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Khartum, den 9. Februar 1929.
Meine Lieblingsbank auf dem Rasen des Zoologischen Gartens unter dem riesigen Baum steht etwas erhöht, so daß ich über die Gartenmauer hinweg die Straße sehen kann, die draußen am Ufer des Blauen Nils entlang geht. Dort vor dem Eingang zum Zoo steht eine große Negerin, der ein nacktes Baby seltsam auf ihrer Hüfte reitet; sie selbst ist mit Kupferringen bekleidet. Ein paar schwarze Jungen daneben, jeder auf seinem linken Bein, das rechte erhoben und gegen den linken Schenkel gestemmt. Sie blicken sehnsüchtig in den Zoo herein: der Eintritt kostet doch zwei Piaster! Ahnen die, was man ihnen anderswo zahlen würde, damit sie sich in einem Zoo öffentlich zeigten?
Jetzt gaffen sie: vier Gefangene gehen den Kai entlang, mit Ketten zwischen den Beinen; ein tiefschwarzer riesiger Polizist in Khaki, mit einer Art Pickelhaube aus Turbantuch, geht hinterdrein, – und sie tragen einen Angareb, ein sudanesisches Ruhebett, jeder trägt ein Bein des leichten Bettgestells, wahrscheinlich liegt er darauf, während sie arbeiten müssen.
Dieses höchst sudanesische Geräusch, das Kettenklirren, klingt in meine Meditation über den Mahdi hinein wie ein Kichern der nachträglichen Weltgeschichte: es klingt hinter Gordon drein, der hier in Khartum so feierlich alle Ketten für abgeschafft erklärt hat, und auch hinter dem Mahdi, diesem großen Kettenbrecher. Denn er war vor allem ein Revolutionär, trotz der religiösen Verbrämung. Gegen die Ketten hat er sich erhoben, gegen die Tyrannei des Staats, gegen die Reichen und Mächtigen.
Er endet, siegreich, von fanatischer Liebe umgeben, – als ein Herr von Sklaven, von einem großen Klirren von Ketten umgeben, Despot einer afrikanischen Despotie, wie nur irgendein König der Aschanti. – –
Das war der Mühe wert und des Bluts, und all des maßlos vergossenen Bluts!
*
Dieser Zoologische Garten in Khartum ist ein afrikanisches Paradies, wie es ein idealistischer Revolutionär, ein edler Reformer geträumt haben könnte: Gordon oder der junge Derwisch von Abba.
Ein Afrika, in dem alle friedfertig sanften Gazellen frei herumlaufen dürfen, während die Löwen und Hyänen streng eingesperrt sind, in Käfige.
Während ich da sitze, stelzen große Storchvögel vorbei, Abu Markûb mit seinem Löffelschnabel; auf dem Baum über mir ist ein großes Vogelkonzert, und die Gazellen versammeln sich neugierig um mich; eine will mir den Tabak aus der Tasche fressen. Es ist so warm, frei, friedlich; wie schön ist es in Afrika, wenn die Löwen im Käfig sind!
Da der Nachmittag weiter fortschreitet und die Dämmerung kommt und die Kühle, erscheint das bürgerliche Khartum hier im Garten: heute gibt es Militärkonzert und am Schluß venezianische Galabeleuchtung! Für die Gottsöbersten, die englische Colonial Society, ist vielleicht der Garten nicht fein genug, sie schicken nur ihre blonden und lächelnden Kinder an der Hand der Nurses. Aber Ezkenazi ist da und Melkonian, Kontomichalos und Stomatopulo, Vanian, Babani, Gennaoui, Simonini, Makropulo – und Mesdames natürlich, alles, was in Khartum und Omdurman in Gummiarabikum Handel treibt, in Baumwolle, Erdnüsse exportiert und Senna und Elfenbein, alles, was eine goldbraun gefärbte Haut hat, oder mehr grünlich, schöne träumende Augen und krause Haare; – griechische, koptische, armenische Händler und ihre Damen, die fast aus Paris sein könnten. – Die jüngeren Gentlemen tragen sich furchtbar englisch, nur daß man jetzt gegen Abend keinen Tropenhelm trägt, wenn man wirklich ein Engländer ist.– –
Und, oh, diese vielen bunten Melkonian- und Stomatopulo-Kinder, wie sie jetzt mit aufgerissenen Augen um den Musikpavillon stehen, da eben, in Scharlachröcken, die englische Militärkapelle zu stimmen beginnt!
