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Die endlosen Gänge eines üppigen Mahles waren überwunden. Lebhafte Unterhaltung der Gäste in Scherz und Ernst hatte die Speisen gewürzt; denn alle Geladenen gehörten zum umwohnenden Adel und waren mit einander befreundet. Nach Tisch ergoß sich die Gesellschaft in die Anlagen des Klostergartens, den heiteres Reden, Lachen und Singen belebte.
Valfort bemerkte die außerordentliche Anziehungskraft Isabella's für die Kavaliere und auch ihre Kälte gegen die Huldigungen ihrer Bewunderer. Unter dem Vorgeben, die Flora und andere Merkwürdigkeiten des Gartens zu zeigen, blieb sie dem Baron stets zur Seite. Herzog Chatel war außer sich, umsonst sein Bemühen, den Nebenbuhler zu verdrängen.
»Es ist empörend!« vertraute er seinem Freunde Henry. »Wir alle sind für die Grausame gar nicht vorhanden. Sie hat nur Aufmerksamkeit für den Krautjunker aus der Vendee. Wie ich den Menschen hasse!«
»Sehr begreiflich!« entgegnete Rovere. »Die Gunst der laufenden Stunde könnte übrigens unserem Plane dienen.«
Er nahm Chatel's Arm. Die Freunde gingen beratend nach einem abgelegenen Punkte.
Die Damen hatten sich allgemach aus dem Garten entfernt, ihre Balltoilette zu beginnen. Isabella schien heute diesen wichtigen Gegenstand vergessen zu haben. Sie lustwandelte immer noch mit Valfort zwischen Blumenbeeten. Ihre Kammerzofe machte endlich auf die drängende Pflicht aufmerksam.
»Sie tanzen also wirklich nicht?« frug Isabella den Baron.
»Nein!« antwortete er bestimmt. »Nach meinen Begriffen werden Klöster gebaut als Stätten der Entsagung, des Gebetes, der Betrachtung, aber nicht zum Tanzen.«
»Sie reden genau die Sprache meiner Chronik,« erwiderte lächelnd die Gräfin. »Ich teile Ihre Begriffe und werde auch nicht tanzen.«
»Da Sie schon oft hier tanzten, gnädiges Fräulein, so müßte Ihr Entschluß das größte Befremden und Aufsehen erregen.«
»Gleichviel! Ich folge Ihrem Beispiele und tanze heute nicht.«
»Mir wäre dies peinlich, weil die Ausnahme meinem Einflusse zugeschrieben würde.«
»Sie wünschen demnach, keinen Einfluß auf mein Tun zu üben?«
»Um Vergebung!« antwortete er ausweichend. »Ihre gütigen Aufmerksamkeiten für den Gast flößen mir Gefühle des Dankes und der Teilnahme ein. Da Sie nach Ihren Grundsätzen und Anschauungen nichts Anstößiges darin finden, in der Abtei zu tanzen, so darf Sie eine Rücksicht zu mir nicht bestimmen, wunderlich zu erscheinen und allgemeines Kopfschütteln zu erwecken.«
»Ihre Gründe sind triftig und Ihre Wünsche mir angenehm. Auch will ich versuchen,« fuhr sie scherzend fort, »das schreckliche Ballkostüm Ihrem Geschmacke anzupassen; denn mißfallen möchte ich Ihnen um keinen Preis.«
Sie verbeugte sich und schritt nach dem Kloster.
Er blickte ihr nach mit gefangenen Sinnen.
Graf Henry hatte seit einiger Zeit die Unterhaltung zwischen der Schwester und Valfort von Ferne beobachtet. Jetzt nahte er rasch dem Baron, erkünstelten Verdruß und Ärger in den Zügen.
»Helfen Sie mir, – ich ersticke!« begann er. »Nein, – das Ding, – ein solches Ding, kann ich unmöglich hinabschlucken, – es steckt mir im Halse und nimmt den Atem! Vieles ertrage ich. Alle menschlichen Torheiten und Schwächen finden mich nachsichtig, – aber, – nun, – so etwas ist doch unerhört, – gegen allen Anstand!«
»Wovon sprechen Sie, Herr Graf?«
»Von einer Ungeheuerlichkeit des Herzogs Chatel. Kommen Sie, – sehen Sie, – urteilen Sie! Finden Sie das Tun Chatel's entschuldbar, nur einigermaßen entschuldbar, – so will ich den weiten Mantel der äußersten Nachsicht über das herzogliche Unternehmen breiten.«
Er führte den Baron nach einem Laubgange, hinter dem sich eine bemalte Wand erhob, von oben frei, dem herabfallenden Lichte zugänglich. Von einiger Entfernung, durch den Laubgang betrachtet, glaubte man, auf der bemalten Wand eine wirkliche Landschaft zu sehen, wo der Weltheiland auf einem Hügel lehrend stand. Um ihn her saßen viele Zuhörer im Grase. Das Ganze sollte augenscheinlich die Bergpredigt darstellen.
