobald das Wetter danach wäre. Wir küßten uns und waren wieder gute Freunde.

Als wir eine Stunde beieinander gesessen hatten, schaute ich mich in dem großen Raume mit dem glatten teppichlosen Fußboden um und meinte, wir könnten ihn zu so hübschen Spielen benutzen, wenn wir den Tisch entfernten. Linton sollte Zillah hereinrufen, um uns dabei zu helfen, so daß wir Blindekuh spielen könnten. Sie würde dann versuchen, uns zu fangen, wie du es mit uns gemacht hast, du erinnerst dich doch, Ellen. Er wollte nicht; das sei nicht sehr vergnüglich; aber Ball würde er mit mir spielen. Wir fanden zwei Bälle im Schrank, unter einer Menge alter Spielsachen, zwischen Kreiseln und Reifen, Schlägern und Federbällen. Der eine war mit C, der andere mit H gezeichnet; ich wollte den mit C haben, was Catherine bedeuten könnte, und H stände für seinen Zunamen Heathcliff. Aber aus diesem Ball sickerte die Kleie heraus, und Linton lehnte ihn ab. Ich schlug ihn unaufhörlich im Spiel; er wurde wieder ärgerlich und begann zu husten und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Trotzdem fand er an diesem Abend seine gute Stimmung wieder: ich begeisterte ihn mit ein paar hübschen Liedern, deinen Liedern, Ellen. Als ich gehen mußte, bettelte er so sehr, ich möchte am nächsten Abend wiederkommen, daß ich es versprach. Minny flog mit mir leicht wie der Wind nach Haus. Ich träumte bis zum Morgen von Wuthering Heights und meinem lieben Linton.

Am Morgen war ich dann traurig, teils, weil es dir schlecht ging, und ferner, weil ich im Grunde wünschte, daß mein Vater von meinen Ausflügen wüßte und einverstanden wäre. Aber als ich nach dem Tee bei schönem Mondlicht davonritt, wurde ich fröhlich. Ich habe einen glücklichen Abend vor mir, dachte ich; und daß mein Linton es ebensogut haben würde, entzückte mich noch mehr.

Ich trabte durch ihren Garten und bog zur Rückseite des Hauses herum, als mir dieser Bursche Hareton Earnshaw entgegen kam. Er ergriff die Zügel und forderte mich auf, zur vorderen Tür hineinzugehen, beklopfte Minnys Hals, äußerte, das sei ein hübsches Tier, und wollte offenbar ein Gespräch mit mir einleiten. Ich bemerkte, er solle mein Pferd in Ruhe lassen, sonst würde es ausschlagen. Er antwortete, mit seiner sonderbaren Aussprache, das würde nicht so gefährlich werden, und musterte grinsend Minnys Beine. Ich hätte es ganz gern auf einen Versuch ankommen lassen. Er begab sich jedoch zur Tür, um sie für mich aufzumachen. Während er auf die Klinke drückte, schielte er zu der Inschrift über dem Eingang hinauf und sagte in einer blöden Mischung von Ungeschicklichkeit und Stolz:

›Miß Catherine! Jetzt kann ich das lesen!‹

›Wunderbar!‹ rief ich. ›Also laß hören. Du bist wohl inzwischen sehr gescheit geworden!‹

Er buchstabierte und trug Silbe für Silbe den Namen ›Hareton Earnshaw‹ vor.

›Und die Zahl?‹ ermutigte ich ihn, da er an einen toten Punkt geriet.

›Die kann ich noch nicht.‹

›Oh, also bist du doch ein Dummkopf!‹ Ich lachte ihn über sein Versagen herzlich aus.