Mama ruft, in allen Sprachen zugleich: »Ninon, ma chérie, don't spoil your frock, non sudiciarti, piccina!«
Rumtata, fängt die Musik an, Götterdämmerung! Auf einmal, wie durch ein Wunder, sind alle Gazellen des Gartens rund um den Musikpavillon, die zarten Dorcas-Gazellen, die Gazelle Ariel, die wie ein gehauchtes Reh ist, – und stecken ihre zierlichen Schnauzen direkt in die Blechinstrumente, in die Mündung des Bombardons. Immer ein Stomatopulo-Baby und eine Gazelle nebeneinander.
Rumtata, Richard Wagner, Götterdämmerung.
Auf dem großen, blühenden Baum fängt ein bunter Vogel zu schreien an, er muß alles, alles muß er jetzt überschreien, das ist sein Land hier, ist Afrika!
Eine Hyäne im Käfig lacht, grauenhaft. Die Gazellen schrecken ein wenig zusammen. Es wird plötzlich dunkel. Es ist sehr heiß. Ich schlage nach einem Moskito. In den Asten des Baumes leuchten die Glühlampen höchst venezianisch. Rumtata. Ein Neger bringt Limonade und schwarzen Kaffee, abessinischen. Ein fettes armenisches Mädel flirtet vernehmlich. Ich klappe mein Buch zu. Wenn jetzt jemand, denk ich bei mir, schreien wollte: »Der Mahdi kommt!« rennen sie alle. Die hat er gehaßt, die hat er gejagt. Die haben ihn noch jetzt in den Gliedern!
*
Das, bedenke ich, ist das schließliche Ende der Affäre Mahdi: die Ketten klirren weiter, und die Händler werden weiter fett.
Khartum, den 10. Februar 1929.
Oh, er ist jetzt zivilisiert, der Sudan des Mahdi! – Kitchener hat nach der Eroberung Khartum in Ruinen gefunden. Nachdem er über den Trümmern von Gordons Palast feierlich die britische Flagge gehißt hatte, ließ er eine ganz neue Großstadt bauen, nach einem Stadtplan, auf dem das Sternkreuzmuster des Union Jack immer wiederkehrt. Er tat das aus Patriotismus und auch, weil an so einem Kreuzungspunkt strahlenförmig verlaufender Straßen im Notfall Maschinengewehre aufgestellt werden können.
Jetzt, drei Jahrzehnte nachher, ist Khartum eine zu ausgedehnte, zu leere Stadt, deren Leben sich erst noch entwickeln soll. Fünf Kilometer Strandpromenade am Ufer des Blauen Nils, von Riesenbäumen beschattet. Hier liegen die offiziellen Gebäude: der Palast des Generalgouverneurs (General Gordons Palast, doch erneut und vergrößert), das Regierungsgebäude, zum Fürchten groß, mit hallenden Korridoren und Treppen; das Militärkommando, das Gordon College. Ein paar Denkmäler stehen herum: Gordon reitet auf seinem Kamel. Sonst nichts als beschattete Bungalows an zu geraden Straßen, die menschenleer sind. Das wirkliche Leben ist drüben in dem afrikanischen, riechenden, menschenwimmelnden Omdurman. In Khartum gibt es Tennis- und Poloklubs, man trinkt Tee im Grandhotel, treibt Kolonialklatsch, spricht von Urlaub und Beförderung. – – Eine schöne Stadt, nur ein bißchen leer, als wäre sie schon längst aus der Haut gefahren. Es ist so enorm viel Platz dafür noch viel mehr Zivilisation, noch mehr tennisspielende Misses, mehr Eisenbahnassistentengattinnen, Leutnantsfrauen, griechische Großhändler. – –
Aber in der Hotelhalle, in der die Misses aus dem Luxusexpreßzug Postkarten schreiben, und alte Herren erzählen, wie sie auf der neuerbauten vortrefflichen Straße von Rejaf am Weißen Nil nach Nairobi zu auteln gedenken, – (via Torit und Kitgum, via Wildnis, Sumpf Barbarei, aber das gibt es ja alles gar nicht mehr, könnte man denken) – in der gleichen zivilisierten und ventilierten Hotelhalle der Eisgetränke und Abendtänze, ist ein riesiger Diener, mit parallelen Schnitten in seinem schwarzen Bronzegesicht, ein Gigant in weißen Hüllen und roten Pantoffeln, mit einer grasgrünen Schärpe um den fast tierisch kraftvollen Leib, – dieser alte Mann hat die Tage des Mahdi gesehen. Er hat geweint, gerast, wenn auf dem Moscheeplatz der Mahdi predigte. Und er glaubt an den Mahdi noch heute, ich weiß es.
