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78

Dann kam der Brief vom Landeskirchenamt.

»Entlassung zum 1. April mit einer Pension von der Hälfte des Gehalts«, sagte Eschels zu seiner Tochter. »Das heißt nach Lage der Dinge: fristlose Entlassung mit einem Butterbrot als Trostpreis, denn um diese Stellung damals überhaupt zu bekommen, leistete ich Verzicht auf meine Professorenpension und erklärte mich mit diesem kleinsten Gehalt einverstanden. Soll ich nun den bürgerlichen Rechtsweg gehen? Soll ich Klage führen, daß sie mich ohne ordnungsgemäßes Gehör, ohne mir die Möglichkeit der Verteidigung zu geben, verurteilt haben – verurteilt nur auf die Hetzreden einiger Böswilliger hin?«

Gondelina antwortete nicht gleich.

»Habe ich auch«, fuhr er erregt fort, »in Nebenfragen und Kleinigkeiten versagt, so bleibt mir doch wohl das Recht zu fragen, ob ich im großen und ganzen mich denn untauglich erwiesen habe für das Amt, das ich übernahm? Habe ich Schlechtes oder Gutes bringen wollen? Schlug mein Herz warm für sie? Oder war ich lau? War ich kalt?«

Gondelina schwieg noch immer, und ihr Vater faltete langsam das amtliche Schreiben wieder zusammen. »Es muß ein guter Redner sein, der einen Schweiger übermeistert«, dachte er, »solch guter Redner aber bin ich heute nicht, und bin es nie gewesen, wo es galt, mein eigener Anwalt zu sein –«

»Die Wahrheit klingt wie eine Glocke«, sagte er nach einer Weile, »sie klingt auch durch dein Schweigen. Und die Wahrheit ist, daß ich hiernach –« und er warf den Brief auf den Tisch – »nicht erwarten darf, noch zu erreichen, was ich bisher nicht schaffen konnte. Das Mißtrauen der Behörde würde mir die Kraft rauben, hier noch unbefangen auftreten zu können. Das Bewußtsein, öffentlich gegen die Alten vorgehen zu müssen, würde mir die Lust verbittern, die Jüngeren um mich zu sammeln.« Und er ließ Gondelina allein und ging aus dem Hause.

Aber er ging nicht ins Dorf, um etwa Abschiedsbesuche zu machen. Er überschritt die Bahnlinie nach Norden zu, wich einer eben anrückenden Kolonne Schienenleger aus – denn die breiten Gleise der Vollbahn wurden nun schon mit aller Beschleunigung gelegt – und ging weiter durch die Heide den uralten Fahrweg zum Kliff hinauf. Gewann er durch die Schlucht den Abstieg zum nördlichen Strand, so würde er dort ungestört mit sich allein sein können, mehr als im eigenen Hause – in dem Pfarrhaus, das er binnen heut und drei Wochen würde räumen müssen.

Bei dem ehemals Borreschen Haus wandte der Weg sich nach Osten und lief hier eine Strecke auf halber Höhe entlang. Eschels war froh, daß niemand sich beim Hause blicken ließ. Er ging eilig vorüber und schaute dann von oben her auf das Dorf hinunter.

»Mit Pfarre, Pfarrhaus, Ansehen und Gehalt werde ich nun auch die alte Heimat verlieren«, dachte er in seiner Bitterkeit, »denn welcher Morsumer mag noch öffentlich zu einem stehen, der all dies nicht zu behaupten wußte?« Ihn rührte der stille Frühlingstag, der leicht verschleiert ihm Insel und Watt zum Abschied doppelt schön malte. Es war eine halb unwahre Schönheit. Sie schmeichelte dem sonst so herben Land. Das wußte Peter Boy Eschels wohl, aber in seiner augenblicklichen Wehleidigkeit hätte er gern alle Reize der Erde auf seiner alten Heimat vereinigt gesehen.

Durch die Schlucht, durch die der breite Fahrweg läuft, stieg er zum Nordstrand hinunter. Hier war er völlig allein. Hier war seine alte Heimat am schönsten. Die matte Frühlingssonne hatte noch nicht Kraft genug, das düstere Rotbraun des Eisensandsteins aufzuhellen. Sie schien hell genug, den weißen Kaolinsand blendend aufleuchten zu lassen. Die dunkle, die schimmernd helle Wand hob sich in reichem Farbenspiel gegen das matt verdämmernde Watt und den dunstigen Himmel ab.

»Mir mußte die Absetzung ins Haus geschickt werden, damit ich dies alles noch einmal wiedersähe«, dachte Eschels in leisem Selbstspott. »Wie lange ist's denn her, seit ich beim Amtsantritt in meiner ersten Freude hierher lief? Zwölf Jahre und mehr. War ich seitdem nie wieder hier draußen?« Er besann sich vergebens.

Auf halber Höhe der weißen Sandwand lag ein herabgerutschter mächtiger Heideklumpen, in sich noch zäh verbunden durch die Wurzeln, die ihn durchflochten. Ein königlicher Sitz dort oben in dem trockenen Kraut, mit dem Blick übers graublaue Wattenmeer bis westlich nach Keitum und Kampen, östlich zur Festlandküste hinüber. Eschels versuchte hinaufzuklimmen, aber der lose Sand rutschte unter seinen Füßen. »Ich bin zu schwer geworden. Aber als Kind habe ich's genossen. Lassen wir uns daran genügen. Habe dort oben gesessen, mehr als einmal. Freilich nicht auf diesem Heideklump, sondern auf jenem Findlingsstein, der nun auch an der Flutkante schon liegt –«

Er hob eine Krebsknolle auf und warf sie gegen den Granitblock, an dem sie zersprang.

»Ja«, fuhr Eschels fort, indem er sich doch unwillkürlich bückte, die einzelnen Stücke der Knolle zusammenzusuchen, um den Krebs darin zu finden, setzte sich auf den Stein und sprach zu ihm: – ja, alter Kerl, dir haben sie auch den Boden unterspült durch Klatsch der Wellen und Tratsch des Windes, bis du endlich hier unten gestrandet bist. Geht dir nicht anders als mir. Aber laß gut sein – in hundert Jahren spricht niemand mehr von uns beiden – wissen wir selbst auch nicht mehr von uns, noch von dieser Stunde des Abschieds –« und der Spruch vom Westerländer Friedhof der Heimatlosen ging ihm durch den Sinn: »Wir sind ein Volk, vom Strom der Zeit gespült ans Erdeneiland –«

Er ging weiter unter Kliffende entlang. Schaute zurück auf das schweigende Kliff, Zeuge unausdenkbar längerer Zeitmaße, als Menschen sie zu leben vermöchten, und wenn sie Methusalems Alter erreichten. Ging weiter – trat auf das grüne Vorland hinaus. Straff nach Osten hin reckte sich die feste Linie des hohen Dammes –

Plötzlich fing Pastor Eschels an, längere Schritte zu nehmen. Was hatte er noch mit dem Damm zu tun? Er war nicht mehr Pastor, war nicht mehr Seelsorger, weder für Bauern noch für Arbeiter. Er war Peter Boy Eschels. Er war Peter Bleik Bun – er kam ins Pfarrhaus, kam in die Waschküche hinaus:

»Wo hast du wieder meinen Fischkasten, Gondel? Ich will hinaus, im Katrevel Aale stechen – an der Furt beim neuen Graben – ja, ich nehme mir Brot mit, warte nicht mit dem Essen auf mich –«


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