Der närrische Mensch starrte vor sich hin mit einem halben Lächeln um die Lippen und mit düsterem Ernst um die Augen, als wüßte er nicht recht, ob er sich meiner Heiterkeit anschließen dürfte und ob sie freundliche Vertraulichkeit oder – was es natürlich in Wirklichkeit war – Mißachtung bedeute. Ich beseitigte seine Zweifel, indem ich plötzlich schroff wurde und ihn aufforderte, aus dem Wege zu gehen. Denn ich wolle Linton besuchen und nicht ihn. Im Mondlicht sah ich ganz deutlich, wie er errötete. Er ließ die Klinke los und schlich davon, ein richtiges Bild gekränkter Eitelkeit. Wahrscheinlich bildete er sich ein, schon ebensoviel wie Linton zu wissen, nur weil er seinen eigenen Namen buchstabieren konnte. Daß ich nicht der gleichen Ansicht war, hatte ihn vollständig zerschmettert.«

Ich unterbrach sie: »Halt, meine liebe Miß Catherine. Ohne Sie besonders auszuzanken, muß ich Ihnen sagen, daß mir Ihr Benehmen gar nicht gefällt. Sie hätten nicht vergessen dürfen, daß Hareton ebensogut wie Linton Ihr Vetter ist. Jedenfalls zeigte er doch einen lobenswerten Ehrgeiz, als er nicht hinter Linton zurückstehen wollte. Es scheint, daß er es nicht nur gelernt hat, um sich damit großzutun. Bei unserem ersten Besuch haben Sie ihn mit seiner Unwissenheit beschämt. Diesen Mangel wollte er abstellen, um Ihnen zu gefallen. Daß Sie nun seine fehlerhaften Versuche verspottet haben, war höchst unedel. Wenn Sie unter solchen Bedingungen aufgewachsen wären, würden Sie dann etwa gebildeter sein? Er war als Kind so rege und aufgeweckt wie Sie. Es verletzt mich, daß man ihn jetzt mißachtet, weil der schlechte Heathcliff ihn mit solcher Willkür behandelt.«

»Aber du wirst doch deswegen nicht weinen!« rief sie, ganz verwundert über meinen Ernst. »Du wirst noch hören, ob er das Abc wirklich mir zu Gefallen gelernt hat und ob es sich lohnte, zu diesem Grobian höflich zu sein. Ich trat also ins Haus. Linton lag auf der Bank und richtete sich halb auf, um mich zu begrüßen. Er sagte:

›Ich bin heut abend krank, meine Liebe. Du mußt für die Unterhaltung sorgen und mich zuhören lassen. Komm, setz dich neben mich. Ich wußte, daß du dein Wort halten würdest. Ehe du gehst, laß ich dich wieder ein Versprechen geben.‹

Ich wußte nun, daß ich ihn nicht aufziehen durfte, wenn er krank war. Also sprach ich ganz sanft mit ihm, stellte keine Fragen und vermied alles, was ihn im geringsten reizen konnte. Einige meiner schönsten Bücher hatte ich ihm mitgebracht; ich sollte daraus vorlesen. Gerade wollte ich seinen Wunsch erfüllen, als Hareton Earnshaw die Tür aufriß. Er mußte inzwischen heftig nachgedacht haben und hatte offenbar einiges Gift in sich angesammelt. Er polterte auf uns zu, ergriff Linton am Arm und warf ihn von seinem Sitz herunter.

›Geh in dein eigenes Zimmer!‹ schrie er, und seine Stimme war fast unkenntlich und sein Gesicht verzerrt vom Zorn. ›Nimm sie mit, nimm sie zu dir hinauf, wenn sie dich besuchen kommt! Du sollst mich hier nicht hinaussetzen! Macht, daß ihr weg kommt, alle beide!‹

Er ließ Linton keine Zeit zu irgendeiner Antwort und schleuderte ihn sozusagen in die Küche. Als ich ihm folgte, ballte Hareton die Fäuste und sah aus, als ob er mich niederschlagen wollte. Im Augenblick war ich erschrocken, so daß mir das Buch entfiel. Er warf es mir nach und sperrte uns aus. Vom Feuer her kam ein boshaftes Lachen und Krächzen. Ich drehte mich um und entdeckte den ekelhaften Josef, der dastand und sich vor Vergnügen die knochigen Hände rieb:

›Das habe ich doch gewußt, daß er es euch einmal besorgen würde! Ein großartiger Kerl! In dem steckt was drin. Er hats gemerkt – ha, er hats gemerkt, so gut wie ich, wer hier mit Fug und Recht der Herr sein müßte! Ha, ha, der ist mit euch umgesprungen, ha, ha, ha!‹

›Wo sollen wir nun hingehen?‹ fragte ich Linton, ohne auf den Hohn des alten Ungetüms zu achten.