Dieses bißchen Zivilisation, – oder ist es nicht nur ein bißchen Komfort? – ist dem Land der Schwarzen so auferlegt wie das Zaumzeug dem Tragtier. Darunter – –
Dieser alte Hallendiener, der den Mahdi gekannt hat, bringt mir einen Bogen Zeitungspapier, »The Sudan Herald and Times«, oh, in Khartum gibt es alles, – und ich lese, zwischen Notizen über das Polomatch und über das Amateurtheater von neulich, man gab: »Die goldene Ritterzeit«, furchtbar ulkig, – lese zwischen den Inseraten (S. und S. Vanian, Limited, führen fertige Tropenkleider; mit Maßabteilung) – lese so etwas unter dem gestrigen Datum:
»Eine Abteilung der berittenen Polizei wurde im Sumpflande, in der Nähe der Pyramide von Dengkurs, von Schwarzen vom Stamm der Nuër überfallen. – Die Pyramide von Dengkurs ist, wie erinnerlich, in den Kämpfen Anfang 1929 vernichtet worden, da sie dem Hexenmeister Gwek Wonding als Festung gedient hatte. – Der Angriff der Nuër wurde siegreich zurückgeworfen; sie ließen 18 Tote auf dem Kampfplatz zurück, darunter den Zauberer Gwek Wonding, dessen Einfluß auf die Nuër diesen Negerstamm im Jahre 1927 zum Aufruhr veranlaßt hatte. Noch drei andere Hexenmeister fielen. Pok Karajok, ein ebenfalls berüchtigter Medizinmann, ist leider entkommen. Die berittene Polizei setzt ihm nach.«
*
Also, das gibt es doch noch in diesem höchst zivilisierten Sudan. Ein Magier namens Gwek Wonding hat sich seine Pyramide gebaut, ganz wie der Pharao Cheops: einen Berg aus Lehm, zusammengetragen von den Gläubigen dieses Negerpropheten im Sumpfland am obersten Nil. Seit Jahren haben von dieser Pyramide aus Gwek Wonding und seine Leute, die Nuër, einen Krieg gegen ihre Stammesfeinde, die Dinka, geführt und gegen die Regierungstruppen, die den Frieden erzwingen wollen.
Die Hexenmeister der Nuër haben der Sudanregierung seit langem zu schaffen gegeben.
– Was hexen sie eigentlich, was ist das, was lebt da immer noch in den unergründlichen Sümpfen? Was ist im Sudan noch alles möglich, heute noch, morgen noch?
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Sennaar, den 12. Februar 1929.
So zivilisiert schon und so wild noch ist drei Jahrzehnte nach dem Sturze des Mahdireichs der Sudan, daß man in einem Salonwagen der ausgezeichnet verwalteten Staatseisenbahn immer weiter fährt, bis man dem ersten freien Affen im afrikanischen Walde Salz auf den Schwanz streuen kann, – wenn man Lust hat.
Der Salonwagen, den ich bewohne, oh, ein vortrefflicher Wagen, mit einem guten Bett, einem Ventilator, einem tröstlichen Eisschrank, steht in diesem Augenblick in der Station Sennaar-Makwar und wartet auf mich, während ich im Auto die Umgebung besuche, mit meinem nubischen Dragoman Scherkaui und mit Ibrahim. Ibrahim ist der braune Chauffeur, ein Araber von den Dschaalin. Die Dschaalin haben seit soviel Jahrtausenden vereint mit Kamelen gelebt, bis sie selber Kamelprofile bekommen haben, weich, aber störrisch. Ibrahim (bekleidet mit einem grauen Sack und einem Dolchmesser, das mit einem Lederarmband an seinem linken Oberarm festgemacht ist) sieht aus wie ein sehr junges Kamel, er ist vierzehn Jahre alt. Der alte Ford, den er fährt, kriegt nächstens Höcker und lernt noch das Niederknien. Aber doch: Es gibt hier ein Auto. Und so was wie Autostraßen, am Ufer des Blauen Nils, dort wo es schon mehr auf Abessinien zugeht.
