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Einundzwanzigstes Kapitel

An jenem Tage hatten wir unsere schwere Arbeit mit Cathy. In aller Fröhlichkeit erwachte sie, äußerst begierig, ihren Vetter wiederzusehen. Als ihr seine Abreise mitgeteilt wurde, verfiel sie in so leidenschaftliche Klagen, daß Edgar sie durch die Zusicherung seines baldigen Besuchs beruhigen mußte. Aber er fügte hinzu: »Wenn er zu mir kommen darf.« Dafür bestand gar keine Aussicht; das Versprechen befriedigte sie wenig. Immerhin tat die Zeit ihre Wirkung, und obschon sie den Vater zunächst immer wieder fragte, wann er käme – schwand Lintons Gesicht doch so sehr aus ihrem Gedächtnis, daß sie ihn beim Wiedersehen nicht mehr erkannte.

Wenn ich die Haushälterin von Wuthering Heights bei meinen Einkäufen in Gimmerton traf, erkundigte ich mich nach dem Befinden des jungen Herrn. Er lebte fast so zurückgezogen wie Cathy, und man bekam ihn niemals zu sehen. Ihrem Bescheid war zu entnehmen, daß er nach wie vor sehr anfällig und ein recht ermüdender Hausgenosse war. Mr. Heathcliff könne ihn offensichtlich immer weniger leiden, je länger es dauere, obwohl er dies zu verbergen suche. Er habe eine Abneigung gegen den Klang von Lintons Stimme und könne höchstens ein paar Minuten mit ihm zusammen im selben Raum sitzen. Sie sprächen selten miteinander. Linton lerne seine Aufgaben und verbringe die Abende in einem kleinen Zimmer, Wohnzimmer genannt. Oder er liege den ganzen Tag im Bett, denn er habe unaufhörlich Husten und Schnupfen und Schmerzen von jeder Art.

»Noch nie habe ich ein so weichliches Geschöpf gesehen, und er geht so zimperlich mit sich selbst um!« sagte die Frau. »Was er angibt, wenn ich abends das Fenster ein bißchen länger offen lasse! Etwas Nachtluft könnte ihn umbringen! Mitten im Sommer muß er Feuer im Kamin haben. Josefs Tabakpfeife ist Gift für ihn. Immer braucht er Süßigkeiten und Leckerbissen und Milch, immer wieder Milch. Ob wir anderen uns im Winter einschränken müssen, ist ihm vollkommen gleichgültig. Dann sitzt er im Pelz in seinem Stuhl am Feuer, geröstetes Brot und Wassersuppe oder dergleichen fade Kost auf dem Kaminsims, um daran zu nippen. Gesellt sich Hareton zu ihm, um ihn zu unterhalten, denn Hareton ist von Natur nicht böse, nur etwas rauh, dann trennen sie sich nach kurzer Zeit, der eine fluchend, der andere flennend. Ich glaube, der Herr würde sich freuen, Linton von Hareton ordentlich verprügelt zu sehen, wenn es nicht sein Sohn wäre. Er würde ihn an die Luft setzen, wenn er nur halbwegs wüßte, wie der Junge sich anstellt. Darum vermeidet Mr. Heathcliff lieber, sich in solche Versuchung zu begeben. Er betritt einfach das Wohnzimmer nicht, und sobald Linton sich in dieser Art aufführt, schickt er ihn sofort in den oberen Stock.«

Ich entnahm diesem Bericht, daß der Mangel an liebevoller Umgebung den Jungen vollends selbstsüchtig und unverträglich gemacht hatte, soweit er es nicht schon von Natur war. Daher schwächte sich mein Interesse für ihn ab; eine gewisse Teilnahme an seinem Schicksal blieb natürlich zurück, und ich wünschte, man hätte ihn bei uns gelassen. Mr. Edgar redete mir zu, mit meinen Erkundigungen fortzufahren. Er hätte wahrscheinlich manches dafür aufs Spiel gesetzt, ihn selbst zu sehen. Einmal hieß er mich die Haushälterin fragen, ob Linton je ins Dorf gehe. Sie sagte, Linton sei nur zweimal dorthin geritten, in Begleitung seines Vaters, und nach beiden Ausflügen habe er sich nach seiner Behauptung tagelang wie zerschlagen gefühlt.

Für uns in Grange verstrich die Zeit angenehm weiter, bis Miß Cathy sechzehn Jahre alt wurde. Man feierte ihren Geburtstag nie besonders fröhlich, weil er zugleich der Todestag ihrer Mutter war. Ihr Vater verbrachte diesen Tag stets vollkommen allein in der Bibliothek. Erst wenn es dämmerte, ging er zum Kirchhof von Gimmerton und dehnte diesen Besuch zuweilen bis nach Mitternacht aus. Cathy mußte dann versuchen, sich selbst ein bißchen zu unterhalten. Diesmal war der zwanzigste März ein schöner Frühlingstag. Als ihr Vater sich zurückgezogen hatte, kam sie herunter, zum Ausgehen gekleidet, und sagte, sie habe gefragt, ob sie mit mir am Rande des Moors umherstreifen dürfe. Mr. Linton habe es erlaubt, wenn wir uns nicht zu weit entfernten und in einer Stunde zurückkämen. Sie rief: »Beeile dich, Ellen! Ich weiß, wohin ich gehen möchte: an eine Stelle, wo sich ein Schwarm Sumpfhühner angesiedelt hat. Ich will sehen, ob sie ihr Nest schon gebaut haben.«

»Das wird zu weit sein. Sie nisten nicht am Saum des Moors.«

»Durchaus nicht weit. Ich war mit dem Vater nahe daran.«

Ohne besondere Überlegung setzte ich meine Haube auf und wir gingen los. Sie sprang vor mir her, kehrte zu mir zurück, lief wieder davon, wie ein junger Windhund. Anfangs ging ich ganz darin auf, dem Gesang der Lerchen von fern und nah zu lauschen, die wunderbar warme Sonne zu genießen und meinen Liebling zu beobachten, mit den goldenen, im Winde flatternden Locken, den so sanft und rein wie Heckenrosen blühenden Wangen, den von ungetrübter Freude schimmernden Augen. Sie war in jenen Tagen ein vollkommen glückliches Geschöpf. Welch ein Jammer, daß sie damit nicht zufrieden sein konnte.