Herzog Chatel war an der bemalten Wand tätig. Ein Stück Holzkohle in der Hand, zeichnete er zwei ungeheuere Eselsohren an das Haupt des lehrenden Heilandes. Eben schien er die letzten Striche zu tun, betrachtete befriedigt sein Werk und lachte vernehmlich.
Kaum gewahrte Valfort die Schändlichkeit, als dunkle Zornesglut sein Angesicht übergoß.
»Eine bubenhafte Gemeinheit!« rief er entrüstet.
Chatel wandte sich um und betrachtete verwundert den Fassungslosen.
»Was ist eine bubenhafte Gemeinheit, Herr Baron?«
»Ihre Handlungsweise, mein Herr!« antwortete Valfort, aufgeregt in sehr hohem Grade. »Was unterfangen Sie sich? Sie wagen es, mit frecher Hand die Darstellung des Göttlichen zu besudeln? – Niederträchtig! empörend!«
Chatel lächelte feindselig. Rovere rieb vergnügt die Hände.
»Sie befinden sich in arger Täuschung, mein Herr,« sprach der Herzog. »Vor mir sehe ich nichts Göttliches, sondern nur den Juden Jesus von Nazareth, für den mein philosophisches Denken die Eselsohren sehr passend findet. – Haben Sie die Güte, Herr Baron, die »bubenhafte Gemeinheit« an sich zu nehmen.«
»Ich bezeichnete Ihr Tun mit den richtigen Worten,« entgegnete Valfort. »Fehlt Ihnen der Glaube an die Gottheit des Welterlösers, dann sollten Sie wenigstens die religiöse Überzeugung anderer achten, nicht aber in so gemeiner Weise beschimpfen.«
»Sie bringen mich in große Verlegenheit, Herr Baron! Ein Herzog und Pair von Frankreich darf unmöglich die »bubenhafte Gemeinheit« auf sich sitzen lassen. Sie werden mir also gestatten, zu überlegen, was ich meinem Range und meiner Ehre schuldig bin.«
Er grüßte kalt und verschwand.
»Sie gingen wirklich zu weit, mein Herr! Ich bedauere sehr,« sagte Rovere und folgte dem Herzog.
Paul zog sein Taschentuch hervor und begann durch Abstäuben und Reiben die schmutzige Arbeit vom Haupte der Figur zu entfernen.
Der Ballsaal strahlte im Lichtglanze. Die umliegenden Räume boten alle möglichen Erfrischungen, und zwar in der anziehendsten Weise auf Tischen, von Ziersträuchern und duftenden Blumen umgeben. Zimmer für ältere Herren, die nicht tanzen wollten oder konnten, luden zu Unterhaltung und Spiel.
Valfort hatte sich in eine Fensternische zurückgezogen und sah durch den weiten Raum. Den Kapitelsaal der altehrwürdigen Abtei hatte der antichristliche Zeitgeist in einen Tanzsaal verwandelt. Die Benediktinermönche sah er in stutzerhaftem Kostüm der Mode tanzend oder in lebhaftem Verkehr mit Damen. Die freche Entartung schlagend hervortreten zu lassen, trugen die hohen Wände immer noch den religiösen Schmuck des Kapitelsaales, Heiligenfiguren und Ölgemälde von gewaltigen Umrissen, mit Darstellungen aus der Bibel und Legende. Auch die Saaldecke war bemalt, sie zeigte dem Beschauer die ergreifenden Vorgänge des jüngsten Gerichtes.