*
Die Affen bekomme ich, langgeschwänzte rotbraune Affen, so groß wie vierjährige Kinder, bekomme ich in genügenden Mengen im Wald von Deim el-Amarna zu sehen. Sie jagen, ein flinkes Gesindel, in dem Geäst der Gummiakazien auf und ab, in einem dürren und dornigen Forst ohne jegliche tropische Üppigkeit. Es ist furchtbar heiß hier und furchtbar staubig, obwohl der Nil so nahe vorbeifließt. Der Wald liegt auf dem erhöhten Ufer; man kann unten die Sandbänke sehen und Krokodile, die sich dort sonnen, und einen großen goldfarbenen Adler, der auf einem Felsen inmitten des schäumenden Wassers sitzt.
Alles ist sehr heiß, sehr wild, auch die Menschen hier. Im Walde leben Kohlenbrenner, negroide Leute aus dem alten Blute der Fung. Ich sehe ihre fast nackten Gestalten an einem Feuer, das bis an den Himmel stinkt. Mein tüchtiger Dragoman Scherkaui verhandelt mit einem von ihnen über einen Handel mit Affen: sie sollen für eine englische Dame in Khartum einen Affen lebendig fangen, Scherkaui will das sehr gut bezahlen.
Er übersetzt mir die Transaktion und möchte mir die alte Fabel einreden, daß die Affen gefangen werden, indem man Kürbisse voll Merissabier unter den Baum legt. Da kaufen sich die Affen einen Affen und dann sind sie wehrlos!
Auf dem Weg zu diesem Affenwald habe ich inmitten der Wildnis Ruinen gesehen. Das sind die Reste der uralten Stadt Sennaar, die nach dem Tode des Mahdi der Khalifa völlig zerstört hat. Ein neues Sennaar mit Dächern aus Wellblech ist jetzt in der Nähe entstanden, von Arbeitern und Ingenieuren des großen Staudamms bewohnt.
Um diesen Sennaardamm zu sehen (und nicht so sehr, eigentlich wegen der Affen), habe ich diesen Ausflug hierher unternommen. – »Von den Möglichkeiten des Sudans können Sie nur im Sudan einen Begriff bekommen!« hat mir in jenem Amtshaus in Khartum der große englische Ingenieur gesagt, der im Sudan die Wasserbauten beaufsichtigt.
Was für ein Mensch, dieser Ingenieur! Eine Art Dichter, der Dichterträume aus lauter Nilwasser dichtet. In seinem Zimmer habe ich die Karten gesehen, die genau berechneten Pläne. Kein Tropfen des kostbaren Wassers ist da vergessen, es wird ein jeder gespart, gespeichert, zuletzt in die fruchtbare Erde geleitet, bis Brot und Baumwolle aus ihm wächst. Sobald erst der neue Vertrag zwischen Ägypten und England geschlossen ist, und im Nilland Vertrauen und Ruhe herrscht, wird man nicht nur bei Khartum am Weißen Nil den ungeheuren Plan des Staudamms von Dschebel Aulija zur Wirklichkeit machen, man wird auch das noch viel größere Dammwerk in Angriff nehmen, durch das der Albert-Nyanza zum größten Stausee der Erde verwandelt wird. Das ist nicht alles: der Weiße Nil macht nach dem Verlassen des Sees jenen großen Bogen und verliert fast die Hälfte des kostbaren Wassers in einem unermeßlichen, trostlosen Sumpfland. Auch dieses verschwendete Wasser ist wohl zu retten: man schneidet die Sehne des Nilbogens ab, der Kanal, den man bauen muß, ist freilich größer als der Kanal von Suez. Aber man wird ungeheure Massen von Wasser für die Kulturen sparen, wird das Sumpfgebiet trockenlegen und dürre Wüsten bewässern können im Sudan sowie in Ägypten. – –
All das ist noch nicht. Und die Wasserwerke am abessinischen Blauen Nil, am Tsana-See, sind noch Zukunftsverheißungen. Indessen, seit 1925 ist der Damm von Sennaar vollendet, und er hat die Dschesireh, die Halbinsel zwischen den beiden Nilen, in ein reiches Kulturland verwandelt. Das zu sehen bin ich hier, ich, der ich wissen möchte, was aus dem Sudan des Mahdi geworden ist.
