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So lächerlich es klingen mag – die Gesellschaft der Hexe bedrückte Bremer. Ihn bedrückte auch die schweigsame Art der Sylter, die doch bei dem Werk im Watt seine besten Arbeiter waren. Sie gingen hinaus, sobald nur das Wasser nicht mehr höher stand als der obere Rand ihrer hohen Seestiefel, und sie kamen erst zurück wenn alle andern längst das Trockne gesucht hatten. Sie arbeiteten stetig und unverdrossen, und doch wie Leute, die eben nur um des Geldes willen eine aussichtslose Sache übernehmen. Er merkte keinen Glauben an sein Werk bei ihnen, kein Vertrauen – am allerwenigsten den Wunsch, es vollendet zu sehen. Wenn er abends den Fortgang des Werkes lobte, schwiegen sie, oder, was schlimmer noch war, antworteten ihm mit dem alten Sylter Sprichwort:
»Injs-Rail en Miarens-Rail kum aaft ek aurjen« – er brauchte nicht mehr um eine Übersetzung zu bitten, er wußte selbst schon: Abend- und Morgennebel kommen oft nicht überein. Die Nachttiden liefen oft höher auf als der Tidehub des Tages, da spülte die Flut zwischen zwei Arbeitsschichten ihm oft mehr als die Hälfte des tagsüber Gewonnenen wieder aus den Buschdämmen. Und als um die Sommermitte ein paar stille Tage kamen, ohne Gewitter, ohne westliche Winde, da die steigende Flut kaum bis zum Baugelände überhaupt vordrang und der Damm auf Barthels Kuhfenne die schönsten Fortschritte machte – und Bremer nicht lassen konnte, Rasmus Claasen zu fragen:
»Zweifeln Sie nun noch immer daran, daß hier die Eisenbahnen fahren werden?«, da antwortete der Morsumer gleichgültig:
»Ehe wir noch nicht einen Sturm erlebten, Herr Baumeister, kann man darüber nichts sagen.«
Und über diese Antwort ärgerte Bremer sich noch mehr als über das sonst übliche Schweigen. Keinen Sturm erlebt – er meinte, abgesehen von dieser letzten Woche, in diesem Sommer noch nicht einen windstillen Tag erlebt zu haben. Immer sauste und heulte es über der Menschen Köpfe. Jeder Tag hatte sein Gewitter gebracht, und hinter jeder Gewitterwolke steckte, wie die Sylter sagten, eine Mütze voll Wind. Freilich hatte noch nicht einer von ihnen für diese Luftbewegungen das Wort »Sturm« in den Mund genommen, aber die Flut war doch tagtäglich so hoch gestiegen, daß er selten innehalten konnte, worauf er doch seinen Arbeitsplan aufbaute: während der ganzen Hohlebbe, nämlich von drei Stunden vor, bis drei Stunden nach Niedrigwasser, im Watt zu arbeiten. Jetzt erst war dies möglich – und wie prächtig wuchs der Damm! Der feinste Sand sank vorschriftsmäßig innerhalb der Buschdämme zu Boden und auch vom Klei setzte sich mehr, als er nach den Erfahrungen des Frühsommers hoffen durfte, zwischen den Faschinenwänden ab. Wenn dies Wetter nur bis zum Herbst hin so bliebe –
– bald aber stach die Sonne wieder, bald zog sich wieder Wasserdunst über den Himmel – die Gewitter kehrten zurück und mit ihnen die hohen Wasserstände.
Gleichzeitig aber, als ob sie in geheimem Zusammenhange ständen, fingen die Auslandskurse wieder an zu klettern. Das war allerdings nur eine optische Täuschung, in Wirklichkeit war es die deutsche Mark, die weiter ins Bodenlose sank, nachdem die Londoner Konferenz resultatlos verlaufen und das von Deutschland erbetene Moratorium von seinen Gläubigern abgelehnt worden war. Aber für Bremer blieben die Folgen die gleichen: er mußte allnächtlich über Lohnlisten, über Wasserzuschlägen und über Prämien für schwierige und gefährliche Arbeiten grübeln – wozu noch die Not kam, daß er zwischen schwierigen und gefährlichen Arbeiten nicht immer sachgemäß zu unterscheiden verstand; ihm war das Wasser unter allen Umständen ein feindliches Element.
Die kleinen Westerländer Banken konnten ihm das Geld nicht mehr liefern, das er für seinen Lohntag brauchte. Er mußte sich die Millionen- und Milliardenscheine in Postpaketen kommen lassen. Er mußte endlich seinen Buchhalter nach Hamburg schicken, von dort die nötigen Papiermassen im Handkoffer einzuholen – und wenn er am gleichen Abend noch seinen Arbeitern die Gelder auszahlte, hatte ein neuer Kursbericht die Werte schon wieder verschoben. Es kam zu Ärger mit den Kantinenwirten, es kam zu Schlägereien unter den Arbeitern selbst, nicht unter den Morsumern. »Wenn die Krippe leer ist, beißen sich die Hengste«, sagten sie und zogen vor, sich selbst zu bewirtschaften. Sie hatten alle tüchtige Hausfrauen daheim, und wenn die Frau gut haushält, wachsen bekanntlich die Schinken am Balken. Sie verachteten die Festländer ein wenig, am meisten die städtischen Arbeiter; es gab keine Gemeinschaft zwischen ihnen.
Zu alledem kam für Bremer die Unsicherheit der eigenen Lage. Vorm Jahr hatte die Reichsbahn ihre Kriegsschäden soweit überwunden, daß sie wieder an aufbauende Arbeit hätte denken können. Da kam als Folge des Versailler Vertrages die Abgabe der elsaß-lothringischen Bahnen mit allem Material – es kam die Besetzung des Ruhrgebietes mit ihren, für die Reichsbahn besonders harten Folgen. Seitdem schwebten Verhandlungen über die Umwandlung der Staatsbahnen in ein kaufmännisches Unternehmen. Bremer suchte sich darüber klarzuwerden, in welcher Art seine eigene Stellung sich dadurch ändern mußte. Aber er hatte kein Geld, sich selbst die Fachzeitschriften zu halten; hatte auch keine Zeit, etwa Geliehenes gründlich durchzulesen. Einmal fuhr er nach Flensburg hinüber, als dort ein Vortrag über diese Fragen angekündigt wurde. Doch der Vortragende bewies nur, daß diese ganze Umwandlung einfach unerlaubt sein würde und deshalb gar nicht stattfinden könnte – aber Heinrich Bremer war nun schon so weit zum Sylter geworden, daß er bei der Heimfahrt nur ernüchtert dachte: »– und wenn sie diesen Herrn nicht erst fragen, sondern über unsere Köpfe hinweg handeln? Wie sollten wir uns dann einstellen? Das hätte ich lieber erfahren! Was wird dann aus mir und meiner Arbeit? Wird eine Bahngesellschaft, die rein nur vom kaufmännischen Standpunkt aus den Damm beurteilt, ihn noch bauen wollen? – bauen können –?«