Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Auf der Treppe riet sie mir, das Kerzenlicht zu verbergen und kein Geräusch zu verursachen. Ihr Herr mache merkwürdig viel von diesem Zimmer her und würde freiwillig keinen Menschen dort wohnen lassen. Sie kenne den Grund nicht, seit zwei Jahren sei sie erst hier und wolle bei den wunderlichen Leuten nicht zudringlich sein.

Ich war meinerseits zu betäubt, um Neugier zu empfinden. Als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, sah ich mich nach dem Bett um. Die gesamte Einrichtung bestand aus einem Stuhl, einem Kleiderschrank und einer auffallend großen eichenen Truhe. Aus der Seitenwand dieses Kastens waren nahe dem Deckel Vierecke herausgeschnitten, die wie Fenster eines Wagens aussahen. Ich stellte mich vor das seltsame Möbel und blickte hinein: es bildete gewissermaßen ein kleines Kabinett für sich und enthielt eine merkwürdige altmodische Art von Lagerstätte. Das Ganze war eigentlich recht zweckmäßig ausgedacht; dadurch hatte man noch einen eigenen Raum für ein Familienmitglied geschaffen. Der breite Sims, der an einem der Fensterausschnitte entlang führte, diente als Tisch.

Ich schob die Täfelung beiseite, kroch mit dem Licht hinein und machte wieder zu. So fühlte ich mich vor Heathcliffs und jeder anderen Beobachtung sicher.

Auf dem Sims, auf den ich meine Kerze stellte, lagen einige vergilbte Bücher im Winkel. In die Fläche dieses Tisches waren überall Schriftzeichen eingekratzt. Die Zeichen wiederholten einen einzigen Namen, mit allen möglichen großen und kleinen Buchstaben: Catherine Earnshaw – hier und da umgewandelt in Catherine Heathcliff – an anderer Stelle in Catherine Linton. In meiner Benommenheit lehnte ich den Kopf ans »Fenster« und buchstabierte immer wieder: Catherine Earnshaw – Heathcliff – Linton – bis mir die Augen zufielen. Aber nach wenigen Minuten traten aus dem Dunkel schimmernde weiße Buchstaben hervor, lebendige Gespenster. In der Luft schwebte ein Schwarm von Catherinen. Ich richtete mich auf, wollte den Namen, der mich da anstarrte, verscheuchen und bemerkte, daß sich der Docht der Kerze auf einen der alten Bände gesenkt hatte. Es roch nach angebranntem Kalbleder. Ich schneuzte das Licht. Da ich mich infolge der Kälte und der aufsteigenden Übelkeit aufsetzen mußte, nahm ich den beschädigten Band auf meinen Schoß. Es war eine Bibel in kleinem Druck. Modriger Geruch. Das Vorsatzpapier trug die Inschrift: »Ex libris Catherine Earnshaw«, dazu ein Datum, das ein Vierteljahrhundert zurücklag. Ich schloß das Buch, nahm ein anderes und wieder ein anderes, bis ich alle angesehen hatte. Catherines Bibliothek war recht erlesen; nach dem Zustand der Abnutzung zu urteilen, war sie oft benutzt worden, freilich nicht immer nach ihrer eigentlichen Bestimmung: kaum ein Kapitel war ohne Randbemerkungen, die mit Tinte geschrieben waren und jeden vom Druck freigelassenen Raum ausfüllten. Manchmal bestanden sie in einzelnen Sätzen; an anderen Stellen ergaben sie ein fortlaufendes Tagebuch, in unausgeschriebener Kinderhandschrift. Auf einer freien Seite, die von der Schreiberin gewiß wie ein Schatz entdeckt worden war, sah ich zu meinem Vergnügen eine ausgezeichnete Karikatur von Freund Josef, roh, aber wirkungsvoll gekritzelt. Mit einem Male interessierte mich diese unbekannte Catherine, und ich suchte die blassen Hieroglyphen zu entziffern.

»Ein furchtbarer Sonntag!« begann der Absatz darunter. »Ich wünschte, mein Vater wäre zurück. Hindley ist ein unerträglicher Ersatz. Sein Betragen Heathcliff gegenüber ist abscheulich. H. und ich werden uns empören! Heut abend taten wir den ersten Schritt dazu.