»Nun, wo sind aber Ihre Sumpfhühner, Miß Cathy?« fragte ich endlich. »Wir müßten schon bei ihnen angelangt sein. Die Mauer unseres Parks liegt längst hinter uns.«

»Oh, noch etwas weiter, etwas weiter, Ellen! Steig auf den Hügel dort und geh den Abhang entlang. Bis du die andere Seite erreichst, habe ich die Vögel aufgescheucht.«

Aber es gab dort so viele Hügel und Abhänge, über die wir zu steigen und die wir entlang zu gehen hatten, daß ich schließlich müde wurde. Ich erklärte, wir müßten haltmachen und zurückkehren, und rief laut hinter ihr her, da sie mir weit voraus war. Entweder hörte sie mich nicht oder achtete nicht darauf; sie sprang weiter und ich war genötigt, ihr zu folgen. Schließlich tauchte sie in einer Senkung unter – und als sie wieder in Sicht kam, befand sie sich an einem Ort, der um zwei Meilen näher zu Wuthering Heights als zu unserer eigenen Wohnung lag. Ich sah, daß zwei Personen bei ihr standen, und eine davon war ohne Zweifel Mr. Heathcliff selbst.

Cathy war beim Plündern oder mindestens beim Ausfindigmachen der Nester ertappt worden. Die Anhöhen gehörten zu Heathcliffs Besitztum. Er stellte die kleine Wilddiebin zur Rede. Als ich hinzutrat, sagte sie, indem sie ihre Hände offen hinstreckte, zur Bekräftigung ihrer Worte:

»Ich habe keine genommen! Ich habe überhaupt keine gefunden! Außerdem wollte ich sie gar nicht nehmen. Papa hat mir erzählt, hier gäbe es sehr viele, und ich wollte gern die Eier sehen.«

Heathcliff sah mich mit boshaftem Lächeln an. Es sollte besagen, daß er Bescheid wisse, und daß ich mir seine Gesinnung der jungen Dame gegenüber vorstellen könne. Er fragte sie, wer »Papa« sei.

»Das ist Mr. Linton auf Thrushcross Grange. Ich dachte mir schon, daß Sie mich nicht kennen. Sonst hätten Sie nicht so mit mir gesprochen.«

»Ach, weil Papa so außerordentlich hoch geachtet und geehrt wird, nicht wahr?«

»Und wer sind Sie eigentlich?« Mit großer Neugierde betrachtete sie den Herrn. »Den Mann dort habe ich schon gesehen. Ist er Ihr Sohn?« Sie zeigte auf Hareton. In den zwei Jahren, die dazwischen lagen, hatte er nur an Größe und Stärke zugenommen; er sah so linkisch und roh aus wie je. Ich unterbrach die Auseinandersetzung:

»Miß Cathy, wir sind jetzt schon drei Stunden unterwegs, statt einer. Wir müssen wirklich heimgehen.«

Heathcliff schob mich beiseite: »Nein, dieser Mann ist nicht mein Sohn. Aber ich habe einen Sohn, und Sie haben ihn auch schon einmal gesehen. Ihr Schutzengel hat es zwar sehr eilig, aber Ihnen beiden würde eine kleine Rast ganz gut tun. Sie brauchen nur um diese Moorhalde herumzugehen – dort steht mein Haus, wollen Sie mich nicht beehren? Sie werden sogar früher daheim anlangen, wenn Sie frischer sind, und ich heiße Sie herzlich willkommen.«

Ich flüsterte Cathy zu, sie dürfe die Einladung auf keinen Fall annehmen, es sei durchaus unmöglich.

»Weshalb?« fragte sie laut. »Ich bin tatsächlich müde, der Boden ist taunaß, hier kann ich mich nicht hinsetzen. Wir gehen mit, Ellen. Außerdem sagt er, ich kenne seinen Sohn. Er muß sich wohl irren. Aber ich kann mir denken, wo er wohnt: sicher in dem Gutshaus, wo ich auf dem Wege von Penistone Crags einen Besuch machte. Ist es richtig?«

»Jawohl. Halt den Mund, Nelly, und komm. Es wird ihr Vergnügen machen, bei uns hereinzuschauen. Hareton, geh mit der Kleinen vor, und du mit mir, Nelly.«

»Nein, sie soll nicht, sie soll den Ort nicht betreten!« rief ich und suchte meinen Arm loszureißen, den er gepackt hatte. Aber sie war schon um den Hügel herumgelaufen, fast bis auf den Weg zum Tor. Der Begleiter, den man ihr bestimmt hatte, wollte nicht mittun; er bog zur Landstraße ab und verschwand. Ich redete weiter:

»Mr. Heathcliff, das ist sehr unrecht! Sie wissen selbst, daß es zu nichts Gutem führt. Dort wird sie nun Linton sehen und wird bei unserer Rückkehr unverzüglich alles erzählen, und mir wird man die Schuld geben.«

»Ich wünsche, daß sie Linton trifft. In diesen Tagen schaut er etwas besser aus. Es geschieht nicht häufig, daß man ihn vorzeigen kann. Wir werden sie überreden, den Besuch geheimzuhalten. Was ist dabei?«

»Dies ist dabei, daß ihr Vater mir grollen würde, wenn er wüßte, daß ich sie in Ihr Haus gelassen habe. Ich zweifle nicht, daß Sie etwas Böses im Sinne haben, wenn Sie ihr so sehr zureden.«

»Meine Absicht ist denkbar ehrenhaft! Ich will dir verraten, worauf sie ausgeht: daß Vetter und Base sich ineinander verlieben und sich heiraten. Dabei handle ich großzügig an deinem Herrn. Sein Töchterchen hat nichts zu erwarten. Wenn sie aber auf meine Wünsche einginge, wäre sie mit einem Male versorgt: als gemeinsame Erbin mit Linton.«

»Wenn aber Linton stürbe, er ist ja nicht sehr lebenskräftig, dann wäre Cathy selbst die alleinige Erbin.«

»Keineswegs. Das Testament enthält keine Klausel, die ihr dies zusichert. Nein: Edgars Besitztum würde an mich fallen. Um indessen jeden Streit zu vermeiden: ich wünsche ihre Verbindung und bin entschlossen, sie durchzusetzen.«

»Und ich bin entschlossen, dafür zu sorgen, daß sie Ihrem Hause nie wieder zu nahe kommt, wenigstens nicht mit mir«, entgegnete ich, als wir das Gattertor erreichten, wo Cathy uns erwartete.