Linton war ganz bleich und zitterte und war jetzt gar nicht hübsch, Ellen, o nein, er sah schauderhaft aus. Sein schmales Gesicht und die großen Augen hatten sich durch das wütende Gefühl seiner Ohnmacht vollständig verändert. Er rüttelte an der Tür. Sie war von innen verschlossen.

›Wenn du mich nicht hineinläßt, bringe ich dich um! Wenn du mich nicht hineinläßt, bringe ich dich um!‹ kreischte er ganz sinnlos. ›Du Teufel, du Teufel! Ja, ich bringe dich um!‹

Josef erhob von neuem sein krächzendes Gelächter: ›He, he, das ist der Vater! das ist nun wieder der Vater! Wir haben immerhin auch etwas von der anderen Seite in uns! Kümmere dich nicht darum, Hareton, mein Junge. Nur keine Angst, er kann nicht an dich heran!‹

Ich faßte Lintons Hände und wollte ihn hinwegziehen. Aber er schrie so fürchterlich, daß ich davon abstand. Da wurde sein Geschrei von einem Hustenanfall erstickt, Blut stürzte ihm aus dem Mund und er fiel hin. Wankend vor Schreck rannte ich in den Hof und rief nach Zillah. Sie molk in einem Schuppen hinter der Scheune die Kühe, hörte mich, stand auf und fragte, was geschehen sei. Ich hatte nicht Atem genug, um ihr irgend etwas erklären zu können, und zerrte sie hinter mir her.

Hareton war herausgekommen, um das von ihm angerichtete Unheil zu besichtigen, und wollte den armen Jungen gerade aus der Küche hinauftragen. Ich folgte ihm mit Zillah, aber er hielt mich am Ende der Treppe an und sagte, ich dürfe nicht ins Zimmer hineingehen, sondern müsse mich heimbegeben. Darauf schrie ich, er habe Linton getötet, und ich wolle hinein. Josef schloß die Tür und erklärte, daraus würde nichts. Ob ich vielleicht ebenso verrückt wie der Knabe werden wolle? Weinend stand ich da, bis die Haushälterin zurückkam: es werde ihm bald besser gehen, aber er könne den Lärm und die Aufregung rings herum nicht vertragen. Sie schob mich fast mit Gewalt in den großen Wohnraum.

Ellen, ich hätte mir am liebsten alle Haare ausgerauft. Ich heulte vor Verzweiflung, meine Augen waren fast blind. Aber der grobe Kerl, der deine Zuneigung besitzt, stand vor mir und nahm sich heraus, mich von Zeit zu Zeit zu bitten, daß ich doch wieder hübsch ruhig sein sollte. Er wagte es, zu behaupten, es sei nicht seine Schuld. Schließlich erschrak er doch über meine Drohung, ich würde es meinem Vater berichten, worauf er ins Gefängnis kommen und gehängt werden würde. Darüber begann er selbst zu flennen und stürzte hinaus, um seine feige Aufregung vor mir zu verstecken. Trotzdem war ich noch immer nicht von ihm befreit. Als man mich schließlich zum Aufbruch genötigt hatte und ich einige hundert Meter vom Gut weggeritten war, tauchte er plötzlich aus dem Schatten am Wegrande auf. Er fiel mir in die Zügel und sagte:

›Miß Catherine – es ist mir sehr unangenehm –, aber es war tatsächlich zu übel –‹

Ich gab ihm einen Schlag mit der Reitgerte. Denn ich dachte, er wolle mich ermorden. Mit einem seiner schauerlichen Flüche ließ er mich los, und ich galoppierte halb von Sinnen nach Haus. An diesem Abend habe ich dir nicht Gute Nacht gesagt, und am nächsten Tage bin ich nicht hinübergeritten, obwohl ich es überaus gern getan hätte. Aber ich war ganz merkwürdig erregt. Ich hatte Furcht, daß ich dort hören würde, Linton sei tot. Und dann schrak ich vor dem Gedanken zurück, Hareton zu begegnen. Am dritten Tage konnte ich die Ungewißheit nicht mehr ertragen und nahm mich zusammen und stahl mich noch einmal fort. Um fünf Uhr ging ich hin, zu Fuß. Denn ich hoffte, mich auf diese Weise ins Haus zu schlängeln und unbemerkt in Lintons Zimmer zu kommen.

