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So geschah es eines Tages, daß die auf unordentlich gelegten Bohlen einherschwankende Lokomotive des Materialzuges kippte, umstürzte und den Maschinenmeister Braun unter sich begrub. Er wurde schnell genug von seinen Leuten befreit und schien auch nicht stark verletzt zu sein. Doch konnte er sich nicht auf den eigenen Füßen halten, brach stöhnend zusammen und verlor das Bewußtsein. Dr. Meusel war gerade weit draußen auf dem großen Bagger, wo einer der Männer mit dem Arm in die Kettenzüge geraten war; die ganze Brücke war überdies im Augenblick von Materialzügen blockiert. So rief Bremer ein Auto aus Keitum herbei und schickte Max Milian Meiners mit dem Verunglückten nach Westerland zum Krankenhaus. Er selbst aber ging nach Feierabend zum Pfarrhause hinauf, um Pastor Eschels zu bitten, sich um die junge und landfremde Frau zu kümmern, die bei Ludwig Bossen im Dorfe wohnte.
Die Stille im Pfarrhaus erschreckte Bremer, und da er auf sein Klopfen an des Hausherrn Tür keine Antwort erhielt, ging er zur Küche, wo er Gondelina oder eins der jungen Mädchen zu treffen hoffte. Er fand in dem dämmerigen Raum aber nur einen Arbeiter, der ihm auf seine Frage mitteilte, daß alle andern Bewohner des Pfarrhauses zu einer Taufe nach Keitum gegangen wären.
»Und Sie? Was tun Sie hier?« fragte Bremer in dem mißtrauischen Verantwortungsgefühl, das diese drei Jahre ihm anerzogen hatten.
»Ich hüte Haus«, antwortete der Mann, »Pastor Eschels nahm mich hier auf, weil er mir anmerkte, daß ich mich in der Baracke nicht sehr wohl fühlte« – und fügte mit spöttischer Bitterkeit hinzu: »Vielleicht auch, weil er voraussah, daß ich keine silbernen Teelöffel stehlen würde.«
Weder Stimme noch Ausdrucksweise muteten Bremer als die eines Arbeiters an. Unwillkürlich griff er nach dem Schalter neben der Tür und drehte das elektrische Licht an. Der Arbeiter machte eine Bewegung, als wollte er sich dem Blick des Baumeisters entziehen, doch dann hielt er ruhig und ein wenig trotzig stand – und Bremer fuhr erschrocken zurück.
»Martin Eickemeyer? Um Gottes willen, wie kommst du hierher? Und als einfacher Arbeiter? Was heißt das? Seit wann? – ich sah dich doch nie!«
»Ich fand bei der Firma Hurtig Söhne Arbeit«, antwortete der Jüngere. »Seit wann? Seit dem ersten Frühjahr schon. Sie sahen mich noch nie? Nun ja, auf einen Baumeister kommen wohl fünfhundert Arbeiter – ich sah Sie oft schon, aber ich war froh, daß Sie mich nicht beachteten. Mir wäre lieb, wenn auch weiterhin niemand erführe, daß Sie mich kennen« – und er ging hin und schaltete das Licht wieder aus –, »meine Stellung unter meinen Genossen ist ohnehin schon etwas zweifelhaft geworden, seit ich hier wohne.«
Heinrich Bremer zog einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor und setzte sich. Er war müde. Es lag in dieser Gebärde aber auch der Entschluß, die Sache hier ins reine zu bringen, und der junge Arbeiter blieb neben der Tür an die Wand gelehnt stehen, das Gesicht dem entschwindenden Tageslicht zugekehrt. Es war ein hageres Gesicht, scharf trotz der Jugend und mit hartem Zuge um den Mund.
»Erzähle!« bat Bremer leise.
Martin Eickemeyers Blick streifte ihn flüchtig und ging dann zum Fenster zurück, dahinter ein mattrötlicher Schimmer jetzt über den grauen Himmel sich breitete. Er schwieg noch eine Weile, dann sagte er langsam:
»Weshalb kamen Sie nicht – damals? Vielleicht wäre alles anders geworden bei uns.«
Damals –
»Ich war krank«, sagte Heinrich Bremer; er wußte es nun.
Der andere seufzte müde.