Valfort hatte die Ausstattung des Saales betrachtet, dessen ursprünglichen Zweck mit der gegenwärtigen Verwendung verglichen. Gefühle der Bitterkeit und Entrüstung erfüllten seine Brust. Streng religiös erzogen, und von der Göttlichkeit der Lehren und der Hoheit der Einrichtungen der katholischen Kirche überzeugt, verletzte ihn das ungeistliche Treiben der Mönche in hohem Maße. Das Tanzen an solchem Orte dünkte ihm Entweihung. So stand er mit überschlagenen Armen und zürnenden Mienen.
Isabella hatte den Sinnenden beobachtet und dessen scheinbare Gleichgültigkeit schmerzlich empfunden. Glaubte sie doch, ein Wort der Anerkennung zu verdienen. Seinen Reden hatte sie nämlich Widerwillen gegen die üppige Damentracht entnommen und ihr Ballkostüm nach Möglichkeit dem Geschmacke des Sittenstrengen nahe gebracht. Das weit ausgeschnittene Kleid mußte zwar die Form behalten, aber Schultern und Busen waren durch ein weißes Tuch züchtig verhüllt, – eine Neuerung, welche bedeutendes Nasenrümpfen und Gezische der Damen erregte. Isabella bemerkte die mißliebigen Eindrücke ihrer kühnen Neuerung und blieb kalt dabei; denn sie wollte nur ihm gefallen, dem einzigen Manne, für den sie weit mehr empfand, als Achtung. In derselben Absicht war die gekünstelte und schwülstige Haarfrisur unterblieben. Ohne Rollen, in natürlich herabwallenden Locken trug sie den reichen Schmuck ihres Hauptes, um die Stirne von einem goldenen Diadem mit blitzenden Perlen zusammengehalten. Aber gerade die Einfachheit des Anzuges ließ die ungewöhnliche Schönheit desto wirksamer hervortreten. Ihre glänzende Erscheinung überstrahlte alles, erweckte den Neid ihres Geschlechtes und brachte auf die jungen Kavaliere berauschende Wirkungen hervor.
Bei einer Pause des Tanzes stand sie plötzlich vor dem sinnenden Valfort.
»Sie langweilen sich, Herr Baron?« frug sie, mit einigem Erstaunen die düstere Schrift seiner Züge lesend.
»Wenn man zu Betrachtungen so reichen Stoff findet, kann der Kopf unmöglich feiern,« antwortete er. »Arbeiten des Kopfes aber sind Todfeinde der Langweile.«
»Welcher Art sind Ihre Betrachtungen, Herr Baron?«
»Trauriger Art! Mönche tanzen im Kapitelsaale ihres Klosters!«
»Wieder spricht aus Ihnen der Geist meiner hochverehrten Chronik,« entgegnete sie erfreut. »Darf ich Ihre ernsten Betrachtungen für einige Augenblicke unterbrechen und bitten, meiner Wenigkeit nur ein flüchtiges Anschauen zu schenken? Findet mein Ballkostüm Gnade vor Ihren Augen?«
Sie lächelte gütig bei der Frage, und der Zauber ihrer Schönheit behauptete auch ihm gegenüber seine Macht.
»Sie haben meine zufällige Bemerkung über Frauentracht einiger Beachtung gewürdigt, – überaus schmeichelhaft, gnädiges Fräulein! Mir entgeht nicht das Außerordentliche eines solchen Unternehmens, bei einer Gelegenheit, wie die gegenwärtige. Ich kann mir nicht versagen, Ihren Mut zu bewundern.«
»Sie sind mit mir zufrieden und ich bin glücklich!« erwiderte sie. »Mein Ballanzug versichert Ihnen zugleich, wie gern ich von Ihnen lerne, und welches Vertrauen ich in Ihre Leitung setze.«
Die Musik schnitt die Unterhaltung entzwei. Ein Herr trat heran, und sie glitt am Arme ihres Tänzers in den graziösen Bewegungen des Menuet durch den Saal. – Am Schlusse des Tanzes suchte ihr Auge den jungen Mann in der Fensternische. Er war verschwunden. Das Bedürfnis nach Erholung vorschützend, zog sie sich nach einem Kabinett zurück.
