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14

Dieser erste Schoppen in dem kleinen Gasthof »Auf der hohen Heide« über dem östlichen Morsumer Vorland, der vorspringenden Nase, der Morsumer Nösse, kennzeichnete den Beginn einer soliden Kameradschaft zwischen den beiden im Alter so sehr verschiedenen Männern. Aber Peter Boy Eschels war trotz seiner Jahre innerlich eher jünger als Heinrich Bremer, dem er doch mehr als ein Menschenalter voraus war; und Heinrich Bremer spürte bei diesem ersten Schoppen schnell, daß er durch den ortsansässigen Pastor in einer Stunde mehr über Land und Leute erfahren konnte, als durch ein volles Jahr eigener Beobachtung. Sie saßen auf der kleinen hölzernen Veranda vorm Hause, schauten über die Landschaft, die im Dämmer einer hellen Nacht lag, und tranken nachdenklich und bedachtsam den guten Rheinwein, den die Wirtin ihnen gebracht hatte, ehe sie selbst zur Ruhe gegangen.

»Diesen Niersteiner hat Omine Lorenzen auf meinen Rat gekauft, als bei der Revolution das Offizierskasino drüben in Kampen aufgelöst wurde«, sagte Pastor Eschels, »und sie hat es nicht bereut. Damals hielt sie für teuer, was heute reineweg geschenkt ist. Ja, ja, hm, hm, die Welt wird schlechter mit jedem Tag – man weiß nicht, was noch werden mag. Nun ist Andreas Dirks auch gestorben, drüben aus Tinnum, der Maler, Professor in Düsseldorf; hörten Sie von ihm? Der wußte auch, was ein trinkbarer Tropfen ist, hat mir manche gute Quelle genannt.«

»Professor in Düsseldorf?« wiederholte Bremer mit einigem Erstaunen. »Der hat es weit gebracht, das muß ich sagen.«

»Wir bringen es alle weit in der Welt, wenn wir nur überhaupt die Nase hinausstecken«, entgegnete Eschels mit Selbstgefühl. »Ich stamme doch auch nur von einem der kleinsten Höfe hier – dort unten liegt er, einer von den dreien, die sich am weitesten gegen Südosten vorschieben – und habe es doch auch zum Universitätsprofessor gebracht –«

Heinrich schlug sein Glas auf den Tisch, daß der Fuß abbrach. »Verzeihen Sie«, sagte er beschämt, »aber es übernahm mich – Universitätsprofessor! Ich hielt Sie für einen Morsumer reinster Prägung –«

»Bin ich auch«, antwortete Eschels behaglich, stieg von der Veranda hinunter, grub einen festen Erdklumpen aus der Heide, kam zurück und drückte Bremers Glas hinein. »Sie sind Städter, sitzen da mit Ihrem fußlosen Glase in der Hand und wissen sich nicht zu helfen. Wir alten Sylter sind zumeist ungebildet, aber bildungsfähig wie wenige drüben auf dem Festlande. Du meine Güte, was war das für ein Gewürm, das mir die Hörsäle füllte! Flog einem der Studentlein einmal durch Zufall ein eigener Gedanke an, gleich kam er anderntags zu mir gelaufen: ob er mit solchen »Zweifeln« auch der Landeskirche noch zu dienen fähig sein würde. Wir Sylter haben nicht diese jämmerliche Angst vor den eigenen Gedanken. Uns aber fehlt es an Kenntnissen. Wir haben nichts gelernt. Wir wissen nicht, was in der Welt vorgeht. Dazu soll uns der Damm dienen –«

»Und doch sind Ihre Landsleute nicht dafür!«

»Mit Recht, Herr Baumeister, ganz und gar mit Recht! Sie wollen das Neue nicht, weil ihnen das Alte genügt – wer gut sitzt, der lasse das Rücken.«

Bremer schüttelte verwundert den Kopf. »Mir erscheinen die Verhältnisse doch recht ärmlich.«

»Sind es aber nicht!« Peter Boy Eschels schenkte sich ein frisches Glas bedachtsam ein und vertiefte sich mit Behagen in die Schilderung der Morsumer Verhältnisse. »Früher hütete jeder sich, merken zu lassen, wieviel Bargeld er besäße. Jetzt kommt so allmählich zutage, wieviel jeder durch Krieg und Inflation verliert. Da gibt es manche unter ihnen, die man vorm Kriege wohl auf eine gute Viertelmillion schätzen durfte. Aber sie sind sparsam und anspruchslos. Ihre Töchter gehen als Stubenmädchen oder Köchinnen nach Hamburg, wenn sie einmal die ›Welt‹ kennenlernen wollen. Mein Oheim, der mich studieren ließ, hat bis an sein Lebensende in einem Wandbett geschlafen, das zu kurz für ihn war. Er gehörte zu der langen blonden Sorte hier im Dorf, und für die war das Haus nicht gebaut, in das er einheiratete. Er schlief in einer Kammer nach Norden, unheizbar, unlüftbar, denn die Fenster waren durch den sauberen Anstrich von außen verklebt. Doch lebte er nicht etwa aus Geiz so, – nein, nur aus der Erkenntnis heraus, daß man einzig und allein durch Anspruchslosigkeit reich zu werden vermag. Daß, wer sich nur in einem Punkte nachgibt, was Behaglichkeit oder gar Luxus betrifft, damit dem Teufel den kleinen Finger bietet – und der nimmt, wie bekannt, alsdann die ganze Hand.«

»Nun ja«, sagte Bremer langsam, »und wenn also ein Morsumer sich eine Viertelmillion zusammengespart hat, dann –?«

