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Der Winter war milde. Bis über Weihnachten hinaus gab es kaum ein paar Nachtfröste. Und doch kam in diesem Winter Erkel Simonsen zu liegen, um nicht wieder aufzustehen. Da Dr. Meusel aufs Festland zurückgegangen war, und Erkels Eltern sich scheuten, einen der andern Inselärzte holen zu lassen, fand es Pastor Eschels von sich aus nötig, öfter einmal nach der jungen Kranken zu sehen, um ihr selbst und den Eltern zuzureden, daß sie in eine Lungenheilstätte ginge. Er glaubte wohl, ihr durch seine mannigfachen Verbindungen irgendwo einen Freiplatz schaffen zu können, und für das Reisegeld würde sich auch wohl noch eine Hilfe finden, meinte er. Aber die Eltern wollten durchaus nicht die öffentliche Wohltätigkeit in Anspruch nehmen, und Erkel selbst hatte nur den einen Wunsch: daheim bleiben zu dürfen.
Pastor Eschels saß oft an ihrem Bett, um ihr ein wenig von den Dorfgeschehnissen vorzuplaudern und ihr guten Mut zu bringen. Mehr noch aber lag ihm daran, festzustellen, ob die Anweisungen, die Doktor Meusel gegeben hatte, auch befolgt würden; ob die Kammer geheizt wäre und trotzdem das Fenster geöffnet – was als Verschwendung und sinnloses Tun von Erkels Mutter verachtet wurde; ob Erkel auch mit Milch und Eiern recht gepäppelt würde – was seine Schwierigkeiten hatte, weil ihre Eßlust immer mehr versagte; ob auch die kleineren Geschwister von der Kammer ausgesperrt blieben – und dies durchzuführen war nun vollends nicht möglich, und Pastor Eschels mußte den Krankenwärter spielen, was niemand ihm dankte.
»Schlimm genug, daß Erkel so daliegt, Peter«, sagte die Mutter bekümmert, »daß sie vom Bett aus die Kleinen hütet, ist wirklich das einzige, was sie noch helfen kann.«
»Aber die Kleinen werden sich anstecken –«
»Wie magst du das nur sagen! Gott ist doch barmherzig, der wird das doch nicht zulassen!«
»Dr. Meusel sagt –«
»Ist er mehr als Gott, Peter?«
Und Peter Boy Eschels ging seufzend zu der Kranken, trieb die jüngeren Geschwister hinaus, öffnete das Fenster, legte ein paar Briketts auf den Ofen – denn da er sie selbst geschickt hatte, durfte er sich solchen Übergriff erlauben; setzte sich an das Bett, nahm Erkels Hand und hörte betrübt auf ihre heisere Stimme.
»Du solltest so viel nicht sprechen, Erkel!«
»Ach, Simon kann und kann nun mal das Einmaleins nicht lernen, und wenn ich's ihm nicht abhöre, wo ich ihn nur irgendmal erwische, dann bleibt er Ostern noch sitzen.«
»Ich werde mit Lehrer Abrumeit über ihn reden«, sagte Eschels unbedacht, denn nun wurde Erkel eifrig.
»Herr Abrumeit darf ihn doch nicht versetzen, wenn er seinen Lex nicht kann, Pastor-Ohm. In der Schule muß doch alles sein Recht haben, und wenn der Lehrer sagt, daß Simon nur faul ist und nicht ordentlich aufpaßt, dann ist das auch so –« und sie bekam rote Backen und ihre Augen glänzten.
Eschels bereute, das Gespräch auf dies Thema gebracht zu haben. Doch da es nun einmal geschehen, nahm er die Gelegenheit wahr, es auch durchzufechten.
»Du verteidigst Abrumeit gut, Erkel«, sagte er, gab ihre Hand frei und machte sich am Ofen zu schaffen. »Ich weiß nicht, ob er's wert ist. Er soll ja nun mit Metta Holm-Peters versprochen sein –«
»Ich weiß.«
»So ist das wirklich wahr?«
»Metta hat es mir selbst erzählt.«
Pastor Eschels schwieg bestürzt. Er stellte sich ans Fenster und schaute in den kleinen Kohlgarten hinaus.