Täglich hatte es in Strömen geregnet. Wir konnten nicht zur Kirche gehen, und Josef mußte eine Gemeinde in die Dachstube holen. Hindley und seine Frau wärmten sich vor einem angenehmen Feuer, sie taten bestimmt alles andere als in ihren Bibeln lesen. Heathcliff dagegen, ich selbst und der unglückliche Knecht erhielten den Befehl, mit unseren Gebetbüchern unters Dach zu steigen. Wir mußten uns in einer Reihe auf einen Kornsack setzen, vor Kälte ächzend. Wir hofften nur, Josef würde auch frieren und zu seinem eigenen Besten nur eine kurze Predigt halten. Umsonst, der Gottesdienst dauerte genau drei Stunden. Dann hatte mein Bruder noch die Stirn, als er uns herunterkommen sah, zu rufen: ›Was, schon zu Ende?‹

An Sonntagabenden durften wir gewöhnlich spielen, wenn wir nicht viel Lärm machten. Jetzt genügte ein Kichern, und schon mußten wir uns in die Ecke stellen. ›Ihr vergeßt, daß ihr hier einen Herrn habt!‹ sagte der Tyrann. ›Den ersten, der mich reizt, zerschmettere ich. Ich bitte mir unbedingten Ernst und Ruhe aus. Junge, warst du das? Frances, Liebling, zieh ihn an den Haaren, wenn du gerade vorbeigehst. Ich habe gehört, wie er mit den Fingern schnalzte.‹ Frances riß ihn tüchtig an den Haaren, dann setzte sie sich auf den Schoß ihres Mannes. So blieben sie, wie zwei kleine Kinder, küßten sich und redeten stundenlang solchen Unsinn, daß wir uns dessen geschämt hätten. Wir drängten uns möglichst dicht in die Höhle unter der Anrichte, vor die ich unsere Kinderschürzen als Vorhang zusammengebunden hatte. Da kommt Josef mit einem Auftrag aus den Ställen, reißt meine Hütte ein, zieht mich an den Ohren und krächzt:

›Der Herr ist eben erst begraben, Sonntag ist noch nicht vorüber, das Evangelium ist noch in euren Ohren, und ihr wagt es, so zu spielen! Pfui über euch! Setzt euch hin, ihr bösen Kinder! Wenn ihr lesen wollt, gibt es genug gute Bücher! Setzt euch hin und denkt an eure Seelen!‹

So schrie er, und wir mußten uns so einrichten, daß uns der Schein des entfernten Feuers treffen konnte. Bei diesem schwachen Licht konnten wir die alten Bücher gerade noch lesen, die er uns aufzwang. Das ertrug ich nicht, ich schleuderte den Schmöker in die Hundeecke und rief, ich haßte gute Bücher! Heathcliff stieß das seine in die gleiche Richtung. Da gab es einen Krach!

›Master Hindley!‹ heulte unser Priester, ›Master, kommen Sie her! Miß Cathy hat den Rücken von der ›Krone des Heils‹ abgerissen, und Heathcliff hat den ›Breiten Weg zur Verdammnis‹ kaputt gemacht! Es ist unerhört von Ihnen, daß Sie der Bande alles nachsehen! Oh, der alte Herr hätte sie verhauen, verhauen! Aber er ist ja dahin!‹

Hindley eilte aus seinem Paradies am Kamin herbei, ergriff den einen von uns am Kragen, den anderen am Arm und schleppte uns in die hintere Küche. Josef versicherte, der Satan würde uns von dort unmittelbar in die Hölle holen. Wir warteten auf dessen Kommen, jeder in eine andere Ecke verkrochen. Aber dann nahm ich dies Buch und ein Tintenfaß vom Wandbrett und machte die Haustür auf, um etwas Licht zu haben. Zwanzig Minuten lang vertrieb ich mir die Zeit mit Schreiben. Aber mein Leidensgefährte ist ungeduldig und meint, wir sollten den Umhang der Milchfrau nehmen und so vermummt ins Moor rennen. Ein guter Gedanke – und dann wird der gräßliche Alte glauben, seine Prophezeiung habe sich erfüllt! Feuchter und kälter kann es draußen im Regen auch nicht sein.«

 

Ich nehme an, Catherine hat ihren Plan ausgeführt. Denn der nächste Satz handelte von etwas ganz anderem, sie wurde wehleidig:

»Schwerlich hätte ich es mir träumen lassen, daß der Hindley mich so zum Weinen bringen würde! Mein Kopf schmerzt derartig, daß ich auf dem Kissen nicht ruhig liegen kann. Aber ich darf nicht nachgeben. Armer Heathcliff! Hindley nennt ihn einen Landstreicher, er will ihn nicht mehr bei uns sitzen, nicht mehr mit uns essen lassen. Er sagt, wir dürften nicht mehr miteinander spielen, und droht, ihn aus dem Hause zu werfen, wenn wir nicht gehorchen. Wie durfte er unserem Vater vorwerfen, er habe H. zu großzügig behandelt! Hindley schwört, er würde ihn in die Stellung zurückweisen, die ihm gebühre –«

 

Ich begann über der vergilbten Seite schläfrig zu werden; meine Blicke wanderten noch vom Geschriebenen zum Gedruckten. Ich sah den roten Titel in Zierdruck: »Siebenzig Mal Sieben und Nummer Eins vom Einundsiebenzigsten Mal. Eine Erbauliche Predigt, gehalten von Hochwürden Jabes Branderham in der Kapelle von Gimmerton Sough.« Während ich mir bei halbem Bewußtsein den Kopf zerbrach, was Jabes Branderham wohl aus seinem Thema machen würde, sank ich langsam zurück und schlief ein.

Ach, welche schlechten Wirkungen des Tees und des Streites! Was sonst konnte daran schuld sein, daß ich eine so entsetzliche Nacht verbrachte! Seit ich fähig bin, zu leiden, kann ich mich keiner ähnlichen erinnern.

Ich träumte schon, als ich noch immer einigermaßen wußte, wo ich mich befand. Ich glaubte, es sei Morgen, und ich hätte mich unter Josefs Führung auf den Heimweg gemacht. Ellenhoch lag der Schnee auf der Straße. Im Dahinstapfen peinigte mich mein Begleiter mit dem unaufhörlichen Vorwurf, daß ich keinen Pilgerstab mitgenommen hätte. Nie würde ich ohne ihn ins Haus gelangen, und er schwang dabei prahlerisch einen schweren Knüttel, den er als Pilgerstab ausgab. Sollte ich einer solchen Waffe bedürfen, um in meine eigene Wohnung zu gelangen? Aber dann leuchtete eine neue Erkenntnis in mir auf: Ich ging gar nicht dorthin; vielmehr, wir wollten den berühmten Jabes Branderham über den Text »Siebenzig Mal Sieben« predigen hören. Aber die »Erste Nummer vom Einundsiebenzigsten Mal« war von Josef oder von dem Prediger oder von mir verbrochen worden, und wir sollten dafür an den Schandpfahl gestellt und exkommuniziert werden.

Und wir kamen zur Kapelle. Tatsächlich bin ich mehrmals daran vorbeispaziert. Sie liegt in einer Senkung zwischen zwei Hügeln, bei einem Sumpf, dessen feuchter Torfgehalt die darin liegenden Toten gewissermaßen einbalsamieren soll. Das Dach des Kirchleins hat bisher gehalten; aber es findet sich kein Geistlicher, da die Besoldung nur zwanzig Pfund jährlich beträgt, nebst freier Wohnung in zwei Zimmern, die bald in ein einziges zusammenstürzen werden. Seine Gemeinde ließe ihn eher verhungern, als daß sie seinen Unterhalt nur mit einem Pfennig aus ihrer Tasche verbessern würde. In meinem Traum dagegen hatte Jabes eine vollzählige und andächtige Gemeinde. Und er predigte – guter Gott! welch eine Predigt! Sie bestand aus vierhundertundneunzig Abschnitten, deren jeder einzelne einer ganzen Kanzelrede üblichen Umfangs entsprach und jedesmal eine besondere Sünde behandelte. Woher er so viele Sünden nahm, weiß ich nicht. Er hatte seine eigene Weise der Auslegung; förderlich war es für ihn ohne Zweifel, daß sein Nächster bei jeglicher Gelegenheit mehrere Sünden beging. Es waren höchst merkwürdige Vergehen darunter, von denen ich zuvor nichts geahnt hatte.