»Baron Valfort hat den Saal verlassen, – wohin ist er?«
»Ich habe sein Weggehen nicht bemerkt,« antwortete Julie nicht ohne Mißvergnügen. »Wohl aber bemerkte ich die ungeheuere Überraschung und hörte spitzige Reden der Damen über den ganz verfehlten Anzug meiner Gnädigsten. Ich wußte dies, – sagte es voraus. Bitten und Vorstellungen blieben jedoch erfolglos.«
»Der Tadel unserer Damen ist mir ebenso gleichgültig, wie Bewunderung und Anbetung unserer Herren,« versetzte stolz die Gräfin. »Er ist mit mir zufrieden und seine Zufriedenheit ist der herrlichste Sieg meines jungen Lebens. – Welch' ein Mann! Wie ehrenhaft seine Gesinnung, wie rein und lauter sein Gemüt! Während unsere Kavaliere fades Zeug schwätzen und durch überschwängliche Lobhudeleien sich lächerlich machen, haben Valfort's Reden Gehalt, jedes seiner Worte hat Bedeutung. Was unsere männlichen Puppen ziert, würde ihn beschimpfen. Eben hat Graf Dumaille mir gesagt: »Die keusche Juno beraubte den Olymp seines ganzen Reizes, um durch ihr Erscheinen unser Fest zu verherrlichen und diesen Saal in eine himmlische Stätte zu verwandeln.« Ich mußte dem Menschen ins Gesicht lachen und ihn fragen, wie lange er an dieser geistreichen Phrase gedrechselt habe? – Wann hätte Valfort nur entfernt Ähnliches mir gesagt? Wie einfach, wie natürlich wahr ist seine Art, wie männlich ernst und achtungswürdig sein ganzes Benehmen!«
»Allerdings ein stattlicher Mann!« sagte Julie. »Bei seinem Anschauen denkt man unwillkürlich an die frömmsten und tapfersten Ritter des Mittelalters. Indessen, – auch er wird seine Fehler haben.«
»Nenne mir einen!«
»Nun, – Herr Pichat sagte neulich: Unser Gast aus der Vendee denkt und strebt nicht mit der freigeistigen Gegenwart, sondern mit der Beschränktheit längst vergangener Jahrhunderte.«
»Herr Pichat, – pfui!« versetzte Isabella mit der Miene des Ekels. »Wir kennen ja die Geisteshöhe dieses Menschen und seine Vorliebe für den Sumpf. Ist Pichat's schmutzige Lebensart eine Frucht philosophischer Aufklärung und Valfort's Seelenadel eine Frucht dummer Gläubigkeit, – dann schäme ich mich der Philosophie und werde gläubige Christin.«
Sie erhob sich und kehrte nach dem Ballsaale zurück, wo ihr suchender Blick den Verschwundenen nicht fand.
Paul war nach einem Spielzimmer gegangen; dort saßen ältere Herren bei Schach und Karten. Er schien die Bewegungen auf dem Schachbrett zu beobachten, in Wirklichkeit sah er nicht eine einzige Figur, – er sah nur Isabella. An dieses geistige Schauen knüpften sich Betrachtungen über wirkliche und mögliche Verhältnisse zwischen ihm und der Gräfin. Sie war augenscheinlich bestrebt, ihm zu gefallen. Sie achtete ihn, vielleicht empfand sie noch weit mehr. Und er bewunderte ihre seltenen Anlagen, die ruhelos in der Sandwüste religiösen Unglaubens irrten und sich fremd fühlten in den öden Steppen zeitgeistiger Verbildung. Wiederholt bat sie, ihr Führer zu sein und Retter aus schweren Seelenleiden. Ihre Klagen waren so rührend, die Macht ihrer Persönlichkeit so überwältigend, daß ihm zuweilen die sichere Haltung zu schwinden drohte. Wer aber bürgte für die Beständigkeit einer solchen Stimmung? Lag nicht in Isabella's Erziehung und Jugend die Möglichkeit, sogar die Wahrscheinlichkeit eines raschen Wechsels? – Mißtrauisch gegen das eigene Herz, und die Sklaverei der Leidenschaft fürchtend, zugleich ehrenhaft von Gesinnung, widerstrebte er aus allen Kräften einer zwecklosen Liebe. Zwischen ihm und der Gräfin erhob sich ja die unversöhnliche Scheidewand religiöser Gegensätze. Der Christ konnte niemals der Ungläubigen die Hand zum Bunde reichen. Paul erkannte klar, daß eine glückliche Ehe bei so widerstrebenden und feindseligen Anschauungen unmöglich sei. Daher sein Kampf gegen die täglich wachsende Neigung seines Herzens, das zu murren begann wider die Härte des Christen und dessen höchstes Glaubensgebot: »Gott sollst du lieben über alles!«
Während ihn diese Betrachtungen lebhaft beschäftigten, entstand im Ballsaale eine tiefe Stille. Die Musik schwieg, kein Geräusch, kein Laut irgend einer Unterhaltung drang herein. Grabesruhe lag über allen Räumen. Selbst die Spieler hoben verwundert die Köpfe und lauschten.
