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Am folgenden Sonntag, dem letzten im August, saß Bremer nachmittags in seinem Zimmer bei Cäcilie Hansen, der Dorfhexe. Sie hatte ihm soeben das Kaffeegeschirr abgeräumt und ihm dabei mitgeteilt, daß sie über acht Tage nun schon im Besitz ihres Fünfzigdollarscheines sein würde. »Möge er ihr gestohlen werden!« dachte Heinrich Bremer trotz der sonntäglichen Feierstimmung, aber er wußte selbst nicht, wer die dazu nötige Dummheit aufbringen sollte, denn jedermann in Morsum wußte, daß Cäcilie Hansens Fünfzigdollarschein der einzige seiner Art im Dorf war; und so wandte er sich christlicheren Gedanken zu.
Er saß am Fenster, hatte alle Schreibereien beiseite gekramt und das kleine griechische Testament vorgenommen, das ihn in den Krieg begleitet hatte und von dem er sich seitdem nicht mehr trennte. Gedankenlos schlug er es dort auf, wo es von selbst schon sich aufblätterte, und die nüchterne Klarheit des Römerbriefes lenkte ihn von der allzu nahen Gegenwart der Hexe wohltuend ab. »Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung entgegen –«
Da wurde ihm Max Milian Meiners gemeldet. Bremer sah auf den ersten Blick, daß der Mann erregt war, und wappnete sich mit Geduld, denn in der Erregung fand Meiners schwerer noch als sonst die rechten Worte.
»Was ist?«
Meiners setzte zunächst vergebens an, dann, da er Bremers Geduld spürte, wurde er selbst auch ruhiger, und kündete dem Baumeister an, daß er und die andern Sylter am Montagmorgen nach dem Festlande hinüberstaken wollten, um die Woche über am dortigen Damm zu arbeiten.
»... nur nicht mehr auf Barthels Kuhfenne.«
Bremer wollte auffahren, aber sein Blick fiel auf das Buch neben seiner Hand – »Einer komme dem andern mit Ehrerbietung entgegen« –, er bezwang sich und fragte ruhig nach dem Grunde.
»Wir trauen dem Wetter nicht.«
»Die andern Sylter haben im vorigen Herbst bei schlechterem Wetter und höheren Wasserständen noch im Watt gearbeitet.«
»Das war normales Herbstwetter. Jetzt aber ist es nicht normal. Wir alle haben so etwas noch nicht erlebt. Gewitter sind gefährlich, denn sie sind unberechenbar.«
Heinrich Bremer schwieg. Der Mann sprach nicht unehrerbietig, und doch empfand Bremer einen starken Widerstand des Willens – stärker als er ihn je bei Rasmus Claasen empfunden. Rasmus Claasen hätte er vielleicht jetzt besiegen können –
»Weshalb eigentlich wählten Ihre Genossen Sie zum Arbeiterrat?« fragte er aus dieser Empfindung heraus unwillkürlich, und da Meiners ihn erstaunt ansah, fügte er hinzu: »Die beiden Claasen zum Beispiel waren doch schon so viel länger beim Dammbau beschäftigt.«
Meiners' Blick wich ab und ging über den skizzenhaft gezeichneten Plan des projektierten Bahndammes, den Heinrich Bremer sich mit Reißnägeln an die Wand geheftet hatte – mehr um die grellbunte Tapete etwas zu verdecken, als um sein Arbeitsfeld auch hier vor Augen zu haben.
»Weil –«, sagte Meiners, und wieder mußte er zweimal ansetzen, ehe das Wort verständlich wurde: »Weil ich der einzige von uns bin, der wirklich Mut zum Werk hat.«
»Mut hat Rasmus Claasen doch auch. Er ist der erste draußen, der letzte, der zurückgeht.«
»Ich meine nicht das Wasser, Herr Baumeister.«
Aber Bremer war zu müde, weiterzuforschen, seine Gedanken gingen wieder zu seinem Werk zurück.
»Je schlechter das Wetter, desto notwendiger ist es doch, den Damm auf Barthels Kuhfenne noch nach Möglichkeit zu festigen.«
»Ach, darauf kommt es doch nicht mehr an.«
»Wie meinen Sie das?«
Die Schultern des Mannes bewegten sich unbehaglich unter dem schwarzen Sonntagsrock. »Es ist jetzt eben gefährlich –«
»Wenn Sie nicht mehr im Watt arbeiten wollen –«
»Wohl wollen wir im Watt arbeiten«, unterbrach ihn Meiners hastig. »Nur nicht mehr auf Barthels Kuhfenne. Östlich vom Osterley gern; da hat man doch die Verbindung mit dem festen Lande.«
»Wenn Sie nicht mehr auf Barthels Kuhfenne arbeiten wollen«, nahm Bremer seinen angesponnenen Satz wieder auf – »wird auch keine andere Kolonne dort mehr zu halten sein.« Doch da Meiners hierauf überhaupt nicht antwortete, sondern nur von einem Fuß auf den andern trat, als wäre jetzt genug geredet und er wünschte das Gespräch zu beenden, fuhr Bremer nach kurzem Überlegen fort: »So wird es nötig sein, daß ich auch wieder mit hinüberkomme. Können Sie mich morgen mitnehmen? Wann fahren Sie ab?«
»Beim ersten Tageslicht, sonst kommen wir vor Niedrigwasser nicht mehr hinüber.«
»Also um vier Uhr etwa am Boot. Auf Wiedersehen, Meiners.«
Der Mann schob sich zögernd zur Tür hinaus, und Heinrich Bremer blieb bewegungslos auf seinem Platze sitzen. Ein krankes Gefühl der Mutlosigkeit war in ihm. Wenn die Sylter ihn im Stich ließen, was sollte dann aus dem Teil des Dammes werden, der ohne Verbindung mit festem Lande auf Barthels Kuhfenne lag? Blieb er so über Winter, dann würde jede Flut von seinen ungeschützten Enden abspülen, bis nichts mehr übrigbliebe.
»Ich hätte sie zwingen müssen – ich hätte sie zwingen müssen –«, dachte er, zornig gegen sich selbst. Aber er wußte ja, daß er überhaupt keine andere Handhabe besaß als Arbeitsentlassung. Und die versagte den Syltern gegenüber. Sie waren Herren auf ihrem kleinen Besitz, und wenn er sie gehen ließ, trug sein Werk den Schaden davon, sie aber waren nur um etliche Packen dieser schlechten Geldscheine ärmer.
Sein Blick fiel wieder auf das kleine Buch, und er las weiter:
»Haltet euch nicht selbst für klug. Ist es möglich, so viel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden.«