Wie müde ich davon wurde! Wie ich mich krümmte, gähnte, einnickte und wieder auffuhr! Wie ich mich selbst kniff, mir die Augen rieb, aufstand, mich wieder hinsetzte und Josef anstieß, um zu erfahren, wann endlich Schluß sein würde. Aber ich war dazu verdammt, alles anzuhören, bis zur »Ersten Nummer vom Einundsiebenzigsten Mal«. Bei diesem Abschnitt durchdrang mich eine jähe Erleuchtung: es trieb mich, aufzustehen und Jabes Branderham als den Sünder mit der Sünde zu bezeichnen, die kein Christ verzeihen darf.

»Herr«, rief ich, »ohne Pause sitze ich jetzt in diesen vier Wänden und ertrage und vergebe die vierhundertundneunzig Teile Ihrer Predigt. Siebenmalsiebenzigmal habe ich meinen Hut genommen, um wegzugehen, und siebenmalsiebenzigmal haben Sie mich sinnlos gezwungen, wieder Platz zu nehmen. Das vierhundertundeinundneunzigste Mal ist zu viel. Auf, ihr Leidensgenossen! Packt ihn, holt ihn herunter, reißt ihn in Stücke, damit der Ort, der ihn kennt, ihn nicht mehr wiedererkenne!«

»Du bist der Mann!« schrie Jabes nach einer feierlichen Pause und lehnte sich über die Brüstung. »Siebenmalsiebenzigmal hast du dein Gesicht zum Gähnen verzogen, und jedesmal habe ich mit meiner Seele Rat gepflogen: siehe, dieses ist menschliche Schwäche, dieses soll vergeben sein. Nun ist die Erste Nummer vom Einundsiebenzigsten Mal gekommen. Brüder, vollstreckt an ihm das Urteil, wie geschrieben steht. So geschehe zur Ehre aller Seiner Heiligen!«

Bei diesem Schlußwort fiel die ganze Gemeinde mit erhobenen Pilgerstäben über mich her, wie ein Mann. Vollständig umzingelt, ohne Waffe zur Verteidigung, versuchte ich, meinem nächsten und wildesten Angreifer, Josef, den Stock zu entreißen. In dem furchtbaren Gewühl gerieten die Knüppel durcheinander, auf mich gezielte Hiebe schmetterten auf fremde Köpfe herab. Die ganze Kapelle hallte und widerhallte von Schlägen und Gegenschlägen, jedermanns Hand war gegen die seines Nächsten. Branderham, seinerseits nicht müßig, trampelte eifervoll auf dem Boden der Kanzel herum. Es dröhnte so gewaltig, daß ich zu meiner unaussprechlichen Erleichterung erwachte.

Was hatte den schrecklichen Lärm verursacht, wer hatte die Rolle des donnernden Jabes gespielt? Es war nur der Zweig eines Tannenbaums, der vom Winde gegen mein Fenster geschlagen wurde, so daß die trockenen Zapfen seltsam prasselten. Ich lauschte einen Augenblick, bis ich den Grund der Störung entdeckte, drehte mich auf die andere Seite und begann wieder zu träumen, unheimlicher als je.

Dieses Mal war ich mir bewußt, daß ich in dem eichenen Verschlage lag. Deutlich unterschied ich den sausenden Wind, den Schneesturm draußen; ich hörte auch das peinigende Geräusch jenes Tannenzweiges. Obwohl ich wußte, es sei nur der Baum, drängte es mich, dies dauernde Kratzen abzustellen. Mir war, als stände ich auf und mühte mich, den Fensterflügel aufzuhaken. Aber der Haken war in der Krampe festgelötet. Ich hatte es im Wachen bemerkt, doch im Traum wieder vergessen. Dies Geräusch muß aufhören, sagte ich mir. Ich stieß meine Faust durch das Glas der Scheibe und streckte den Arm aus, um den Zweig zu erreichen.

Statt dessen schlossen sich meine Finger um die Finger einer kleinen eiskalten Hand.

Es war wie das Entsetzen eines Alpdrucks. Ich wollte meinen Arm zurückziehen, aber die Hand draußen klammerte sich daran fest. Eine todtraurige Stimme schluchzte: »Laß mich ein – laß mich ein!«

»Wer bist du?« fragte ich und versuchte verzweifelt, mich freizumachen. »Catherine Linton«, antwortete es bebend. Warum dachte ich nur an Linton? Viel öfter als Linton hatte ich in der Bettlade Earnshaw gelesen.