»Was ist denn das?« frug ein Herr. »Was hat diese Stille zu bedeuten? Sehen wir einmal!«
Auch Valfort ging nach dem Ballsaale.
Dort hatte sich eine sehr ernste Szene entwickelt. Die Musik war eben verstummt. Da öffnete sich weit die Türe und der neunzigjährige Mönch Bonaventura erschien unter dem Eingang. In das rauhe Ordenskleid gehüllt, auf seinen langen Stab gestützt, bewegte er sich langsam nach dem Mittelpunkte des Raumes. Die anwesenden Laien betrachteten mit Verwunderung, die Benediktiner mit Ärger das unvermutete Auftauchen des Alten. Alle Augen ruhten auf dem neunzigjährigen Mann, der in sich versenkt, die Umgebung nicht im mindesten beachtend, bis zur Mitte des Saales wankte, wo er unter den Lichtströmen des vielarmigen Leuchters stehen blieb.
Herzog Chatel, der gerade einen Becher Punsch in der Hand hielt, sah den Abt forschend an.
»Was soll's mit dem Jahrhundert?« frug er.
Armand zuckte verdrießlich die Achseln.
»Da fällt mir Duval's »Anstrich« ein, – geben wir also der Sache einen komischen Anstrich,« sagte Graf Rovere. »Robert, leihe mir Deinen Punsch!«
Mit dem Getränke in der Hand und von neugierigen Kavalieren begleitet, nahte Henry dem Greise.
»Sehr schmeichelhaft für uns, Herr Pater, daß Sie uns mit Ihrem Besuche beehren! Darf ich Ihnen eine Stärkung anbieten?«
»Jawohl, eine Stärkung!« widerholte mit unsicherer Stimme der umnebelte Herzog. »Pater Bonaventura will uns beweisen, daß er noch ein Tänzchen fertig bringt. Sehr interessant! Ein tanzendes Jahrhundert hab' ich noch nicht gesehen.«
Da erhob der Mönch das tiefgebeugte Haupt, und den Kavalieren verging aller Mutwille. Scheu fuhren sie zurück und sahen in das fahle Gesicht eines Sterbenden.
»Wo ist der Abt dieses Klosters?« unterbrach Bonaventura's tiefe Stimme das Schweigen. »Wo sind die Mönche von St. Martin? Alle treten heran, – zu hören!«
Widerstrebend, nur dem Zwange der Umstände gehorchend, erschienen die Gerufenen. Auch sie gewahrten das Leichengesicht, die stieren Blicke in den Höhlen, und ihre Empfindungen des Ärgers vermischten sich mit jenen des Unheimlichen.
»Was wünschen Sie, Pater Bonaventura?« frug betreten der Abt.
Der Alte richtete mühsam die gebeugte Gestalt empor und stand jetzt stramm, wie versteint. Sein Todesblick musterte die Mönche. Eine furchtbare Strenge lag in seinen Zügen.
»Ich gehe zur ewigen Ruhe!« hob er mit einer Stimme an, die aus dem Grabe hervorzudringen schien. »Die nächste Stunde fordert mich vor das Gericht des Allwissenden. Hört die Klagen, – hört die Bitten eueres scheidenden Bruders!«
Er hielt, wie erschöpft, einige Augenblicke inne. Vor ihm standen schuldbewußt, im Banne des Außerordentlichen, wie Angeklagte die Ordensleute.
»Söhne des heiligen Benedikt!« hob der Alte wieder an, dessen Kräfte bei jedem Worte zu wachsen schienen. »Was habt ihr gemacht aus dieser frommen Stätte der Beschauung und Entsagung? Wehe eurer Treulosigkeit! Ihr seid abtrünnig geworden den heiligen Gelübden, abtrünnig dem Glauben, abtrünnig der Tugend. Das Kloster habt ihr entweiht, das Gotteshaus geschändet. Ein Ärgernis seid ihr vor den Menschen und ein Abscheu vor dem heiligen Gott.«
Die Mönche hatten ihre Fassung wieder gewonnen. Der Abt unterbrach die verletzende Rede des Alten.