Bremer lachte. »Dann spart er eben weiter. Mein Oheim – um noch einmal auf ihn zu kommen – huldigte noch dem alten Brauch, nach vollendeter Ernte ein Bad im Katrevel zu nehmen. Vielleicht stammt der Brauch noch aus heidnischer Zeit und war mit einem Opfer verbunden, mag sein. Heute ist es eben ein Reinigungsbad. Nun hatte sich ihm einmal das Einbringen der Ernte erheblich verzögert. Er stieg ins Watt, nachdem schon einige Nachtfröste es stark durchgekühlt hatten. Erkältete sich. Lag mit einer Lungenentzündung in seiner kalten und unheizbaren, unlüftbaren Kammer. Ich brachte ihm eine Wärmflasche; es war die erste künstliche Erwärmung seines Lebens. Ich ließ ihm durch den Arzt das kalte Herbstbad verbieten – ein warmes Bad zu nehmen, erschien ihm als so unausdenkbarer Luxus, als sündhafter Luxus, daß dieser Gedanke ihm nicht nahezubringen war. Aber Geld hatte er auf der Bank – wahrhaftig, wer reich werden will, lasse alle Ansprüche ans Leben fahren.«

»Wenn die Leute sich aber wohl dabei fühlen – ja, weshalb bauen wir dann den Damm?« rief Bremer unwillkürlich aus.

»Ja, weshalb?« spottete Peter Bleik Bun. »Und nun rücken Sie schon auf Barthels Kuhfenne vor?«

Auf Barthels Kuhfenne, der Sandbank westlich des Osterley ging die Arbeit flott voran.

»Was hörten Sie davon?« fragte Bremer mißtrauisch.

»Daß Ihr Kram sich dort ausnimmt, wie eine Flagge auf der Mistkarre«, entgegnete der alte Morsumer derb. –

Als die beiden Herren endlich aufbrachen, stand der abnehmende Mond schief über blanker Wasserfläche. Sie stolperten etwas mühselig durch die undeutlichen Wege der hohen Heide, und plötzlich sagte Pastor Eschels – ganz unvermittelt: »... aber die Morsumer schätzen das Geld an sich nicht nur höher als Behagen und weichliche Bequemlichkeit, sondern höher auch als nützliche Kenntnisse. Bildung – Bildung – äh, wat, gebildet sind sie, sofern man unter Bildung die Einheit versteht von Denken, Fühlen und Handeln, die Einheit des Seins. Aber diese Morsumer Bildung liegt unterhalb der Ebene, die ihren Fähigkeiten und Anlagen entsprechen würde. Ich möchte sie herausschütteln aus ihrer faulen Beschränktheit! Der Mensch soll sich nicht beschränken, er soll sich recken und wachsen. Das wird den Morsumern erst kommen, wenn ihnen das Festland auf die Hacken tritt« – er stolperte über ein Schaf, das mitten im Wege schlief, doch das lenkte seine Gedanken nicht ab –; »wir haben Verstand, wir haben Willen und Entschlußkraft, aber das alles schläft seit den Tagen der großen Seefahrt. Sie nehmen heute noch den Viehdünger von den Weisen und brennen ihn als Feuerung – sie sind nicht dumm, sie sind auch nicht eigensinnig, es sind tatsächliche innere Hemmungen, verursacht durch die tausendjährige insulare Abgeschlossenheit. Und deshalb will ich den Damm, solange ich noch hier lebe und fähig bin, den Morsumern auch einen geistigen Damm nach Deutschland hinüberbauen. Ich will ihn, obgleich er ein Werk des Teufels ist und Morsum daran zugrunde gehen wird.«

»Ihre Gedankengänge scheinen mir nicht besser fadengerade angelegt als diese Heidewege, Herr Pastor«, spottete Bremer.

»Und führen dennoch zum Ziel – das Ihnen freilich verborgen bleibt«, gab Eschels mürrisch zurück. »Das Ziel aber ist der Damm. Natürlich muß das Korn zugrunde gehen, damit eine Ähre daraus erwächst –« und dachte weiter, aber das mochte er nicht mehr aussprechen: »Die Morsumer sagen, man soll nichts machen wollen, es muß sich alles von selbst entwickeln, man kann Gott doch nicht entlaufen, und er schickt zu rechter Zeit, was uns not tut – schickt er ihnen aber den Baumeister Bremer auf den Hals mit seinem Damm, dann sprechen sie: dies ist das Werk des Teufels! Und ich spreche nicht anders in meinem Herzen, wenn auch mein Verstand zehnmal den Damm als unvermeidlich will!« Blieb stehen: »Hier haben wir nun die feste Straße gewonnen und unsere Wege trennen sich. Wie wohnt sich's denn in der neuen Baracke?«

»Schlecht«, antwortete Bremer kläglich; »was nützt mir ein Bett, das mir nicht bereitet wird? Was ein Tisch, der sich nicht von selbst deckt? Ich werde mich nach Quartier im Dorf umsehen.«

»Werden aber keines finden, mein Guter«, lachte Eschels schadenfroh. »Es wird niemand des Teufels Abgesandten bei sich aufnehmen wollen. Heiraten Sie lieber, heiraten Sie, mein Wertester, sonst können Sie hier noch verhungern.«

Aber wenn Heinrich Bremer bei diesen Worten auch einen Augenblick Elisabeth Eickemeyers Gestalt aus dem unsicheren Mondlicht über den schimmernden Weiden auftauchen sah – er zog es doch vor, noch gründlicher im Dorfe Umschau zu halten und endete schließlich damit, daß er sich bei Cäcilie Hansen, der Dorfhexe, in Kost und Logis gab.


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