»Ich bin wieder da, bin wieder daheim, hatte mich im Moor verirrt.« Als es so sprach, nahm ich dunkel das Gesicht eines Kindes wahr, das durch das Fenster schaute.

Das Entsetzen machte mich grausam. Da ich das Geschöpf nicht abschütteln konnte, drückte ich sein Handgelenk gegen das zerbrochene Glas. Ich rieb es hin und her, und das Blut floß herunter und befleckte die Bettücher. Immer noch klagte es:

»Laß mich ein! Laß mich ein!« Mit zähem Griff hielt es mich fest und machte mich vor Schrecken fast wahnsinnig.

»Wie kann ich das? Laß mich los, wenn ich dich einlassen soll!« Die Finger lockerten sich. Ich zog meinen Arm durch das Loch zurück und türmte die Bücher davor auf. Dann hielt ich mir die Ohren zu, um das jammervolle Flehen nicht zu hören.

Eine Viertelstunde lang wartete ich so. Kaum aber horchte ich wieder hin, wimmerte und weinte es weiter. »Geh weg!« schrie ich, »ich lasse dich niemals herein und wenn du zwanzig Jahre bettelst!«

»Zwanzig Jahre ist es her«, flüsterte die Stimme, »seit zwanzig Jahren bin ich heimatlos!« Ein schwaches Kratzen wurde hörbar. Der Bücherstapel bewegte sich, als wollte er hereinstürzen. Ich konnte nicht aufstehen, konnte kein Glied rühren. Gellend schrie ich auf.

Da merkte ich, daß mein Schrei nicht geträumt war. Schritte hasteten auf meine Tür zu, jemand öffnete sie mit heftigem Stoß, und ein Licht schimmerte durch die Fenstervierecke meines Bettes. Schaudernd saß ich da und wischte den Schweiß von der Stirn. Der Hereingekommene zögerte, flüsterte etwas und sagte vor sich hin: »Ist jemand hier?« Ich erkannte Heathcliffs Stimme und wollte mich lieber melden, damit er nicht überall herumsuchte. Ich schob die Täfelung auseinander, und nie werde ich das Bild vergessen:

Heathcliff stand in Hemd und Hose an der Tür, die Kerze tropfte über seine Finger, sein Gesicht war weiß wie die Wand hinter ihm. Das Geräusch, das ich verursachte, durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag. Das Licht flog ihm aus der Hand, und er vermochte sich kaum danach zu bücken.

»Ich bin's, Ihr Gast!« Ich wollte ihm die Demütigung ersparen, mich noch länger zum Zeugen seiner Schwäche zu machen. »Leider habe ich im Schlaf geschrien, da mich ein schrecklicher Alpdruck aufregte. Ich bedaure sehr, Sie gestört zu haben.«

Er antwortete mit einem Fluch und stellte die Kerze, die er nicht halten konnte, auf einen Stuhl: »Wer hat Sie in dies Zimmer gewiesen, Mr. Lockwood?« Er bohrte seine Nägel in die Handflächen und biß die Zähne zusammen, um das Zucken seiner Kiefer zu unterdrücken. »Wer tat das? Ich werfe ihn auf der Stelle aus dem Hause!«

»Es war Ihre Magd, Zillah.« Eilig erhob ich mich und suchte meine Kleider zusammen. »Ich hätte nichts dagegen, sie verdient es reichlich. Mir scheint, sie wollte auf meine Kosten wieder einmal beweisen, daß es an diesem Orte spukt. Allerdings! Hier wimmelt es von Geistern und Gespenstern! Sie müßten den Raum endgültig zumachen. Für einen Schlaf in solcher Höhle wird Ihnen niemand Dank wissen.«

»Was meinen Sie damit? Was machen Sie da überhaupt? Legen Sie sich hin und bringen Sie die Nacht hinter sich, da Sie einmal hier sind. Aber seien Sie still, um des Himmels willen! Ein solches Geschrei wäre nur zu entschuldigen, wenn Ihnen jemand die Kehle durchschnitte!«

