Georg Bötticher
Alfanzereien
Georg Bötticher

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Unverbesserlich.

Mein Freund, der Schriftsteller Dr. Brandmüller, ist der reizendste Kerl von der Welt! Keiner versteht so amüsant über Tausenderlei zu plaudern und eine Gesellschaft ununterbrochen zu unterhalten. Alles will ihm infolgedessen wohl, überall ist er ein hocherwünschter Gast und sein Leben würde eine ewige Triumphreise sein – buchstäblich, denn er ist meistens unterwegs – wenn es nicht einen störenden Umstand gäbe: seine Zerstreutheit. Diese ist, gleich seinem Unterhaltungsgabe, grenzenlos.

Ich will absehen von den tausendfältigen Verwechslungen, die er in seiner Eigenschaft als Redakteur fortgesetzt mit Dichtern, Verlegern und Manuskripten vorzunehmen pflegt, absehen von der Thatsache, daß er Postkarten gern an sich selber adressiert oder mit dem Namen des Adressaten unterzeichnet, absehen auch von dem fortwährenden Stock-, Schirm-, Hut- und Rockvertauschen, das längst chronisch bei ihm geworden ist. Aber auch dann noch bleibt eine Fülle merkwürdiger Kundgebungen seiner momentanen Geistesabwesenheit übrig, die ihn in hunderterlei Unannehmlichkeiten verwickelt, seine Freunde beständig in Atem erhält und ihnen die Nachsendung von stehen gebliebenen Utensilien nach den Besuchen dieses guten Freundes zu einer liebgewordenen Gewohnheit gemacht hat.

Nach Legionen zählen die Fälle, daß er auf der Reise sitzen geblieben, in das Coupé eines falschen Zuges eingestiegen, gar nicht am Bestimmungsorte oder doch einige Tage später angelangt ist, daß er Vereine, bei denen er sich zum Vortrag angekündigt, eine Woche vergeblich hat warten lassen und in andere Vereine irrtümlich und unerwartet mit einem unverlangten Vortrag wie eine Bombe eingefallen ist!

Wie oft hat ihn das plötzliche Fehlen wichtiger Reiseeffekten: seines Fracks, Cylinderhuts, reiner Wäsche oder gar notwendigster Beinbekleidungsstücke an Sonntagen, wo die Läden geschlossen, in tödliche Verlegenheit gesetzt! Es ist wahr, daß er in solchen Fällen sehr bald seine Kaltblütigkeit zurückgewinnt und das Fehlende ungeniert von einem Kellner oder dem ersten besten Fremden zu entleihen pflegt – der dann sehen mag, wie er – bei dem besten, redlichsten Willen des Entleihers – wieder zu dem Seinigen kommt; denn es ist zehn gegen eins zu wetten, daß Brandmüller solch entliehene Gegenstände vertauscht, liegen läßt, mitnimmt oder Unbeteiligten zustellt, selten aber, ganz selten nur, dem Eigentümer wieder einhändigt.

Wenn er im Stammlokal unseres Freundeskreises erscheint – sein Erscheinen ist meist so plötzlich wie sein Verschwinden – so pflegt er fast regelmäßig einen Stock oder Schirm in die Höhe zu halten und auszurufen: »Hat einer von euch Eigentumsrechte an diesen Gegenstand? Nicht? Dann nehme ich an, daß er X. gehört.« (Der Name dessen, den er zuletzt besucht hat.) Eine sehr leichtsinnige Annahme, die sich noch fast in keinem Falle als richtig erwiesen hat. Denn Brandmüller pflegt Stöcke und Schirme, ja selbst Hüte und Überzieher drei-, viermal zu vertauschen und kann sehr wohl den fremden Stock oder Schirm bereits zu X. mitgebracht haben.

Freund Brandmüller wechselt und tauscht aber auch ebenso häufig wie diese Gebrauchsgegenstände seine Entschlüsse und Absichten. Meldet er sich bei einem von uns Freunden zum Besuch für einen bestimmten Tag an, so kann man schwören, daß vor dem bezeichneten Tage noch eine Anzahl Postkarten, Briefe und Depeschen eintreffen, stets eine neue Abänderung des Besuchstermins verkündend. Man könnte daraufhin die erstmalige Anzeige seiner Ankunft als eine sichere Garantie für sein Nichteintreffen an diesem Tage ansehen. Aber auch dies täuscht. Denn die Erfahrung hat uns belehrt, daß dieser seltene Mensch nach drei-, viermaliger Änderung seines Besuchstermins schließlich meist doch noch zu der anfangs gemeldeten Stunde einzutreffen pflegt, somit also – wie man begreift – unter allen Umständen Überraschungen erzielt.