Heathcliff sagte, ich solle mich jetzt ruhig verhalten, ging voran und öffnete eilig die Haustür. Cathy warf wiederholt Blicke auf ihn, als wüßte sie nicht recht, was sie von ihm denken sollte. Er jedoch lächelte jetzt, wenn er ihren Augen begegnete, und dämpfte die Stimme, wenn er mit ihr sprach. Ich redete mir töricht genug ein, die Erinnerung an ihre Mutter würde ihn vielleicht doch entwaffnen und von jedem bösen Plan gegen sie abhalten. Linton stand am Kamin. Er war durch die Felder gegangen, hatte noch die Mütze auf und rief nach Josef, um trockene Schuhe zu bekommen. Für sein Alter war er groß; es fehlten ihm noch einige Monate an sechzehn Jahren. Sein Gesicht war immer noch hübsch, Augen und Hautfarbe waren lichter, als ich sie im Gedächtnis hatte. Möglicherweise hatten sie sich nur für kurze Zeit lebhafter gefärbt, durch die Frische der Luft und die Wärme der Sonne.

»Nun, wer ist das?« fragte Mr. Heathcliff. »Wissen Sie es?«

»Ihr Sohn?« antwortete sie, nachdem sie zweifelnd zuerst den einen, dann den anderen betrachtet hatte.

»Ja, ja. Aber denken Sie nach, ob Sie ihn wirklich zum ersten Male sehen. Sie haben ja ein kurzes Gedächtnis. Linton, du erinnerst dich doch an deine Kusine – da du uns so lange geplagt hast, daß du sie wiedersehen möchtest!«

»Was, Linton?« rief Cathy überrascht, strahlend bei der Nennung dieses Namens. »Das ist der kleine Linton? Er ist größer als ich! Bist du Linton?«

Der Jüngling kam auf sie zu. Sie küßte ihn herzlich. Beide sahen mit Verwunderung, wie die Zeit ihr Aussehen verändert hatte. Cathy hatte schon die richtige Größe erreicht; ihre Gestalt war voll und zierlich zugleich, biegsam wie Stahl. Alles an ihr funkelte von Gesundheit und Lebenslust. Lintons Blicke und Bewegungen waren matt; aber er besaß eine gewisse Anmut, die seine schwächliche Erscheinung und die anderen Mängel ausglich und seinen Anblick nicht unangenehm machte. Nachdem Cathy ihn so zärtlich begrüßt hatte, ging sie zu Mr. Heathcliff. Er war an der Tür geblieben und drehte den Kopf bald hinein, bald hinaus, so, als sei seine Aufmerksamkeit nach draußen gerichtet, während er in Wahrheit beobachtete, was drinnen geschah.

»Und du bist also mein Onkel!« rief sie und hob das Gesicht zu ihm. »Ich hatte sogleich das Gefühl, als ob ich dir zugetan wäre, obwohl du anfangs so grob zu mir warst. Warum besuchst du uns nicht in Grange, mit Linton? Wie kannst du so viele Jahre in unserer Nachbarschaft wohnen und niemals kommen?«

»Bevor du geboren warst, war ich ein- oder zweimal zu oft bei euch. Ja – verdammt! Wenn du noch einige Küsse zu vergeben hast, dann bitte an Linton. Bei mir sind sie verschwendet.«

»Du schreckliche Ellen!« Sie flog auf mich zu, um mich mit Liebkosungen zu überschütten. »Du hast versucht, mich am Besuch hier zu verhindern. Von jetzt an mache ich jeden Morgen diesen Spaziergang, darf ich, Onkel? Manchmal bringe ich auch den Vater mit. Freust du dich, uns zu sehen?«

»Selbstverständlich« erwiderte der Onkel mit einer schlecht unterdrückten Grimasse. »Aber hör zu. Ich denke gerade daran, und es ist besser, daß ich es dir sogleich erzähle. Dein Vater, Mr. Linton, hat ein Vorurteil gegen mich. Wir haben uns in einer bestimmten Zeit unseres Lebens höchst unchristlich miteinander gestritten. Wenn du also deinen Besuch bei uns erwähnst, wird er dir verbieten, überhaupt hierherzukommen. Erzähle lieber nichts, es sei denn, du möchtest deinen Vetter nicht mehr sehen. Komm zu uns, so oft du willst, aber sprich nicht darüber.«

»Weshalb habt ihr euch gestritten?« fragte Catherine, sehr niedergeschlagen.