»Die kleine Unholdin hätte mich wahrscheinlich erwürgt, wäre sie durchs Fenster hereingekommen. Ich will die Verfolgungen Ihrer gastlichen Ahnen nicht noch einmal erdulden. Sagen Sie, war nicht der hochwürdige Jabes Branderham mütterlicherseits mit Ihnen verwandt? Und diese Hexe Catherine Linton oder Earnshaw oder wie sie hieß, muß ein Wechselbalg gewesen sein, das tolle Ding. Sie hat mir erzählt, seit zwanzig Jahren finde sie keine Ruhe auf Erden. Gerechte Strafe, vermutlich, für ihre Sünden in dieser Welt.«

Die Worte waren mir kaum entfahren, als ich mich erinnerte, wie eng Heathcliffs und Catherines Namen in jenem Buche miteinander verknüpft waren. Seit ich erwacht war, hatte ich das vollkommen vergessen. Ich errötete über meine Unüberlegtheit, ließ mir aber die Reue nicht anmerken und fuhr hastig fort: »Tatsächlich, lieber Herr, habe ich den ersten Teil der Nacht damit zugebracht –« wieder hielt ich ein, denn ich hatte sagen wollen: »– in den alten Büchern dort zu lesen.« Dann hätte ich verraten, daß ich den Inhalt, auch den geschriebenen, kannte. Ich fügte also lieber hinzu: »– den Namen zu buchstabieren, der immer wieder in den Fenstersims eingeritzt ist. Eintönige Beschäftigung, um mich einzuschläfern, ebenso wie durch Zählen oder –«

»Wie können Sie es wagen, davon mit mir zu sprechen?« donnerte Heathcliff. »Unter meinem Dach wagen Sie das? Herr im Himmel, er ist verrückt, daß er so redet!« Und er schlug sich wie rasend vor die Stirn.

Ich wußte nicht, ob ich eine solche Sprache meinerseits übel nehmen oder meine Erklärung fortsetzen sollte. Aber er war so leidenschaftlich erregt, daß ich auf jeden Fall weiter reden mußte. Ich versicherte ihm, daß ich den Namen Catherine Linton nie zuvor gehört hätte. Da ich ihn allenthalben las, habe er offenbar Gestalt angenommen, und schließlich sei meine Vorstellungskraft nicht mehr in meiner Gewalt gewesen. Während dieser Worte zog sich Heathcliff immer mehr in den Schatten des Bettes zurück, setzte sich und war fast dahinter verborgen. An seinen unregelmäßigen Atemzügen merkte ich, daß er gegen einen furchtbaren Ausbruch ankämpfte. Um ihm nicht zu verraten, daß ich seine Gemütsbewegung wahrnahm, kleidete ich mich geräuschvoll weiter an und hielt nach einem Blick auf die Uhr ein Selbstgespräch über die Länge der Nacht:

»Noch nicht drei! Ich hätte geschworen, es sei schon sechs. Die Zeit steht hier still. Wir haben uns doch schon um acht hingelegt.«

»Um neun, im Winter. Um vier stehen wir auf«, sagte er, ein Stöhnen unterdrückend. Der Schatten seines Arms bewegte sich, als wischte er eine Träne aus den Augen. »Mr. Lockwood, Sie können in mein Zimmer gehen. In der Frühe würden Sie uns nur im Wege sein, und Ihr törichter Aufschrei hat meinen Schlaf verjagt.«

»Meinen auch«, antwortete ich. »Ich will im Hof umhergehen, bis zur Dämmerung, und dann abziehen. Sie brauchen nicht zu befürchten, daß ich hier nochmals eindringen werde. Jetzt bin ich von meinem Wunsch geheilt, Umgang zu suchen, sei es auf dem Lande oder in der Stadt. Ein vernünftiger Mensch sollte Gesellschaft genug an sich selbst haben.«

»Herrliche Gesellschaft!« murmelte Heathcliff. »Nehmen Sie die Kerze und verfügen Sie sich, wohin Sie wollen. Den Hof vermeiden Sie besser, die Hunde sind nicht angekettet. Sie können sich nur im Treppenhaus und in den Gängen aufhalten. Weg, weg! In zwei Minuten komme ich!«

Ich verließ zwar das Zimmer, blieb aber draußen stehen, weil ich nicht wußte, wohin der schmale Flur führte. So wurde ich unfreiwillig Zeuge einer Anwandlung von Aberglauben, der in auffallendem Gegensatz zum sonstigen Gehaben meines Wirtes stand.