Dieser Freund nun besuchte mich neulich. Ich übergehe die Vorarbeiten, die uns seine eben geschilderte Ankündigungsweise verursachte und konstatiere nur, daß meine Frau, nachdem sie zwei Tage ein splendides Mittagsmahl bereitgehalten, am Abend des dritten, apathisch und an seinem Kommen verzweifelnd, unser besonders frugales Abendbrot anfing – als er urplötzlich eintraf! Redefreudig und zapplig wie immer! Ein Dienstmann trug ihm ein Köfferchen nach.

»Ein Koffer fehlt!« rief er mir zu, meinen Blick nach dem einzigen Gepäckstück auffangend. »Lieber Freund, ein Koffer fehlt leicht. Und in diesem Falle bin ich vollends ohne Sorge. Der Koffer ist noch immer wieder gekommen! Ich glaube, sie kennen ihn schon auf der Eisenbahn. – Nun wie geht's euch? Was macht ihr? Du – deine verehrte Gattin, die lieben Kinder? Alles wohl? Nun, das freut mich! Ich kann die Kinder doch noch sehen? Herrlich! Ist Hermann recht gewachsen? Und wie macht sich Emilie?«

Überflüssig, dem Leser zu versichern, daß ich weder einen »Hermann« noch eine »Emilie« habe. Die Eigenart meines Freundes läßt es eben nicht zu, Namen jemals richtig anzuwenden.

»Freunde! Es ist famos bei euch! Aber erlaubt, daß ich mich dieser Gummischuhe entledige. Sie haben mich den ganzen Weg durch ihre unnatürliche Größe geärgert. Vertauscht natürlich! So – Gott sei Dank – die wär' ich los! Wo mögen die meinen stehn? Doch dies sind Bagatellen. – Nein, wie ich mich freue, bei euch zu sein! Und morgen all die lieben Freunde zu begrüßen! Ihnen, werte Freundin, hab' ich was mitgebracht – eine Kleinigkeit – nicht der Rede wert! Aber wo hab' ich's doch? Im Koffer? Nein. In den Taschen? Auch nicht. Sollte ich's liegen gelassen haben? So was kommt vor. Halt: überlegen wir! – Herrgott – da fällt mir was ein . . . Ja, es ist richtig . . . es stimmt! O, es ist himmelschreiend . . . die Geschichte muß ich euch erzählen. Also, liebe Freundin, es war ein Fächer, was ich Ihnen zugedacht hatte. Sie kennen die hübschen, leichten, japanischen Blumenfächer? Ich kaufe so ein Ding, um es Ihnen mitzubringen – es wird eingepackt und mit einem Halter versehen mir eingehändigt –, o jetzt besinne ich mich auf jedes Detail! Ich trage das Paket an dem Halter nach Hause. Wie ich zu Hause ankomme, macht mich meine Frau darauf aufmerksam, daß ich einen Halter in der rechten Hand halte, so ein kleines zierliches Holzhalterchen, wissen Sie, liebe Freundin, wie es die Verkäufer an die Pakete zu befestigen pflegen, Aber ein Paket war nicht an meinem Halter. ›Das hast du verloren,‹ sagt meine Frau erschrocken. ›Was war's denn? So sprich doch!‹ Seht ihr, liebe Freunde, da wußte ich das beim besten Willen nicht mehr! Ich besann und besann mich, ich zermarterte mir den Kopf – und ich bekam es nicht heraus! Meine Frau war außer sich – sie vermutete ein Präsent für sich. Sie riet auf alles Mögliche, nannte alle erdenklichen Dinge – umsonst! Wir bekamen's nicht heraus. Schließlich einigten wir uns in der Annahme, daß ich einem Freunde wohl ein Paket gehalten und den Henkel in der Hand behalten habe. Das war gar nicht unglaubhaft. Aber jetzt weiß ich's: der Fächer war's, Ihr Fächer, liebe Freundin, ein reizender, allerliebster Fächer – jetzt darf ich's sagen, denn Sie werden ihn nie zu sehen kriegen. Es ist wenigstens sehr unwahrscheinlich. – Doch, ihr Guten, ihr wollt schlafen gehen – keine Widerrede! – und ich selbst bin, offen gestanden, furchtbar müde.«