»Er hielt mich für zu arm, um seine Schwester heiraten zu dürfen. Als ich sie trotzdem bekam, war er gekränkt. Sein Stolz war tief verletzt, und er wird es mir niemals verzeihen.«

»Das ist nicht recht. Ich werde es ihm einmal sagen. Immerhin, Linton und ich haben mit eurem Zwiespalt nichts zu tun. Wir können es ja so machen, daß ich zwar nicht hierher komme, aber er nach Grange.«

»Das wird zu weit für mich sein«, murmelte der Junge. »Vier Meilen zu gehen, wäre mein Tod. Nein, kommen Sie manchmal zu uns – Miß Catherine. Nicht jeden Morgen, aber zum Beispiel ein- oder zweimal die Woche.«

Der Vater warf einen verächtlichen Blick auf seinen Sohn. Er flüsterte mir zu: »Ich fürchte, Nelly, da werde ich mich umsonst bemühen. Miß Catherine, wie der Dummkopf sie nennt, wird sich bald über seinen Wert klar sein und ihm einen Tritt geben. Ja, wenn es Hareton wäre – weißt du, daß ich mir soundso oft am Tage wünsche, der wäre mein Sohn, bei all seiner Verkommenheit? Den Burschen hätte ich gern gehabt, wäre sein Vater nicht Hindley gewesen. Aber Cathy wird ihn nicht sehr anziehend finden! Auf jeden Fall werde ich Hareton gegen diesen Jämmerling ausspielen, wenn er sich nicht etwas lebhafter heranhält. Älter als achtzehn Jahre wird er kaum werden. Ein verdammt schaler Kerl! Er denkt nur daran, wie er trockene Füße bekommt, und sieht sie überhaupt nicht an. – Linton!«

»Ja, Vater.«

»Hast du deiner Kusine hier gar nichts zu zeigen? Sagen wir: ein Kaninchen oder den Bau eines Wiesels? Nimm sie in den Garten mit, aber bevor du die Schuhe wechselst. Führe ihr dein Pferd im Stall vor.«

»Willst du nicht lieber hier sitzenbleiben?« fragte Linton mit deutlicher Unlust, schon wieder ins Freie gehen zu müssen.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie, mit einem sehnsüchtigen Blick nach der Tür, offensichtlich erfüllt von Tatendrang.

Er blieb sitzen und rückte näher ans Feuer. Heathcliff stand auf, ging in die Küche, dann in den Hof und rief nach Hareton, der sich meldete. Beide traten ein. Der junge Mann hatte sich gewaschen, nach dem schimmernden Gesicht und dem nassen Haar zu schließen.

»Sage mir«, rief Cathy, »das ist doch nicht mein Vetter, wie die Haushälterin behauptet hat?«

»Doch; der Neffe deiner Mutter. Gefällt er dir nicht?«

Sie machte sonderbare Augen.

»Ist er nicht ein hübscher Bursche?«

Das ungezogene Ding stellte sich auf die Zehen und flüsterte Heathcliff etwas ins Ohr. Dieser lachte. Hareton wurde rot. Ich bemerkte, wie empfindlich er war, wenn er Geringschätzung vermutete, und daß er eine unbewußte Vorstellung von seiner Minderwertigkeit hatte. Aber sein Herr oder Vormund verscheuchte die Furchen auf seiner Stirn, indem er rief:

»Du wirst der Favorit unter uns sein, Hareton! Sie sagt, du seist ein – Was war es doch? Jedenfalls etwas sehr Schmeichelhaftes. Also du gehst jetzt mit ihr durch unser Anwesen. Benimm dich wie ein Gentleman, verstehst du. Gebrauche keine schlechten Ausdrücke. Starre die junge Dame nicht an, wenn sie gerade wegschaut, und halte dein Gesicht nicht hin, wenn sie dich ansieht. Sage hübsch langsam, was du zu sagen hast, und stecke deine Hände nicht in die Taschen. Also los, und unterhalte sie, so nett du kannst.«

Durch das Fenster beobachtete er, wie das Paar davonging. Hareton hielt sein Gesicht vollkommen von seiner Gefährtin abgewandt. Es sah aus, als betrachte er die ihm vertraute Landschaft mit dem künstlerischen Interesse eines Fremden. Cathy warf ihm einen heimlichen Blick zu, der nicht gerade Bewunderung ausdrückte. Dann begann sie, ihr Vergnügen auf eigene Weise zu suchen, trippelte lustig voran und sang sich ein Liedchen, zum Ersatz für die fehlende Konversation.

»Ich habe seine Zunge gebunden«, bemerkte Heathcliff. »Er wird während der ganzen Zeit keine Silbe zu äußern wagen. Nelly, du erinnerst dich meiner in seinem Alter, oder als ich noch jünger war. Habe ich jemals so blöd ausgesehen wie er, so tramplig, wie Josef es nennt?«

»Schlimmer«, erwiderte ich, »weil Sie außerdem verdrossener waren.«

»Ich habe im Grunde Freude an ihm«, fuhr Heathcliff fort, als denke er laut vor sich hin. »Er hat meine Erwartungen erfüllt. Wenn er von Geburt ein Narr wäre, hätte ich nur die halbe Freude daran, ihn so zu behandeln. Aber er ist kein Narr, und ich kann alle seine Gefühle nachempfinden, weil ich das gleiche durchgemacht habe. Ich weiß zum Beispiel, was er in diesem Augenblicke leidet; es ist erst der Anfang dessen, was er noch leiden wird. Nie wird er imstande sein, aus dieser Tiefe der Dumpfheit und Unwissenheit aufzutauchen. Ich halte ihn fester am Zügel, als sein elender Vater mich hielt, und drücke ihn noch mehr hinunter. Denn ich habe ihn sogar stolz auf seine Roheit gemacht! Ich habe ihn gelehrt, alles, was nicht grobkörperlich ist, für albern und schwächlich zu erachten. Wenn Hindley seinen Sohn so erblicken könnte – er würde eine schöne Freude an ihm haben! Ungefähr wie ich an dem meinen! Aber da ist ein Unterschied: der eine ist Gold, das zu Pflastersteinen verwendet wird, der andere poliertes Zinn, mit dem man ein silbernes Eßgeschirr vortäuscht. An meinem Sohn ist nichts; aber ich werde mir das Verdienst erwerben, aus seinen jämmerlichen Anlagen möglichst viel zu machen. Sein Sohn anderseits besaß die besten Fähigkeiten, und sie sind verloren: das ist schlimmer, als wenn er sie nie gehabt hätte. Mir ist nichts genommen worden, aber diesem Hindley mehr, als irgend jemand außer mir weiß. Und das beste daran scheint mir, daß Hareton obendrein von mir sehr eingenommen ist! Ich habe Hindley bei ihm ausgestochen! Wenn der tote Schuft aus seinem Grabe steigen könnte, um wegen meiner Behandlung seines Sprößlings von mir Rechenschaft zu verlangen, würde ich den Spaß erleben, daß besagter Sprößling gegen ihn auftreten und ihn unter die Erde zurücktreiben würde, empört über einen solchen Angriff gegen den einzigen Freund, den er auf der Welt hat!«