Ich hörte ihn den Fensterflügel aufstoßen. Er brach in leidenschaftliche Tränen aus und schluchzte: »Komm herein, komm herein! Cathy, komm doch! Oh, komm nur noch ein einziges Mal! Oh, Liebste! Catherine! Diesmal endlich höre mich!«

Das Gespenst zeigte sich launisch, wie Gespenster sind. Es gab kein Zeichen seines Daseins, nur Schnee wirbelte im Wind herein, bis zu meinem Standort. Das Licht erlosch.

Sein Aufschrei aber war so schmerzlich gewesen, daß mein Mitleid seine Närrischkeit übersehen wollte. Ich ärgerte mich, daß ich gelauscht und ihm überhaupt meinen lächerlichen Traum erzählt hatte. Ich begriff freilich nicht, warum er darüber so verzweifelt war. Vorsichtig stieg ich in die unteren Räume hinab und landete in der Küche, wo ich mit der zusammengescharrten Glut meine Kerze wieder anzündete. Nichts regte sich, außer einer graugefleckten Katze, die aus der Asche kroch und mich mit kläglichem Miauen begrüßte. Ich streckte mich auf einer der Bänke aus, die den Herd im Halbkreis umschlossen; das Tier sprang auf die andere.

Wir schlummerten beide, als uns Josef in unserm Unterschlupf aufstörte. Schlürfend kam er eine Holzleiter herunter, aus einer Dachluke, die vermutlich der Ausgang seiner Bodenkammer war. Er warf einen schiefen Blick auf die Flamme, für deren Erhaltung ich gesorgt hatte, stieß die Katze von der Bank, setzte sich an ihre Stelle und begann, eine dreizöllige Pfeife mit Tabak zu stopfen. Meine Anwesenheit in seinem Heiligtum galt ihm offenbar als eine neue Aufdringlichkeit, zu schmählich, um sie auch nur zu bemerken. Schweigend schob er die Pfeife zwischen die Lippen, kreuzte die Arme und paffte. Ich gönnte ihm diesen Genuß bis zum letzten Zug, den er mit einem tiefen Seufzer begleitete. Dann erhob er sich und verschwand ebenso steif, wie er gekommen war.

Leichtere Schritte näherten sich, und ich wollte schon »Guten Morgen« sagen, unterließ es jedoch. Denn Hareton Earnshaws Morgengruß äußerte sich sotta voce durch eine Reihe von Flüchen, mit denen er jeden von ihm angefaßten Gegenstand belegte. Er suchte nach Spaten oder Schaufel, um den Schnee wegzuschaffen. Dabei starrte er mit geblähten Nüstern über die Lehne der Bank herüber und bedachte mich ebensowenig mit irgendeiner Höflichkeit wie meine Katze. Aus seinen Vorbereitungen schloß ich, daß man jetzt hinausgehen dürfe. Als er bemerkte, daß ich ihm folgen wollte, zeigte er mit dem Ende seines Spatens auf eine ins Innere führende Tür. Mit einem wortlosen Knurren deutete er an, ich müsse dort hineingehen, wenn ich meinen Platz zu wechseln wünsche.

Drinnen waren die Frauen schon an der Arbeit. Mit einem mächtigen Blasebalg fachte Zillah das Feuer im Kamin an, daß die Funken sprühten. Daneben kniete Mrs. Heathcliff und las beim Schein der Flammen in einem Buch, wobei sie die Augen mit der Hand schützte. Sie unterbrach sich nur, um die Magd zu schelten, wenn die herumfliegenden Funken sie beim Lesen störten. Manchmal stieß sie einen Hund weg, der ihr zu nahe ins Gesicht schnüffelte. Zu meiner Überraschung war auch Heathcliff da. Er stand am Feuer, mit dem Rücken zu mir, und machte Zillah einen stürmischen Auftritt. Sie unterbrach einige Male ihre Arbeit, hob den Zipfel ihrer Schürze und ließ einen entrüsteten Seufzer hören.