»Vielleicht wäre alles anders geworden –« wiederholte er nachdenklich. »Besser? Doch nein, noch bereue ich nichts. Wie es kam, daß ich unter die Hand- statt unter die Kopfarbeiter ging? Es taten es manche meiner Altersgenossen – es war die Revolution –«
»Es war versetzter Idealismus.«
»Nennen Sie's, wie Sie wollen. Es war doch etwas Gesundes darin. Ich habe in diesen Jahren viel gelernt. Mehr als auf der Universität. Reales Wissen vom Leben habe ich gewonnen –«
»Und wie denkst du dir deine Zukunft?«
»Ein ungelernter Gelegenheitsarbeiter hat keine Zukunft. Ich arbeite. Gegenwart allein ist Leben. Vergangenheit – Zukunft sind nur Worte.«
»Und wenn du heute versagst?«
Die Dämmerung hatte sich nun schon so weit verdichtet, daß Bremer den Zug von Angst nicht sah, der über das junge Gesicht ging. Martins Stimme aber antwortete in ruhigem Gleichmut:
»Ich habe immer viel Sport getrieben, ich bin gut in Form.«
»Sportliches Training genügt nicht, hier wird robuste Kraft verlangt«, entgegnete Bremer bestimmt, und da hierauf nur ein totes Schweigen folgte, fragte er unruhig: »Du sagtest vorhin, es hätte alles anders kommen können – was denn hätte ich dir zu nutzen vermocht – damals?«
Wieder folgte zunächst nur ein Schweigen, aber dies war nicht tot, das fühlte Heinrich Bremer, und er wartete geduldig.
»Deutsch sein heißt, eine Arbeit um ihrer selbst willen tun«, begann Martin Eickemeyer endlich zögernd. Doch da Bremer eine unwillkürliche Bewegung machte, unterbrach er sich schon wieder: »Lachen Sie?« fragte er mißtrauisch.
»Ich lachte nicht – nicht über dich jedenfalls«, antwortete Bremer begütigend, »vielleicht über das Wort, das mir ans Herz schlug als eine Sinnlosigkeit für uns Deutsche von heute. Ich tue meine Arbeit hier nicht um ihrer selbst willen. Ich glaube nicht, wie Pastor Eschels tut, an den alleinseligmachenden Damm –«
»Meines Vaters Werk – er wird eine Kulturtat ersten Ranges!«
»Zunächst wird er die Eigenkultur des Sylter Volkes vernichten, so sehe ich ihn an«, sagte Heinrich Bremer kalt. »Doch selbst wenn die Sylter sich im letzten Augenblick noch zu Herren der Situation machten, selbst wenn der Damm nötig, wenn er lebensnotwendig wäre für Sylt und auch für Deutschland – ich müßte mich selbst belügen, wollte ich behaupten, daß ich ihn deshalb baute. Der Damm braucht mich nicht. Versage ich, stehen zehn hinter mir, die meine Arbeit tun können. Hinter jedem Werkführer stehen Hunderte. Hinter dir Hunderttausende. Deutschland hat mehr Arbeitskräfte, als es verwenden kann. Deutsch sein heißt mir heutzutage: die Arbeit an mich zu reißen, die ich brauche!«
Er nahm die Mütze ab und trocknete mit dem Taschentuch die Stirn, die sich ihm feuchtete.
»Gegenwart allein ist Leben. Hier stimme ich mit dir überein. Nur wer den Augenblick erfaßt und aus seiner Kraft lebt, wird dies Dasein meistern. Tust du das aber wirklich in dieser Arbeit bei der Firma Fritz Hurtig Söhne? Laß mich hier in dieser Dunkelheit einmal das Wort aussprechen, das sonst keiner von uns gern unnützlich führt: Gott! Wir haben uns nicht selbst geschaffen. Unsere Geburt ist nicht unsere Willenstat. Der Gott in uns suchte seinen Körper, seine körperliche Umgebung. Wer sind wir, daß wir ihm widerstehen dürften? Dir und mir gab unsere Geburt den Verstand und die Möglichkeit, ihn weiterzubilden. Schenkte uns die Gabe, durch geistige Arbeit unser täglich Brot zu verdienen – ist diese Gabe nicht zugleich auch eine Aufgabe?«
Martin Eickemeyer ließ seinen Kopf auf die Brust sinken, als träfen ihn Bremers Worte. Aber er antwortete nicht. Bremer suchte seine Hand zu fassen:
»Kehre jetzt noch um –« doch Martins Hand entzog sich ihm, wenn auch mit leichtem, fast unmerklichem Druck. Da stand Heinrich Bremer schwerfällig auf, tappte sich durch den dunklen Flur und zum Hause hinaus –