Bei dieser Vorstellung lachte er sein bösestes Gelächter. Ich verzichtete auf eine Antwort, da ich sah, daß er keine erwartete. Inzwischen begann sein Sohn, der zu weit saß, um uns zu hören, sich unruhig zu bewegen. Vermutlich bereute er schon, sich des Vergnügens an Cathys Gesellschaft beraubt zu haben. Sein Vater bemerkte natürlich alles, auch wie seine Augen immer wieder nach dem Fenster gingen und seine Hand unentschlossen nach der Mütze zuckte. Mit gespielter Herzlichkeit rief Heathcliff:

»Also auf, du Faulpelz! Folge ihnen. Sie sind jetzt an der Ecke, bei den Bienenstöcken.«

Linton nahm allen Mut zusammen und trennte sich vom Feuer. Während er durch die offene Haustür hinausging, hörte ich Cathy draußen ihren unbeholfenen Begleiter fragen, was die Inschrift über der Tür bedeute. Hareton starrte hinauf und kratzte sich den Kopf:

»Es ist irgend so eine verdammte Schreiberei. Ich kann es nicht lesen.«

»Kannst es nicht lesen?« rief Cathy. »Ich kann es, es ist doch englisch. Aber ich möchte wissen, warum es da steht?«

Linton kicherte; das erste Zeichen von Fröhlichkeit, das er von sich gab.

»Er kann nicht lesen!« äußerte er zu seiner Kusine. »Würdest du es für denkbar halten, daß es einen so kolossalen Dummkopf gibt?«

»Ist er überhaupt ganz richtig?« fragte Cathy ernsthaft. »Oder ist er gestört und verrückt? Ich habe ihn schon zweimal gefragt, und immer hat er ein so blödes Gesicht gemacht, daß ich denke, er hat mich nicht verstanden. Ihn verstehe ich jedenfalls nicht!«

Linton lachte von neuem und schaute Hareton spöttisch an. Dieser schien augenblicklich in der Tat nicht ganz klar im Kopf zu sein.

»Daran ist aber nur deine Faulheit schuld, nicht wahr, Earnshaw?« sagte Linton. »Meine Kusine hält dich nämlich für einen Idioten. Jetzt bekommst du zu spüren, wie es einem geht, wenn man jede Schulweisheit verachtet. Was sagst du zu seiner schrecklichen Yorkshire-Aussprache, Cathy?«

»Zum Teufel, was ist das für ein Unsinn!« brummte Hareton, der seinem täglichen Genossen gegenüber eher den Mund auftun konnte. Er machte Anstalten, noch weiteres darüber hervorzubringen. Aber die beiden jungen Leute lärmten vor Heiterkeit, da meine törichte Kleine von der Entdeckung entzückt war, daß man an seiner etwas sonderbaren Aussprache viel Vergnügen haben könnte.

»Was hat der Teufel mit der Sache zu tun«, kicherte Linton. »Papa hat dir doch gesagt, du sollst keine üblen Worte gebrauchen, und du machst nicht den Mund auf, ohne so etwas zu sagen. Versuche, dich wie ein Gentleman zu betragen, wenn ich bitten darf.«

»Wenn du ein Junge und nicht wie ein Mädchen wärest, hätte ich dich schon niedergeschlagen, du klappriges Gestell!« schrie der Bauer und ging weg. Sein Gesicht brannte vor Wut, denn er wußte sich nicht zu helfen und sah kein Mittel, die Kränkung zu vergelten.

Mr. Heathcliff, der die Auseinandersetzung mit mir angehört hatte, lächelte, als er den Jungen abmarschieren sah. Aber sogleich warf er einen Blick voller Widerwillen auf das schwatzende Paar, das noch im Torweg stand. Linton machte sich ein Vergnügen daraus, über Haretons Fehler und Unfähigkeiten zu klatschen und alle möglichen Geschichten über sein Tun und Treiben hervorzuholen. Cathy ließ sich gern mit diesen boshaften Reden unterhalten, ohne im Augenblick über deren Häßlichkeit und Gehässigkeit nachzudenken. Ich wurde immer mehr gegen Linton eingenommen, ich bemitleidete ihn nicht im mindesten mehr und entschuldigte sogar den Vater, wenn er ihn so abschätzig beurteilte.

Wir blieben bis zum Nachmittag; eher konnte ich das Mädchen nicht wegbringen. Zum Glück verließ Mr. Edgar sein Zimmer heute nicht und wußte nichts von unserer langen Abwesenheit. Auf dem Heimweg versuchte ich Cathy über den Charakter der Leute, die wir soeben verlassen hatten, aufzuklären. Aber sie wollte durchaus daran festhalten, ich hätte ein Vorurteil gegen diese Menschen.

»Du bist parteiisch und stehst auf der Seite meines Vaters, Ellen! Sonst hättest du mich nicht jahrelang im Glauben gelassen, Linton wohne weit von hier. Ich bin böse auf dich, aber ich bin auch wieder froh, so sehr, wie ich es gar nicht zeigen kann. Du darfst nichts gegen Mr. Heathcliff sagen, bedenke, er ist mein Onkel, und ich werde dem Vater Vorwürfe machen, weil er sich mit ihm gestritten hat.«

So ging es weiter, bis ich davon abstand, sie eines Besseren zu belehren. An jenem Abend erwähnte sie unseren Besuch nicht, weil sie Mr. Linton nicht zu sehen bekam. Am nächsten Morgen wurde leider alles ausposaunt. Dennoch war ich darüber nicht allzu betrübt. Ich dachte, es würde mehr Gewicht haben, wenn Mr. Linton selbst sich mit der Sache befaßte und das Mädchen warnte, als wenn ich es täte. Er hatte indessen eine zu große Scheu, um die richtigen Gründe für seinen Wunsch anzugeben, daß sie die Verbindung mit Wuthering Heights meiden solle. Cathy ihrerseits wollte für jeden Widerstand, der sich ihrem verwöhnten Willen entgegenstellte, die allerbesten Gründe hören.