»Du nichtswürdiges –!« brach er, bei meinem Eintritt, gegen seine Schwiegertochter los, mit einem Schimpfwort wie Gans oder Schaf, das man im Buch durch einen Gedankenstrich zu ersetzen pflegt. »Beschäftigst du dich wieder mit deinem blödsinnigen Zeug! Andere verdienen ihr Brot, du lebst von meiner Gnade! Leg deinen Kram weg und tu etwas Vernünftiges. Es ist eine Plage, dich ewig vor Augen zu haben! Hörst du, verdammtes Frauenzimmer?«

»Ich will meinen Kram weglegen, weil du mich dazu zwingen kannst.« Die junge Dame schlug ihr Buch zu und warf es auf einen Stuhl. »Aber sonst mache ich nur, was mir beliebt, und wenn du dir die Zunge aus dem Munde fluchst.«

Heathcliff hob die Hand, und das Mädchen, wahrscheinlich mit deren Gewicht vertraut, brachte sich in Sicherheit. Um in diesen Kampf von Hund und Katze nicht hineingezogen zu werden, trat ich rasch an den Kamin, als wollte ich mich nur wärmen, und als ahnte ich nichts von einem Streit. Sie hatten Geschmack genug, die Feindseligkeiten einzustellen. Heathcliff steckte die Fäuste lieber in die Taschen, und Mrs. Heathcliff schritt mit gekräuselten Lippen auf einen entfernten Sitz zu. Solange ich anwesend war, verharrte sie dort, ihrer Ankündigung getreu, untätig wie eine Bildsäule. Ich lehnte die Teilnahme am Frühstück ab und suchte beim Grauen des Tages die erste Gelegenheit, um in die frische Luft zu entkommen.

Es war klar und still und eisig kalt. Bevor ich das Ende des Gartens erreicht hatte, rief Heathcliff hinter mir her und bot mir seine Begleitung durch das Moor an. Das war nötig, denn der ganze Hügelrücken glich einem einzigen weißen Meer. Die Höhen und Tiefen entsprachen nicht mehr den Hebungen und Senkungen des Bodens. Viele Löcher waren bis zum Rand gefüllt; ganze Reihen von Gruben in den Steinbrüchen waren aus dem Landschaftsbild, so wie ich es mir gestern im Geist ausgemalt hatte, hinweggewischt. Auf der einen Seite der Straße hatte ich mir in Abständen von sechs bis sieben Ellen gewisse aufrecht stehende Steine gemerkt, deren Linie sich durch die ganze Einöde fortsetzte. Sie waren mit Kalk angestrichen, um im Dunkeln als Führer zu dienen, falls ein starker Schneefall den Unterschied zwischen dem tiefer gelegenen Sumpf zu beiden Seiten und dem festen Wege austilgen würde. Aber außer einem hin und wieder sich abzeichnenden schmutzigen Fleck war jede andere Spur verschneit. Mein Begleiter mußte mich oft nach rechts oder links weisen, während ich genau den Windungen der Straße zu folgen meinte. Wir sprachen wenig, und am Eingang zum Thrushcross-Park kehrte er um, denn ich könne mich nicht mehr verirren. Unser Abschied beschränkte sich auf eine kurze Verbeugung. Da die Pförtnerwohnung noch nicht vergeben ist, ging ich unbetreut weiter, und die zwei Meilen vom Tor bis Grange verdoppelten sich bei mir, denn die Bäume verwirrten mich, ich versank bis zum Hals im Schnee. Jedenfalls schlug die Uhr zwölf, als ich das Haus betrat, was genau einer Stunde für jede Meile der tatsächlichen Entfernung von Wuthering Heights entsprach.

Meine Hausdame und ihr Gefolge rannten zu meiner Begrüßung herbei, mit großem Geschrei. Sie hatten mich schon vollkommen aufgegeben, ich mußte in dieser Nacht umgekommen sein, und sie hatten nur noch nicht gewußt, wie sie die Suche nach meinem Leichnam aufnehmen sollten. Ich beruhigte sie, da ich ganz persönlich wieder anwesend sei, und schleppte mich, bis ins Innerste erstarrt, die Treppe hinauf. Als ich trockene Kleider angezogen hatte und eine Dreiviertelstunde lang hin und her gegangen war, verfügte ich mich, ein wenig erwärmt, in mein Arbeitszimmer. Ich war noch immer zu schwach, um mich von Herzen an dem lustigen Feuer und dem dampfenden Kaffee zu erfreuen, den man mir bereitet hatte.


 << zurück weiter >>