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Wenn Lehrer Abrumeit als Landfremder in Morsum heimisch werden und sich einen ganz bestimmten Einfluß sichern wollte, dann konnte er in Wahrheit nichts Klügeres tun, als hier »das Friesentum hochzuhalten«. Er tat es aber nicht nur aus Ehrgeiz, sondern ihm lag die ostpreußische Treue wirklich im Blut, und er fand unter denen, die Pastor Eschels bei sich die Morsumesen nannte, die besten Familien des Dorfes. Holm-Peters war ihr Haupt, kein Zweifel, wenn er auch längst nicht mehr als Gemeindevorsteher herrschte. Aber er war dennoch durch seine Persönlichkeit allein stärker als Meinert Claasen, der sich ihm in mancher Hinsicht auch unterwarf. Seine Frau war eine Base der Claasens; seine Söhne hatten gut geheiratet; wenn seine Tochter den Lehrer heiraten würde, konnte er auch damit zufrieden sein, denn der Lehrer stand im besten Ansehen. War Holm-Peters auch nicht so lebhaften Geistes wie die Claasens, so desto stärkeren Willens und wohl der Mann danach, seine Anhänger auch nach seinem Sturz noch bei sich zu halten.
Es gehörte aber auch Pastor Eschels eigene Schwester, Lene Volquart Claasen, zu den Morsumesen. Ihr Mann war mit kluger Entschiedenheit sogleich nach dem Kriege als Führer der Jüngeren aufgetreten und hatte dadurch alle Heimkehrenden für sich gewonnen. Seine Frau aber hatte seine Überlegenheit stets stillschweigend anerkannt, und erst nach seinem Tode trat nunmehr ihre eigene Prägung klarer hervor, und sie war es, die nun dem großen Hauswesen vorstand. Es lebten im Hause Volquart Claasens auch heute noch seine sämtlichen Kinder und Enkel unter einem Dach, bot das Haus doch Raum genug, daß jede Familie für sich wohnen konnte.
Die Söhne hatten im Kriege mancherlei durchgemacht. Ihre Frauen stammten aus Familien, die sehr verschiedene Wege gingen. Die älteste Tochter, stets kränklich, war nie zum Heiraten gekommen; die zweite früh verwitwet in das Elternhaus zurückgekehrt; die jüngste hatte sich durch ihr eigentümliches Wesen, ihre scheinbar kalte und schroffe Art selbst jede Heiratsaussicht verdorben. Doch, wenn also auch jeder in diesem Hause sein eigenes Schicksal, sein eigenes Erleben still in sich trug – nicht einer fühlte sich als Einzelwesen, abgesondert oder gar im Widerstreit gegen die andern, desto stärker jeder sich als Glied des Ganzen. In diesem, wie im Hause des Holm-Peters und der besten Familien des Dorfes überhaupt ging alles nach altem, vielleicht schon sehr altem Brauch und Regel. Jedes Neue, das zuerst durch die verwitwete Tochter, danach durch die Schwiegertöchter ins Haus kam, wurde sogleich von Frau Lene organisch dem Ganzen, dem Alten eingegliedert. Es gehörte viel feiner Takt, viel Vorsicht und Umsicht dazu, alle zu vereinen, ohne auch nur einen zu beengen. Darin jedoch war Peter Boy Eschels Schwester Meisterin. Sie hatte auch ihrem Bruder und seiner Tochter sogleich nach ihrer Ankunft in ihrem kleinen Staatswesen eine ganz bestimmte Position gegeben. Sie waren ihre nächsten Blutsverwandten, und doch empfand Gondelina deutlich, daß sie vor Kindern und Enkeln zugleich auch den »Herrn Pastor und seine Frau« darstellten. Dienstboten gab es nicht außer einem alten Knecht, der die schwerste Feldarbeit verrichtete; alles andere besorgten Töchter und Schwiegertöchter; zu kleineren Hilfeleistungen wurden auch die Enkel schon herangezogen. Geik und Rasmus gingen zum Dammbau; Haus- und Landarbeiten liefen auch ohne die Männer in den ausgetretenen Gleisen.
Gondelina fühlte sich wohl bei den Verwandten. Daß sie sich heimisch gefühlt hätte, dazu fehlte noch viel. Sie sah dem stillen Kommen und Gehen der jüngeren Frauen mit heimlicher Freude zu. Sie selbst bewegte sich mit Vorsicht und stieß doch immer wieder leicht an. Wohl spürte sie die alte Sitte, die hinter jeder einzelnen Handlung stand. Jeder Stuhl im Hause hatte einen bestimmten Platz, jede Handreichung – und war sie in sich auch noch so geringfügig – einen bestimmten Sinn. Aber die Landfremde konnte ihn nicht ergründen, so gern sie auch tiefer eingedrungen wäre.
Bis sie endlich dahinterkam, daß die Urgründe solcher Gebräuche niemandem mehr bekannt waren. »Das war immer so« – »das haben wir immer so gehabt«, mehr wußten die Morsumerinnen selbst nicht.