»Wann war das, Erkel?«
»Beim Fest in der ›Hohen Heide‹.« Ihre Stimme klang angestrengt, und sie warf sich im Bett hin und her. Aber Eschels wandte sich nicht um, und so fuhr sie in ihrem Bericht fort: »Metta hat es mir selbst erzählt. Er kam einmal zu ihnen zu ungewohnter Zeit. Ihre Eltern waren nicht daheim. Da suchte er sie und fand sie unter der Kuh sitzend. Und da hat er gesagt: ›Sieh, das lobe ich mir! Solch eine Frau wünschte ich mir wohl auch!‹ Er hat dabei gelacht, aber Metta denkt, daß er's wohl ernstlich gemeint hat, und – und – das denke ich auch.«
Eschels seufzte. Auch ihm schien's wahrscheinlich. Und selbst wenn dies nicht gewesen wäre – er konnte Erkel nicht wieder gesund machen. Auch der Aufenthalt in einer Heilstätte konnte die Krankheit nur eben zum Stillstand bringen – heiratsfähig konnte Erkel nie wieder werden, das hatte Dr. Meusel ihm ausdrücklich gesagt.
»Ich –« flüsterte Erkel, und er hörte ihrer Stimme an, daß sie dabei weinte – »ich durfte ja überhaupt nicht wieder melken, seit ich die schwere Grippe hatte –«
Eschels kam vom Fenster zurück und setzte sich wieder an ihr Bett.
»Erkel, liebes Kind, ich will dich nicht aufregen, aber sage selbst: wäre es nicht besser, du gingest alledem aus dem Wege? In dem Erholungsheim lernst du neue Menschen kennen, es ist nicht trübselig dort, das mußt du nicht denken. Wenn du nur erst wieder gesund würdest – es gibt auch andere Männer –«
Doch da hob sie den Blick zu ihm und lächelte unter Tränen:
»Das verstehst du nicht, Pastor-Ohm!« – –
Am folgenden Tage kam Frau Merret Simonsen zu Gondelina.
»Tu mir die Liebe, Gondel, und laß deinen Vater nicht mehr zu Erkel kommen. Ich weiß, er meint es gut, daß er ihr immer noch zur Reise rät. Aber es regt sie nur auf und hinterher ist sie kränker als sonst. Was soll es auch, daß er kommt? Früher hat er ihr immer noch Fieber gemessen, nun tut er das längst nicht mehr –«
»Hätte es noch einen Zweck, Merret?«
»Ja, dann nützt das wohl nichts mehr. Und sonst werde ich auf Erkel schon gut aufpassen. Die Kinder sollen auch nicht mehr so viel bei ihr sein, heute hat sie die ganze Nacht wieder gehustet. Aber sage es deinem Vater so, daß er merkt, wir sind nicht undankbar. Es ist nur um Erkel, weil sie mehr Ruhe braucht.«
Als Gondelina ihrem Vater bei Tisch die Botschaft ausrichtete, antwortete er ruhig:
»Merret hat schon recht. Ich wäre selbst nicht mehr so oft hingegangen. Vielleicht kannst du sie einmal besuchen?« Aber er schob den Teller zurück und mochte nicht essen. »Ich kann nicht sagen, wie leid es mir um Erkel ist! In all den langen Jahren hier habe ich keine Konfirmandin gehabt, die mir lieber geworden wäre als sie. Der aber, dem zuliebe sie sich diese Krankheit holte, mag nun sehen, wie er mit seinem Gewissen fertig wird!« schob auch seinen Stuhl zurück und stand vom Tische auf, ohne etwas gegessen zu haben.
Mimi und Mitzi aber, die auch traurig über Erkel Simonsens Krankheit waren, trugen dies harte Wort ins Dorf, wo es bald durch die ganze Gemeinde lief; sie kannten die Verhältnisse noch nicht so recht und ahnten nicht, was sie damit taten – wußten auch nicht, auf wen es ging.