»Wir sind eben nicht gesonnen, uns an den bekannten Lächerlichkeiten Ihres Fanatismus zu ergötzen. Ich befehle Ihnen, sofort den Saal zu verlassen.«
Der Neunzigjährige blieb jedoch unbeweglich stehen. Noch erschütternder gestaltete sich die starre Strenge seines Wesens, das vom Hauche der Ewigkeit angeweht schien.
»Du begreifst nicht die Bedeutung dieser Stunde, Abt Armand!« sprach er dräuend. »Für Dich wurde mir eine ganz besondere Botschaft von dem Herrn, in dessen Namen ich Armer rede. Anleitung zum Bösen gabst Du einer Genossenschaft, deren Vorbild in allen Tugenden Du sein solltest. Wie ein Dieb ist der Grafensohn eingedrungen in die Schafhürde, gleich einem Räuber und Mörder der Seelen. Unheilbar sind Bosheit und Verstocktheit Deines Herzens. Reif bist Du für das Gericht, – heute noch wirst Du sterben!«
Den Abt erschütterten die Worte und die Glieder bebten ihm. Dann versuchte er höhnisch zu lächeln, aber die Züge gestalteten sich zur abschreckenden Grimasse. Er öffnete zum Sprechen den Mund, aber die Stimme versagte.
»Söhne des heiligen Benedikt,« fuhr der Alte fort, »sehet ihr heute Gottes strafende Hand, so verhärtet nicht länger euere Herzen. Ich beschwöre euch, verlasset die Wege der Sünde! Tuet Buße, solange es noch Tag ist; denn es nahet über Frankreich ein schreckliches Gericht. Rettet euere Seele, – wirket euer Heil!«
Er verstummte, machte eine Handbewegung des Abschiedes und wankte durch den Saal nach der Türe, geleitet von den Blicken der betroffenen Gesellschaft.
Abt Armand war bleich und verwirrt gestanden. Die Mönche versuchten, die Eindrücke des Unheimlichen abzustreifen.
»Aber, meine Herren,« sagte Graf Rovere, »Sie werden doch kein Gewicht auf diesen komischen Einfall eines altersschwachen Mannes legen? Man kennt ja längst die verrückten Ideen des Paters Bonaventura.«
»Einverstanden, Graf!« sagte ein Marquis. »Träumer und Gaukler sind bekanntlich alle Frömmler. Gaukelwerk soll die heitere Stimmung denkender Philosophen nicht verbittern.«
»Natürlich, – sehr wahr, – ganz richtig!« klang es in der Runde.
»Man muß übrigens gestehen,« sagte Chatel, »daß Gaukler Bonaventura seine Rolle ausgezeichnet gespielt hat. Geben wir einmal ein Schauspiel, bei dem ein Gespenst erscheint, – Bonaventura muß die Rolle übernehmen.«
Die Kavaliere lachten, die Mönche schämten sich der abergläubischen Regungen, tranken Champagner und vertanzten die letzten Eindrücke.
Auf den Freiherrn von Valfort übten Erscheinung und Worte des alten Mönches eine nachhaltige Wirkung. Er allein sah und hörte mit den Sinnen des gläubigen Christen. Keinen Gaukler und überspannten Schwärmer fand er in dem greisen Benediktiner, sondern das einzige würdige Ordensglied der Abtei. Berechtigt waren seine Klagen, ergreifend seine Reden, erschütternd das Tragische seines Erscheinens. Und als der Baron, nach dem Weggehen Bonaventura's, die faden Spottreden über den blödsinnigen Alten vernahm und sich der frivole Geist des Unglaubens in seichten Phrasen äußerte, da überkam den jungen Mann ein namenloser Ekel. Mit einem wehmütigen Blick auf Isabella, die eben zum Tanze antrat, verließ er den Saal. Er stieg die Treppe hinab, nach einem stillen Ort, wo er ungestört seinen Betrachtungen nachhängen und Klarheit in den Wirrwarr seiner Gefühle bringen konnte.