»Papa, rate, wen ich gestern bei meinem Spaziergang durchs Moor getroffen habe«, rief sie bei der Begrüßung am Morgen. »Aha, du erschrickst! Weil du nicht recht gehandelt hast! Also ich traf – jetzt wirst du hören, wie ich hinter deine Schliche gekommen bin und hinter Ellens Finten, die mit dir im Bunde ist. Sie hat immer getan, als hätte sie tiefstes Mitleid mit mir, wenn ich so lange auf Lintons Rückkehr gehofft habe, und sie war so herzlich enttäuscht, wenn er nicht kam!«

Cathy gab also einen genauen Bericht über ihren Ausflug und seine Folgen. Mr. Edgar bedachte mich mit manchem vorwurfsvollen Blick, sagte aber nichts, ehe sie fertig war. Dann zog er sie zu sich heran und sagte, sie glaube doch nicht, er würde ihr irgendeine unschädliche Freude versagen; aber sie könne nicht wissen, warum er Lintons Nachbarschaft vor ihr geheimgehalten habe.

»Weil du Mr. Heathcliff nicht leiden kannst«, antwortete sie.

»Glaubst du, meine eigenen Gefühle sind mir wichtiger als die deinen, Cathy? Nein, umgekehrt: es ist geschehen, weil Mr. Heathcliff mich nicht leiden kann. Er ist ein furchtbarer Mensch, es macht ihm Freude, jeden, den er haßt, zugrunde zu richten, wenn man ihm den geringsten Anlaß gibt. Du konntest die Bekanntschaft mit deinem Vetter nicht aufrechterhalten, ohne mit seinem Vater in Berührung zu kommen, und ich wußte, sein Vater würde dich um meinetwillen schädigen. Für dein Wohl habe ich dafür sorgen wollen, daß du Linton nicht wieder siehst. Wenn du älter geworden wärst, hätte ich es dir erklärt; jetzt bedauere ich freilich, daß ich es aufgeschoben habe.«

»Aber Mr. Heathcliff war äußerst herzlich«, entgegnete Catherine, nicht zum mindesten überzeugt. »Er hatte gar nichts dagegen, daß wir uns sehen; ich könne in sein Haus kommen, so oft ich Lust hätte. Nur sollte ich es dir nicht erzählen, eben weil du dich mit ihm zerstritten hättest. Weil du ihm nämlich nicht verzeihen wolltest, daß er Tante Isabella geheiratet hat. Das stimmt auch. Nur du bist also schuld, denn er ist einverstanden, daß Linton und ich Freunde sind, aber du nicht.«

Mr. Edgar war demnach genötigt, ihr ein gedrängtes Bild von Heathcliffs Verhalten Isabella gegenüber zu geben und von der Art und Weise, wie Wuthering Heights dessen Eigentum geworden war. Er konnte es nicht ertragen, lange über diesen Gegenstand zu sprechen. Denn er fühlte noch immer den gleichen Schrecken, den gleichen Widerwillen gegen seinen Feind von damals; daran hatte sich seit Mrs. Lintons Tod nichts geändert. Sie könnte noch am Leben sein, wenn jener Mann nicht gewesen wäre –: das war seine beständige bittere Überlegung. In seinen Augen war Heathcliff ein Mörder.

Cathy hörte zu. Sie war mit schlechten Taten noch nicht vertraut. Höchstens kannte sie ihre eigenen kleinen Handlungen des Ungehorsams, der Ungerechtigkeit, des Ungestüms, die ihrem ein wenig gedankenlosen Temperament entsprangen und noch am selben Tage bereut wurden. Nun war sie bestürzt von der Finsternis in einem Menschen, der jahrelang Rache hegen, Rache ausbrüten konnte, der seine Pläne bewußt und ohne Gewissen verfolgte. Der Eindruck war so heftig, dieser Blick in die menschliche Natur ging so viel tiefer, als alle ihre bisherigen Erfahrungen und Vorstellungen reichten, daß Mr. Edgar einhielt. Es war nicht nötig, auf diesem Wege weiterzugehen, und er fügte nur noch hinzu:

»Du siehst also, mein Liebling, warum du seinem Hause und seiner Familie fernbleiben sollst. Kehre zu deinen gewohnten Beschäftigungen und Vergnügungen zurück und denke nicht mehr daran.«

Cathy küßte den Vater und setzte sich einige Stunden lang ruhig an ihre Schulaufgaben. Danach begleitete sie ihn durch das Anwesen, und der ganze Tag verstrich wie gewöhnlich. Als sie am Abend in ihr Zimmer gegangen war und ich hineinkam, um ihr beim Ausziehen zu helfen, lag sie auf den Knien neben ihrem Bett und weinte.