Die Hunde meldeten sich nicht, als ich mich näherte, und Zillah empfing mich und sagte, der Junge erhole sich ganz schön. Sie brachte mich in ein kleines sauberes, mit Teppichen ausgelegtes Zimmer, wo ich zu meiner Freude Linton erblickte, der auf einem kleinen Sofa lag und eines meiner Bücher las. Aber eine volle Stunde lang, Ellen, wollte er weder mit mir sprechen noch mich nur ansehen. Er hat eine so unglückliche Natur! Noch bestürzter war ich, als er dann endlich den Mund auftat, aber mit der unglaublichen Behauptung, den Aufruhr neulich hätte ich verursacht. Hareton sei kein Vorwurf zu machen! Darauf konnte ich keine ruhige Antwort geben, ich stand auf und verließ den Raum. Er sandte nur ein schwaches ›Catherine!‹ hinter mir her. Sicherlich war er auf ein solches Verhalten nicht gefaßt; ich kehrte nicht um. Am folgenden Tage blieb ich zu Haus, so gut wie entschlossen, ihn nie wieder zu besuchen. Aber es war so trübselig, mich hinzulegen und morgens wieder aufzustehen und gar nichts von ihm zu hören, daß mein Entschluß zerrann, ehe ich ihn endgültig gefaßt hatte. Zuvor war es mir unrecht erschienen, den Gang zu unternehmen; jetzt kam es mir unrecht vor, ihn zu unterlassen. Als Michael mich fragte, ob er Minny satteln solle, bejahte ich, und während sie mich über die Hügel trug, war mir, als erfüllte ich eine Pflicht. Ich war gezwungen, an den vorderen Fenstern vorbei in den Hof zu reiten; so konnte ich meine Anwesenheit niemandem verbergen.

›Der junge Herr ist drin‹, sagte Zillah, als sie mich aufs Wohnzimmer zugehen sah. Ich trat ein. Hareton war auch anwesend, aber er entfernte sich sofort. Im Halbschlummer saß Linton in dem großen Lehnstuhl. Vom Kamin aus begann ich sogleich eine Rede in ernstem Ton, an die ich zum Teil selbst glaubte:

›Da du mich nicht gern hast, Linton, und da du annimmst, ich käme nur, um dir wehzutun, und ich täte es auch jedesmal, so ist dies unser letztes Zusammensein. Wir wollen voneinander Abschied nehmen. Sage Mr. Heathcliff, du wünschtest, mich nicht mehr zu sehen, und er hätte es nicht nötig, in dieser Sache noch mehr Unwahrheiten zu erfinden.‹

›Setz dich hin und nimm den Hut ab, Catherine‹, erwiderte er. ›Du bist soviel glücklicher als ich, daß du besser sein müßtest. Mein Vater redet genug über meine Fehler; er zeigt mir so scharf seine Verachtung, daß es kein Wunder ist, wenn ich an mir zweifle. Ich zweifle, ob ich nicht wirklich so minderwertig bin, wie er behauptet. Dann werde ich natürlich ganz verwirrt und verbittert und hasse alle Menschen. Ja, ich bin nutzlos und unerträglich und fast immer schlechter Stimmung. Also verabschiede mich, wenn du willst, und du bist eine Quälerei los. Nur bitte ich dich, Catherine, gerecht zu sein und mir zu glauben: Wenn ich so süß und freundlich und gut sein könnte, wie du bist, dann würde ich es gern sein – und noch lieber wäre ich so glücklich und so gesund. Es ist auch sicher, daß ich dich infolge deiner Güte tiefer liebe, als wenn ich deine Liebe verdiente. Obwohl ich nicht anders kann, als dir meine wahre Natur ungeschminkt zu zeigen, bedaure und bereue ich dies sehr, und ich werde es bedauern und bereuen, bis ich sterbe.‹