Ein langer Gang des Erdgeschosses hatte ihn aufgenommen und vor eine offene Türe geleitet. Er trat ein. Von der Decke eines weiten Raumes hing eine brennende Lampe nieder, deren Schein ringsum laufende Schränke an den Wänden, Kirchengerätschaften, Kruzifixe und Heiligenbilder beleuchtete, – offenbar die Sakristei. Er blieb stehen und betrachtete die Örtlichkeit näher. Allenthalben Unordnung, Schmutz und Niedergang. Dicke Staubschichten und Spinnengewebe bedeckten die langgestreckten Tische, an denen sich die Priester zur Feier des heiligen Meßopfers anzukleiden pflegten. Er hörte das Nagen und Picken des Wurmes im Holzwerk und sah auf Tischplatten gelbes Mehl in langen Streifen liegen, die Beweise ungestörter Tätigkeit des fressenden Insektes. Das Ganze der Örtlichkeit machte den Eindruck der Verlassenheit und Öde eines Raumes, der seine Bedeutung verloren und nicht mehr gebraucht wurde.
»Wüst und öde, – das bezeichnende Bild eines großen Teiles der Kirche von Frankreich!« sprach Valfort trübe vor sich hin.
Er durchschritt die Sakristei und öffnete den Eingang zur Kirche. Ein dreischiffiges gotisches Langhaus nahm ihn auf. Nicht ohne Verwunderung sah er den Stiftschor hell beleuchtet, wie es um Mitternacht üblich, wenn die Ordensleute zur Mette gehen. Aber nirgends bemerkte er eine wandelnde Mönchsgestalt, die sich nach den Chorstühlen begab. Alles blieb öde und leer, kein Geräusch unterbrach die Grabesstille. Und jene, deren Gelübde zur Mette riefen, tanzten und frönten sinnlichen Genüssen. – – Vor Paul's Augen stiegen die hohen Pfeiler düster und dräuend empor, als riefen sie Klagen und Zornesworte zum Himmel, über das Verderbnis der Zeit und den Zerfall der Klosterzucht.
In Valfort's Betrachtungen klang vom Turme die Stunde der Mitternacht. Mit dem letzten Glockenschlage wurde es lebendig im Stiftschor. Die Laute einer betenden Stimme weckten das Echo der Schiffe. Einzelne Psalmenworte erreichten das Ohr des Lauschenden. Fast geräuschlos schlich Paul vorwärts, bis zum Chor. Dort brannten vor jedem Stuhle der Mönche zwei Lichter, aber sämtliche Plätze waren leer, – einen ausgenommen. Die Kapuze des Ordenskleides über das Haupt gezogen, kniete eine gebeugte Gestalt vor dem Pulte. Immer schwächer klang die Stimme des Betenden. Bei den Worten: » Jube domine benedicere« – wandte er sich nach dem leeren Abtsstuhle, den üblichen Segen zu erbitten, als sei der Obere der geistlichen Genossenschaft anwesend. Statt des begehrten Segens schallten die Töne der Tanzmusik aus dem Kapitelsaale herüber, und das Echo von Trompeten klang vom Abtsstuhle zurück. Nach einer kurzen Pause fuhr der Betende fort, bis er plötzlich verstummte. Sein Kopf sank auf das Brevier herab und die gefalteten Hände lagen über dem Pulte.
Paul beobachtete erwartungsvoll den Regungslosen. Zögernd nahte er, in der Meinung, fromme Gedanken möchten ihm das Haupt zur Betrachtung gebeugt haben. Da richtete sich der Mönch empor, sank auf den Sitz nieder und lehnte den Kopf müde an die Rückwand des Chorstuhles. Das Licht der vor ihm brennenden Kerzen fiel in sein Angesicht und zeigte dem Baron die ruhigen, milden Züge des greisen Bonaventura. Die Hände lagen gefaltet im Schoße, die Augen waren geschlossen, und über die Lippen kamen leise, jedoch für den Nahestehenden deutlich vernehmbar die Worte: »Glückselig der Mann, der in den Rat der Bösen nicht geht, – der auf der Sünder Wegen nicht steht, – der auf dem Stuhle der Verruchtheit nicht sitzt!«
Wie Vorwurf empfand Paul diese Worte des Psalmisten. Er hatte teilgenommen an der Entweihung geheiligter Stätte, hiezu verleitet durch Sinnenreiz, verlockt durch die Schönheit eines Weibes. Da jetzt hüpfende Weisen eines Tanzes durch die Kirche rauschten, berührte ihn die Musik, wie Hohn und Triumph der Tiefe über sein Zugeständnis an den Zeitgeist.