»Oh, sind Sie töricht!« rief ich. »Wenn Sie wirkliche Sorgen hätten, würden Sie sich schämen, über eine solche Meinungsverschiedenheit auch nur eine Träne zu vergießen. Sie haben noch niemals den Schatten eines wahrhaften Kummers gesehen. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Ihr Vater und ich wären tot und Sie allein auf der Welt. Wie würde Ihnen dann zumute sein? Machen Sie einen solchen Vergleich und seien Sie dankbar für die Freunde, die Sie besitzen, statt nach neuen auszuschauen.«

»Ich weine nicht meinetwegen, sondern um seinetwillen, Ellen! Er rechnet darauf, daß er mich morgen wieder sieht. Nun wird er so enttäuscht sein, wird auf mich warten, und ich werde nicht kommen.«

»Unsinn. Bilden Sie sich ein, er denkt so oft an Sie, wie Sie an ihn? Er hat doch die Gesellschaft Haretons. Man weint nicht gleich, wenn man einen Verwandten verliert, den man erst zwei Nachmittage lang gesehen hat. Linton wird sich vorstellen können, wie es ist, und die Sache nicht so schwer nehmen.«

»Kann ich ihm nicht wenigstens einen kleinen Brief schreiben und ihm sagen, warum ich nicht komme?« Sie erhob sich. »Kann ich ihm nicht die Bücher schicken, die ich ihm versprochen habe? Seine Bücher sind nicht so schön wie die meinen; er wollte sie lesen, als ich ihm erzählte, wie spannend sie sind.«

»Auch das nicht«, erwiderte ich ganz entschieden. »Er würde Ihnen antworten. So würde es immer weitergehen. Nein, Miß Cathy, eure Bekanntschaft muß vollständig aufhören, so will es der Vater, und ich werde darauf achten, daß es geschieht.«

»Aber wie kann ein Briefchen –« Sie begann von neuem und machte ein flehentliches Gesicht.

»Still! Wir wollen gar nicht erst mit Briefchen anfangen. Legen Sie sich hin.«

Jetzt warf sie mir einen so wütenden Blick zu, daß ich ihr den gewohnten Gutenachtkuß nicht geben wollte. Ich deckte sie zu und schloß die Tür. Auf halbem Wege bereute ich es und kehrte leise um. Siehe da, das Fräulein steht am Tisch, ein Blatt Papier vor sich, einen Bleistift in der Hand. Schuldbewußt versuchte sie, alles verschwinden zu lassen, als ich wieder eintrat.

»Selbst wenn Sie den Brief schreiben, werden Sie niemanden finden, der ihn besorgt, Cathy. Jetzt wird das Licht ausgelöscht.«

Ich setzte das Hütchen auf die Flamme. Da bekam ich einen Schlag auf die Hand und sie schrie: »Dummes Ding!« Als ich wieder draußen war, schob sie so heftig wie möglich den Riegel vor.

Der Brief wurde geschrieben und von dem Milchjungen, der täglich aus dem Dorfe kam, weiter besorgt. Dies erfuhr ich erst später. Wochen vergingen, Cathys Stimmung veränderte sich wiederum zum Besseren, aber sie hatte einen sonderbaren Hang, sich in irgendwelche Winkel zu verkriechen. Wenn sie las und ich näherte mich ihr, fuhr sie zusammen und beugte sich über das Buch, wie um es zu verbergen. Ich entdeckte Stückchen Papier, die zwischen den Seiten hervorsahen. Sie kam auch auffallend früh am Morgen herunter und lungerte in der Küche herum, als ob sie etwas erwartete. In einem Schrank der Bibliothek hatte sie ein kleines Schubfach, an dem sie sich stundenlang zu schaffen machte; den Schlüssel verwahrte sie ganz besonders sorgfältig, wenn sie wegging.

Eines Tages, als sie in dem Schubfach kramte, bemerkte ich, daß die früher darin enthaltenen persönlichen Sachen und Schmuckstücke sich in gefaltete Bogen Papier verwandelt hatten. Voller Neugier und Mißtrauen beschloß ich, die geheimen Schätze zu untersuchen. Als sie und der Herr abends hinaufgegangen waren, suchte ich unter meinen Wirtschaftsschlüsseln einen heraus, der zum Schloß paßte. Ich leerte den gesamten Inhalt des Faches in meine Schürze und nahm alles in mein Zimmer mit, um es in Muße durchsehen zu können. Mein Verdacht wurde übertroffen, denn ich entdeckte, daß es sich um einen ganzen Berg von Korrespondenz handelte, um die fast täglichen Antworten Lintons auf Cathys Briefe. Die ersten waren schüchtern und kurz. Allmählich erwuchsen daraus eingehende wortreiche Liebesbriefe. Sie machten einen etwas närrischen Eindruck, wie es bei dem Alter des Schreibenden natürlich war. Doch hin und wieder gab es Merkmale, die auf einen erfahreneren Ursprung hinwiesen. Manche fielen mir durch eine eigentümliche Mischung aus Schwung und Plattheit auf; sie begannen mit Ausdrücken echten Gefühls und endeten in gezierter Manier, in der Sprache eines Schuljungen, der seiner nur in der eigenen Einbildung lebenden Liebsten schreibt. Ob sie Cathy gefielen, kann ich nicht sagen; mich dünkten sie wertloses Zeug. Nachdem ich so viele durchgelesen hatte, wie mir angebracht erschien, band ich sie in ein Taschentuch, legte sie beiseite und schloß das leere Schubfach wieder zu.

Nach ihrer neuen Gewohnheit kam die junge Dame in der Frühe herunter und begab sich in die Küche. Ich beobachtete, wie ein kleiner Junge an der Tür erschien und sich von unserer Kuhmagd seine Kanne füllen ließ – wie Cathy inzwischen etwas in seine Jackentasche gleiten ließ und etwas anderes herausholte. Darauf machte ich einen Bogen um den Garten und überfiel den Boten. Tapfer wehrte er sich gegen den Angriff und verteidigte seinen Schatz so verzweifelt, daß wir die Milch dabei verschütteten. Aber es gelang mir, ihm den Brief abzunehmen; ich bedrohte ihn mit den schlimmsten Folgen, wenn er sich nicht schleunigst nach Haus verfügte. An die Mauer gelehnt, las ich Miß Cathys verliebte Botschaft. Alles war einfacher und beredter als die Schreiberei des jungen Mannes; sehr niedlich und sehr albern. Den Kopf schüttelnd, ging ich ins Haus zurück. Bei dem regnerischen Wetter konnte Cathy nicht im Park umherstreifen. Um sich die Zeit zu vertreiben, nahm sie nach dem Ende der morgendlichen Schulstunden ihre Zuflucht zu dem Schubfach. Ihr Vater saß lesend am Tisch. Ich arbeitete absichtlich an ein paar zerrissenen Fransen des Fenstervorhangs herum und konnte ihre Bewegungen unmittelbar beobachten. Ein Vogel, zu seinem ausgeplünderten Nest zurückkehrend, das er bis zum Rand mit piepsenden Jungen gefüllt verlassen hat, kann mit seinem ängstlichen Schreien und Flattern keine vollkommenere Verzweiflung ausdrücken, als sie durch ein einfaches »Oh!« – und den Wechsel in ihren verwandelten, soeben noch glücklichen Mienen. Mr. Linton sah auf: »Was hast du? Hast du dir wehgetan?«