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In meinem Notizbuch, zwischen lauter Daten aus dem Leben Mohammed Achmeds, stehen statistische Zahlen: so viele hundert Meter lang ist der Staudamm, so breit, so hoch, soundso viele Millionen Kubikmeter Wasser speichert er auf. Soundso viele hunderttausend Feddan Landes kann er bewässern und bewässert er gegenwärtig. Dazu werden soundso viele tausend Meilen Kanäle gebraucht. So viele Feddan sind mit Baumwolle bepflanzt, und die Durrhafelder liefern so viele Ardeb Durrha im Jahre. – –
(Ich will immer im Baedeker nachsehen, denke ich flüchtig, was ein Ardeb ist und was ein Feddan!)
Dieses sandige Durstland der Schwarzen, der Sudan, braucht nichts als eine weise Verteilung des Wassers, um Brot und Wolle zu liefern, Nahrung und Kleidung für zahllose Menschen.
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Nun bin ich bei Meringan im Zentrum der Baumwollplantagen. Ich lasse das Auto halten und gehe zu Fuß durch die endlosen Felder, die eben in Blüte stehen. Ich erinnere mich nicht, auf all meinen Reisen schon blühende Baumwollstauden gesehen zu haben, und ich bin ganz entzückt von der Schönheit des Anblicks. Die einzelne Blüte ist goldgelb, mit einem Schimmer von Purpur im Inneren. Das besondere Grün der Blätter steht gut dazu. So ein blühendes Baumwollfeld, in der flachen und an sich unschönen Landschaft ist etwas so Tröstliches, es erquickt das ermüdete Auge. Ein Negermensch steht mitten im Feld und wühlt mit der Hacke in einem Bewässerungsgraben. Ein bunter Schmetterling flattert auf. – –
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Mitten aus dieser blühenden sonnigen Ebene ragt etwas Starres und Technisches: eine große, sachlich-kahle Fabrik mit einem riesigen rauchenden Schornstein und weithin vernehmbaren Maschinengeräuschen. Eine große Halle, mit Wellblech gedeckt, sieht aus wie ein Zeppelin-Hangar, ist aber eine Ginnery, das ist: Anlage zur Entfernung der Samenkerne aus der Baumwollernte. Ich trete in die Fabrikräume ein und finde ein Surren und Wirbeln von Rudern, von Transmissionen, große stählerne Rechen kämmen die Wolle, mechanische Pressen fertigen mächtige Ballen aus dem weißen Wattegeflock.
Und ich sehe einen ungeheuren Neger, fast vollkommen nackt, seine titanischen Glieder mit Öl gesalbt, so daß er glänzt wie ein großer Götze aus schwarzem Erz; – sehe ihn dastehn an einer blanken Maschine; er tut, er ist selbst wie eine Maschine, immer und immer wieder den gleichen Griff mit einer mechanischen Ruhe. Er ist so unglaublich groß, seine Muskeln sind so gewaltig, daß er neben den Walzen und Stangen und Kolben der Maschinerie gar nicht kleiner wirkt. Das Gesicht, wie aus schwarzer Bronze, ist starr und ernst; kein Hauch jener Negerkomik geht von ihm aus, die wir in schwarzen Gesichtern so leicht zu entdecken meinen.
Vierzig Jahre dürfte er alt sein, schätze ich. Folglich ist er wohl früher ein Sklave gewesen.
Und jetzt also ist er frei, bedenke ich.
Ich frage den gelbbraunen levantinischen Werkmeister, der mich in dem Betriebe herumführt, welchen Taglohn dieser freie Neger so etwa bekommen dürfte. Der Grieche, oder ist es ein Kopte, macht: Oh, der! – Das ist ein sehr guter Mann, und gut bezahlt. Er bekommt einen englischen Schilling täglich.