Abermals begann der Mönch sein Psalmengebet, langsam und innig.
»Auf Dich, o Herr, vertraue ich, – zu Schanden werde ich in Ewigkeit nicht! Dahin siechte mein Leben vor Gram, – meine Jahre schwanden in Seufzen. Zum Gespötte ward ich meinen Nächsten, – gleich ward ich einem weggeworfenen Gefäße. – Auf Dich hab' ich stets vertraut, o Herr! Mein Gott bist Du, – sprach ich jederzeit. – – In Deinen Händen ist mein Los, – entreiße mich gnädig bösen Nachstellungen. – – In Deine Hände empfehle ich meinen Geist, – erlöse mich, o Gott der Wahrheit! Laß leuchten über Deinen Knecht Dein Angesicht, – nach Deiner Barmherzigkeit rette mich!«
Das Haupt des Betenden neigte etwas zur Seite, ein lichter Strahl zuckte über sein Gesicht, – Bonaventura war tot.
Tief bewegt stand Paul vor der Leiche. Ein vielgeprüftes, an Leiden reiches Leben war erloschen. »Dahin siechte mein Leben vor Gram,« hörte er den Sterbenden klagen, »und meine Jahre schwanden in Seufzen.«
Valfort begriff die Leiden des Getreuen, in Mitte einer abtrünnigen, verkommenen Schar. Eine reine Flamme war ausgelöscht und Frankreich um den Segen eines tugendhaften Daseins ärmer. Er wandte sich ab, sank auf die Stufen des Altares nieder und betete lange.
Mit dem Entschlusse, den Ballsaal nicht wieder zu betreten, verließ Paul die Kirche und durchschritt den Klostergang bis zur Treppe, wo aus den oberen Räumen Getöse und Verwirrung herabschallten. Zu gleicher Zeit vernahm er vom Hofe das Rollen heranfahrender Wagen. Ein Diener eilte durch das Portal.
»Finde ich Sie endlich, Herr Baron! Das gnädige Fräulein läßt sie allenthalben suchen.«
Paul sah in die bestürzten Züge des Lakaien.
»Woher dieses Durcheinander im Ballsaale? Was geschah?«
»Sie wissen es nicht? Ein Unglück, – ein gräßliches Unglück, – eine nichtswürdige Unterbrechung! Und das Fest war so glänzend, – so lustig, – so reichlich! Selbst die Lakaien der hohen Herrschaften tranken Champagner, – alles war toll vor Lust! Und solch ein Ende, – es ist, als ob man's gar nicht dabei lassen könnte!«
»Wollen Sie mir endlich sagen, was geschehen ist?«
»Sie wissen wirklich nicht, Herr Baron, daß Abt Armand, – oder vielmehr Monseigneur Abt Armand, dieser freigebige, lustige Mann, – dieser menschenfreundliche Prälat, der so schöne Feste, Konzerte und Bälle gab, – der es so gut verstand, die Gäste zu amüsieren, – der ein so feingebildeter, aufgeklärter und liberaler Abt war, – – o ich kann es gar nicht aussprechen, nicht glauben, – es ist gar nicht möglich! Sollen die schönen Tage von St. Martin wirklich, – wirklich für immer dahin sein?«
»Schwätzer!« unterbrach ihn der Baron. »Was ist's mit dem Abt?«
»Tot ist er, vollständig tot, – für immer tot! Mitten im Tanze fiel er um und war tot, – oder vielmehr, er war nicht sogleich tot; denn er sagte noch drei Worte, – und was für Worte? Schreckliche Worte, die kein lustiger Mensch gern hört, – nämlich er sagte: »Tod, – Gericht, – Hölle!« Dann war er aber wirklich und wahrhaftig tot, – denken Sie, Herr Baron, – vollständig tot!«
»Und Sie befinden sich in einem Zustande zwischen Tod und Leben, das heißt, Sie sind berauscht,« sprach strenge der Freiherr. »Ein Segen für die Nüchternheit ist der Tod des lustigen Abtes. – Sind Sie imstande, Mensch, der gnädigen Gräfin zu melden, daß ich beim Wagen ihrer harre?«
»Um Vergebung, Herr Baron, – ich bin alles imstande!«
Er stolperte die Treppe hinauf. Valfort ging nach der Einfahrt.