An seinem Ton und seinem Blick merkte sie, daß er es nicht gewesen war, der ihr Nest ausgenommen hatte.

»Nein, nein, Papa«, brachte sie hervor. »Ellen! Ellen! Komm mit mir hinauf, mir ist nicht gut.«

Ich folgte ihr hinaus. Sie warf sich auf die Knie, als wir allein in ihrem Zimmer waren: »Oh, Ellen! Du hast sie! Gib sie mir zurück, und ich tue es nie wieder. Sage dem Vater nichts. Du hast ihm doch nichts gesagt? Sage mir, daß du ihm nichts gesagt hast. Ich weiß, daß ich mich schlimm benommen habe, aber es wird nicht mehr geschehen.«

Mit ernster Miene, mit strenger Gebärde hieß ich sie aufstehen: »So, Miß Catherine! Mit Ihnen ist es weit gekommen. Schämen Sie sich, daß Sie einen solchen Unsinn in Ihren Mußestunden studiert haben. Aber man hätte ihn vielleicht drucken sollen! Was muß der Herr denken, wenn ich ihm das zeige? Bilden Sie sich nicht ein, daß ich Ihre lächerlichen Geheimnisse für ewig bewahre. Sie müssen sich besonders schämen, weil Sie bestimmt die erste gewesen sind, die mit dem Schreiben angefangen hat. Er wäre nicht darauf gekommen.«

»Das stimmt nicht, stimmt nicht!« stöhnte sie. »Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, ihn zu lieben, bis –«

»Lieben!« rief ich, so höhnisch, wie ich das Wort nur aussprechen konnte. »Lieben! Hat man schon so etwas gehört! Ebensogut könnte ich behaupten, daß ich den Müller liebe, der einmal in jedem Jahre kommt, um unser Korn zu kaufen. Eine nette Liebe, wahrhaftig! Die beiden Male zusammengerechnet, haben Sie den Linton kaum vier Stunden in Ihrem Leben gesehen! Hier habe ich den Schund beisammen, und damit gehe ich in die Bibliothek und werde sehen, was Ihr Vater dazu sagt, zu dieser Liebe!«

Sie sprang nach ihren kostbaren Briefen in die Höhe, aber ich hielt sie über meinen Kopf. Sie flehte mich an, alles zu verbrennen, wenigstens zu verbrennen, sie nur nicht zu zeigen. Da ich im Grunde dem Lachen mindestens so nahe war wie dem Schelten, denn ich hielt die ganze Sache für die bloße Eitelkeit eines jungen Mädchens, wurde ich nachgiebiger und fragte: »Wenn ich einverstanden bin, daß sie verbrannt werden, versprechen Sie mir dann aufrichtig, weder Briefe abzuschicken noch zu empfangen? Versprechen Sie, ihm auch kein Buch mehr zu senden, denn ich weiß, Sie haben ihm Bücher zukommen lassen, und ebensowenig Haarlocken, Ringe oder Spielsachen?«

»Wir schicken uns keine Spielsachen!« schrie sie, da ihr Stolz einen Augenblick lang stärker als die Zerknirschung wurde. »Also kurz gesagt, es darf überhaupt nichts geschickt werden, mein Fräulein. Andernfalls gehe ich.«

Sie hielt mich am Kleide fest: »Ich verspreche es! Oh! Wirf sie ins Feuer, tue es bitte!«

Jedoch, als ich mit dem Feuerhaken im Kamin Platz zu schaffen begann, schien ihr das Opfer wieder unerträglich. Sie bat, ich solle ihr einen oder zwei Briefe übriglassen: »Einen oder zwei, Ellen, zur Erinnerung an Linton!«

Ich knotete das Tuch auf und fing an, die Briefe langsam in die Flammen fallen zu lassen. Der Rauch kräuselte sich darüber.

»Ich will einen haben, einen, du grausamer Unmensch!« kreischte sie. Sie steckte die Hand ins Feuer und holte ein paar halbverkohlte Fetzen heraus, ohne auf ihre Finger achtzugeben.

»Gut, und ich will einige behalten, um sie dem Vater vorzulegen«, entgegnete ich, packte den Rest wieder zusammen und wandte mich zur Tür.

Sie warf ihre geschwärzten Papierschnitzel ins Feuer zurück und ließ mich das Opfer vollenden. Nun war es getan, ich rührte in der Asche und schüttete noch eine Schaufel Kohle darauf. Stumm, mit dem Antlitz eines Menschen, dem man großes Unrecht zugefügt hat, zog sie sich in ihr Gemach zurück. Ich berichtete unten Mr. Edgar, seiner Tochter sei schon wieder wohler, aber sie solle ein wenig liegen. Dem Mittagessen blieb sie fern; zum Tee erschien sie, blaß, mit roten Augen und mit ganz auffallend gedämpften Umgangsformen.

Am nächsten Morgen beantwortete ich den letzten Brief mit einem Zettel, des Inhalts: »Master Linton Heathcliff wird ersucht, Miß Cathy kein Schreiben mehr zukommen zu lassen, da sie keines mehr empfangen wird.« Und fortan erschien jener kleine Junge mit leeren Taschen.


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