Ich empfand, daß er die Wahrheit sprach, und daß ich ihm verzeihen mußte. Selbst wenn er im nächsten Augenblick einen neuen Streit beginnen würde, müßte ich ihm wieder verzeihen. So waren wir versöhnt. Aber wir weinten beide, während der ganzen Zeit meines Besuches, nicht nur aus Kummer. Innerlich bekümmert war ich, daß Linton eine so unselige Anlage, ein so verzerrtes Wesen hat. Nie wird er seine Freunde in Frieden lassen, und er wird selber nie zu einem Frieden kommen. Seit diesem Abend habe ich ihn immer in seinem kleinen Wohnzimmer besucht. Denn sein Vater kehrte am nächsten Tage zurück. Dreimal waren wir vielleicht vergnügt und hoffnungsvoll, wie einst am ersten Abend. Die übrigen Besuche verliefen mißtönig, immer gestört durch Lintons spitze Selbstsucht oder durch seine Krankheit. Ich habe freilich gelernt, mich mit seinem Spott wie mit seinem Leiden so einfach wie möglich abzufinden. Mr. Heathcliff meidet mich wohl vorsätzlich; ich habe ihn kaum gesehen. Nur am letzten Sonntag geschah es, daß ich früher kam als sonst und hörte, wie er seinen Sohn wegen seines Verhaltens am Abend zuvor sehr grausam heruntermachte. Ich kann mir nicht erklären, woher er davon wußte; er muß uns behorcht haben. Linton war zwar sehr heftig gegen mich gewesen, aber das ging nur mich selbst an. Ich unterbrach Mr. Heathcliffs Beschimpfungen, indem ich eintrat und ihm meine Meinung sagte. Er brach in ein großes Gelächter aus. Dann verließ er uns mit den Worten, er freue sich aufrichtig, daß ich die Sache von dieser Seite nähme. – Ich habe Linton geraten, er müsse seine Ausfälle gegen mich künftig im Flüsterton machen!

Jetzt hast du alles gehört, Ellen. Man darf mich nicht hindern, Wuthering Heights zu besuchen, wenn ich nicht zwei Menschen elend machen soll. Wenn du es nicht dem Vater sagst, brauchen diese Ausflüge niemanden zu beunruhigen. Du wirst also nichts davon erzählen?«

»Ich werde mir all das bis morgen überlegen, Miß Catherine«, erwiderte ich. »Nun will ich Sie verlassen, damit Sie sich ausruhen, und ich will es mir, wie gesagt, überlegen.«

Ich überlegte es laut, nämlich in Gegenwart des Herrn. Aus ihrem Zimmer ging ich geradewegs in das seine und berichtete ihm die ganze Geschichte. Nur den Inhalt ihrer Gespräche mit Linton überging ich und erwähnte Hareton überhaupt nicht. Mr. Edgar war erregter, als er mich merken lassen wollte.

Am Morgen wurde Catherine von meinem Vertrauensbruch unterrichtet und vernahm das Ergebnis: daß ihre Besuche ein Ende haben müßten. Umsonst lehnte sie sich in jeder Weise gegen das Verbot auf und beschwor den Vater, wenigstens mit Linton Mitleid zu haben. Als einzigen Trost erlangte sie das Versprechen, daß Mr. Edgar ihm schreiben und es ihm überlassen würde, ob er nach Grange kommen wolle. Dies solle ihm jederzeit freistehen, aber er dürfe nicht mehr erwarten, Catherine auf Wuthering Heights zu sehen. Hätte er die Anlagen und den Gesundheitszustand seines Neffen genauer gekannt, so hätte er auch diesen kleinen Trost nur für schädlich gehalten und das Angebot unterlassen.


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