Andern Morgens am Frühstückstisch aber war Freund Brandmüller wieder ganz Elasticität! Schon um acht Uhr zog er auf »Besuchsreisen« aus. Bevor er ging, hatte er uns mit den stärksten Beteuerungen zugesichert, daß er um ein Uhr zum Mittagessen wieder da sein werde. Dennoch wollten uns trübe Ahnungen über den Wert dieser Zusicherungen nicht verlassen. Sie sollten furchtbar gerechtfertigt werden! Als wir gegen drei Uhr den fast ausgetrockneten Kapaun endlich allein zu verzehren beschlossen – meine Frau vor Unwillen ganz erregt – klingelte es und ein Dienstmann überbrachte eine Visitenkarte des unzuverlässigsten der Freunde. Auf dieser Karte, die nicht kouvertiert war, fanden sich die mit Bleistift gekritzelten Worte: Sitze auf Polizeiwache – tolles Mißverständnis – gleich kommen wegen Legitimation.

Eine Viertelstunde darauf stand ich dem aufgeregten Brandmüller im Wachtlokale gegenüber. Es bedurfte weniger Worte zu dem obersten Beamten, der mich persönlich kannte, und des Freundes Freilassung war bewirkt. Wir bestiegen eine Droschke und fuhren zu mir. Unterwegs erzählte er.

Als er uns früh verlassen, hatte er zunächst zweien seiner Verleger und dann drei, vier Freunden Besuche abgestattet und die Herren sämtlich für Mittag zwölf Uhr ins Café Karl bestellt. Das Schleppen seiner Gummischuhe – »ich muß sie heute früh wieder vertauscht haben, sie waren noch größer geworden« – hatten ihn zum Eintritt in ein Restaurant genötigt, wo er die Gummischuhe zwar los wurde, dagegen einen Stock zubekam, den er unterwegs mit Verwunderung als einen total fremden erkannte, was durch die Inschrift eines silbernen Schildchens am Griff: »Kurt Heller« unzweifelhaft ward. Mit diesem Stocke war er schließlich – vermutlich lange nach der verabredeten Stunde ins Café Karl gekommen, wo er die Freunde und Verleger glücklich antraf und bald in ein höchst interessantes Gespräch verwickelt ward, dessen Kosten er, wie ich nicht zweifle, allein getragen haben wird.

Ganz plötzlich sei er dann – er gewahrte nämlich, daß die Uhr bereits die zweite Stunde zeigte – aufgebrochen, nach flüchtigstem Abschied aus dem Lokale gestürzt und draußen auf die Pferdebahn gesprungen – wobei er im Vorbeifahren noch die Freunde im Café hutschwenkend begrüßt habe und von ihnen jubelnd wieder gegrüßt worden sei. Dann aber sei eine merkwürdige Geschichte passiert.

Ich muß hier einschalten, was durch spätere Nachforschungen festgestellt worden ist, nämlich, daß die im Café zurückbleibenden Freunde mit Erstaunen gewahrten, wie der auf dem Perron des Pferdebahnwagens stehende Freund grüßend einen Hut schwenkte, während er einen zweiten auf dem – Kopfe trug! Lachend hatten sie ihm durch Gesten dies klar zu machen versucht – anscheinend aber ohne Erfolg, denn solange der Pferdebahnwagen in Sicht blieb, der gerade ihrem Fenster gegenüber die lange Hauptstraße hinabfuhr, konnten sie die fortgesetzten Hutschwenkungen des doppelbehuteten Freundes wahrnehmen.

Doch zurück zu Brandmüllers Bericht. Er war kaum fünf Minuten gefahren, als er inne ward, daß er sich immer weiter von der Gegend meiner Wohnung entfernte – also sich in einem falschen Pferdebahnwagen befand. Herabspringen und in eine vorbeifahrende leere Droschke steigen, war das Werk einer Sekunde. Aber knapp, daß die Droschke sich in Gang gesetzt hatte, als eine befehlende Stimme ihm dicht ans Ohr schallte: »Sie halten, Kutscher!« Im gleichen Moment fast fielen ein Schutzmann und ein feingekleideter Herr dem Pferd in die Zügel. Die Droschke hielt. Brandmüller war aufgesprungen, aufs höchste erstaunt und mehr noch entrüstet über diesen Eingriff, der ihn mit Zeitverlust bedrohte. Aber im Nu hatten der Schutzmann und der Feingekleidete neben ihm Platz genommen, ihn auf den Sitz zurückgedrückt, worauf ersterer dem Kutscher »Polizeiwache« zudonnerte. Der Kutscher hieb auf das Pferd und Brandmüller konnte erst in voller Fahrt seine Entrüstung und Forderung sofortiger Aufklärung über diese unerhörte Vergewaltigung hervorsprudeln. Der Schutzmann zeigte einen empörenden Gleichmut. Auf den Hut deutend, den Brandmüller noch immer in der Rechten hielt, frug er ironisch: »Darf ich mich erkundigen, wo Sie diesen Hut herhaben?« Brandmüller schäumte. »Was giebt Ihnen die Berechtigung, sich solche Witze zu erlauben?«