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Ich bleibe stehen, starre den großen Neger an. Er kümmert sich gar nicht um mich, er tut immer den gleichen Griff in einen großen Rechen hinein, der rasselnd hinunterklappt zu dem Wattehaufen. Der Werkmeister irrt sich in mir: er meint, mein Interesse an Egrenierungsmaschinen müsse beträchtlich sein: also spricht er des längeren von den Unterschieden zwischen den alten und neuen Systemen. – –
Ich aber denke und denke nur, ich möchte so gern wissen: was Charles G. Gordon an seine Schwester Augusta geschrieben hätte, in einem seiner so lebhaften, unverlogenen Briefe, – wenn er das hätte vorausahnen können. Hat er die Negersklaven dazu befreien wollen? Letzten Endes, dafür hat er doch gelebt und ist er gestorben.
Was hätte er geschrieben, er, der sich und Augusta nie etwas vorlügen wollte?
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Dazu ist schließlich Gordon gestorben, denke ich, – damit eine Stahlmaschine in Meringan, Provinz Sennaar im Sudan, die Baumwolle säubern kann, die in Manchester eine andere klappernde Stahlmaschine verarbeiten wird. Dieser schwarze Arbeiter hier in Sennaar wirft dem weißen Arbeiter drüben in England die Ballen zu; der wirft einen Ballen Kattunstoff wieder in den Sudan zurück, in die Negerdörfer. Und zugleich kommt ein Lehrer ins Negerdorf, von Europa zivilisiert, und rät, – Hemden zu tragen, Hemden aus Baumwollstoff.
Ich bedenke: der Held, der mir teuer ist, Charles G. Gordon, ist für den einen Schilling gestorben, den der Neger jetzt täglich als Lohn erhält. Er ist kein Sklave mehr; er bekommt einen Schilling – und kann folglich Baumwollstoffe aus Manchester kaufen. Warum soll er welche kaufen? Weil er doch jetzt zivilisiert ist. Er macht Baumwollballen, weil er einen Schilling verdienen muß. Wenn er einen Schilling verdient hat, kauft er ein Baumwollhemd. – –
Das ist nun, denke ich, die Entscheidung der Weltgeschichte zwischen dem Mahdi und General Gordon. Sie waren einander ähnlicher als sie wußten, beide Träumer und Schwärmer, – nur steht, letzten Endes, Gordon für Baumwolle und der Mahdi für aszetische Nacktheit. Jeder Baumwollballen aus dem Sudan ist wie ein Denkmal für General Gordon, und dennoch hat niemand den Zivilisierungsbetrieb mehr gehaßt als er. – –
Ich sehe noch immer den Neger an, der hinter der blanken Maschine steht. Um den ist der Kampf gegangen. Seine Zukunft stand auf dem Spiel, als der Mahdi mit Gordon kämpfte. Zwischen Bettelschale und Egrenierungsmaschine, zwischen Gebetsruf und Fabriksirene lagen die Lose Afrikas. Die Partie ist entschieden; der Sudan des Mahdi, in Wahrheit das ganze Schwarz-Afrika, ist heute schon voll von Motoren und Autos und Eisenbahnen und Wasserbau und Maschinen und Handel und Wellblechschuppen und Radio. – –
Der Mahdi lehrte: einer Bettelschale bedarf der Mensch, eines Wanderstabs, eines geflickten Hemds. – –
Gordon ist zuerst unterlegen und hat dann gesiegt. Über seinem Märtyrergrab wachsen die Baumwollstauden. Manchester bekommt sein Rohmaterial und sein Absatzgebiet. Der Neger, der früher ein Sklave war, bekommt seinen Schilling täglich. Das alles hat Charles G. Gordon, ein Idealist ohne Wirtschaftsverständnis, zwar gar nicht gewollt, aber dennoch geschaffen.
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Gordon ist erst unterlegen und hat dann gesiegt. Er stirbt durch den Mahdi, und der Mahdi stirbt an seinem Sieg über Gordon. Das Ende des Dramas ist, daß der Neger, der früher ein Sklave war, täglich einen Schilling bekommt, und der Spinner in Manchester Rohmaterial, nebst einem Absatzgebiet. Über Charles G. Gordons Grab wachsen die Baumwollstauden.