»Der Umstand, daß dieser Hut nicht der Ihrige, sondern der dieses Herrn ist. Ist es nicht so?« wandte er sich an den Feingekleideten, der in der That, wie Brandmüller erst jetzt bemerkte, keine Kopfbedeckung trug. »So ist es,« sagte dieser höflich. »Dies ist mein Hut, den der Herr soeben vom Hutständer im Café Karl entwendet hat.«

»Entwendet?« schrie Brandmüller auf. »Herr, Sie sind ein Unverschämter! Wissen Sie, mit wem Sie die Ehre haben. Dieser Hut – es ist wahr – es ist allerdings möglich, daß ich ihn irrtümlich – statt des meinen – genommen habe, ich glaube in der That – daß es nicht mein Hut ist – ja, ja, daß ich ihn vertauscht habe – –«

»So! – vertauscht? Statt des Ihrigen?« frug der Schutzmann hohnlächelnd. »Und was haben Sie da auf dem Kopfe, wenn ich fragen darf?«

Brandmüller versicherte mir hier, daß es der schrecklichste Moment seines Lebens gewesen sei, als er auf diese Frage hin nach dem Kopf gegriffen und – einen Hut! – einen zweiten Hut! – seinen Hut erfaßt habe! . . . »Es wirbelte mir im Gehirn. Ich konnte nur stammeln: Ein Versehen . . . wahrhaftig, ich hatte keine Ahnung . . . ein reines Versehen . . . ich habe mit dem Hut gegrüßt . . . ich bin der Dr. Brandmüller, als Schriftsteller einigermaßen bekannt . . .«

»Das kennen wir!« hatte der Schutzmann höhnisch gelacht. »So! also aus Versehen haben Sie zwei Hüte mitgenommen? Sehen Sie mal an! I, da darf ich wohl fragen, ob dieser Stock auch Ihr Eigentum ist?« Damit hatte der greuliche Kerl Brandmüllers Stock ergriffen. Brandmüller saß da wie vernichtet. Auf das silberne Schild des Stockgriffes starrend, stotterte er: »Nein . . . dieser Stock ist allerdings nicht der meinige . . . eine Verwechslung, heute früh . . . im Restaurant . . . meine Freunde können's bezeugen, daß mir dergleichen passiert . . . ich bitte, meine Freunde sogleich zitieren zu dürfen!«

»Den Spaß können Sie haben – sowie wir ankommen!« hatte der Entsetzliche mit rohem Gelächter gesagt.

»Und dann stand ich mit einmal im Wachtlokal vor den Beamten –,« schloß Brandmüller seinen Bericht. »Das übrige weißt du. Gott sei Lob, daß du gleich gekommen bist. Ein furchtbarer Zufall! Er soll mir aber eine Warnung sein . . . Da sind wir ja an deiner Wohnung, mein alter Freund. Und da ist deine liebe Gattin. Liebste, verehrteste Freundin, heute müssen Sie mir verzeihen, heute bin ich außer Schuld an der Verspätung – wie Ihnen der da bezeugen wird. Nicht wahr, Sie vergeben mir? Nun, Gott Lob! – Kinder, ich denke, es wird noch ein hübscher Abend. – Aber dieser freche Halunke: entwendet! Denkt euch doch: ich – einen Hut entwenden!«

* * *

Acht Tage nach diesem Erlebnis begegnete ich ganz zufällig Freund Brandmüller in Berlin, wo er seinen Wohnsitz hat. Ich kam an der Reichsbank vorüber, als er aus dem Portal derselben herausstürmte – denn gehen wie andere kann er nicht – und sich mit einem Jubelruf mir an die Brust warf. Er hielt einen Stab in der Rechten, an dem ich mit Bewunderung einen Zettel befestigt sah mit der Inschrift: Frisch gestrichen!!!

»Den hast du wohl da drin statt deines Stockes mitgenommen?«

»Sehr möglich,« rief er lachend ihn von sich schleudernd. »Mein alter, lieber Junge! Wie freue ich mich, dich so unverhofft zu treffen. Wir speisen doch zusammen? Nicht wahr? Doch halt: ich bin um vier Uhr eingeladen! Wieviel haben wir jetzt?«

»Sechs Uhr.«

»Dann ist es ohnehin zu spät. Komm, lieber Freund! Zu Dressel!« – Er ist eben unverbesserlich!


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