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Zwei von den europäischen Gegenspielern Mohammed Achmeds haben nachher noch den Sudan zivilisieren geholfen: Slatin und Ohrwalder.
Pater Josef Ohrwalder war nach der Wiedereroberung wieder Missionar im Sudan. Er ist eines Tages im Jahre 1912 in Khartum gestorben, nachdem er eben im Kreise der Missionsbrüder das Tischgebet gesprochen hatte.
Tausende von Mohammedanern gingen hinter dem Sarg des guten Paters her.
Slatin Pascha, als der beste Kenner der Zustände im Derwischlager, hat dem Heere Kitcheners 1898 die wertvollsten Dienste erwiesen und die rasche Eroberung des Sudans war zum sehr großen Teil sein Werk. Dann hat er, mit dem Titel eines Generalinspektors, an dem großartigen Wiederaufbau des Sudans mitgewirkt, bis zum Weltwahnsinnsanfall von 1914. Jetzt lebt der alte Herr mit der epischen Lebensgeschichte in Meran, als der letzte von den Protagonisten der Mahditragödie, der noch übrig ist. Das Weltkind, das Slatin immer war, hat alle die Propheten und Heiligen überlebt. Er, der das blutige Haupt Gordons in seinen zitternden Händen gehalten hat, hat noch diesen neuen Sudan gesehen, den Staudamm, den rotierenden Motor, die Autostraßen. – –
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Am Abend, während die Sonne untergeht, passiert mein Auto, auf dem Weg zur Bahnstation und zum Zug, den großen Nildamm, über den die Straße führt. Der Dammweg wird nach dem Dunkelwerden geschlossen, deswegen ist jetzt der Verkehr sehr erheblich. Das Auto kommt gar nicht weiter, bleibt fortwährend stecken in einem Gewimmel von Menschen und Tieren. Westwärts führt über den Damm die große Straße nach Kosti und El Obeïd, – in die die Karawanenstraßen vom Tsadsee her münden; nach Osten zu geht es weiter nach Kassala, nach der italienischen Eritrea, nach Nordabessinien, zum Roten Meer. Hier ist ein großer Kreuzweg Afrikas, und halb Afrika zieht hier vor meinen Augen vorbei: Menschen vieler verschiedener Stämme, auf ihren Kamelen und Pferden und Eseln, mit ihren Herden, mit ihren Gütern.–
In den verdeckten Tragkörben auf den Kamelen errät man tiefverschleierte Weiber; aber andere, nackt und schmutzig, treiben die schwarzen Schafe oder schleppen Lasten. Die Männer sind alle bewaffnet; sie tragen Lanzen mit Widerhaken, oder Antilopenhörner, in denen mehrere Dolche stecken, oder große Schwerter in blutroten Scheiden. Aus den grotesken Frisuren der Leute tropft Hammeltalg auf die nackten Schultern. Hier fließen weiße Gewänder voll Würde, dort flattern unsägliche Lumpen. Ein junger Edler, irgendein mächtiger Scheich, begleitet, in gestreifter Seide und goldenen Stickereien, hoch zu Pferd die schön geschmückten Kamele seiner Haremsfrauen. Neger und Araber strömen vorbei, ganz Afrika. – –
Hinter dem Damm sinkt die Sonne in den Stausee des Blauen Nils. Die unermeßliche Wasserfläche erstrahlt in den Farben der tollsten Träume. Auf einem Himmel, der purpurn und grün ist, oder wie angezündetes Gold, oder wie ein amethystener Diamant, fliegen die Silhouetten von Vogelschwärmen tiefschwarz vorbei. Ich möchte gern weinen; es ist alles zu schön und traumhaft.
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Sudan! denke ich. Glühendes Land, so maßlos, ohne Beschränkung. Ungeheures Afrika! Was kann hier noch alles geschehen?
Ich stehe auf diesem Damm und wende mein Auge der sinkenden Sonne zu. Hinter mir ist das große Gewirr von afrikanischen Stimmen und Tönen. Es ist mir, als hörte ich ferne Trommeln, einen afrikanischen Marsch von künftigen Heeren. Woher, wohin? Auf dieser Brücke, die dir Europa gebaut hat, wohin marschierst du, unbegreifliches Afrika?
Und ich denke wieder an Gordon und seinen Gegner, den Mahdi.