Richard Arnold Bermann
Die Derwischtrommel
Richard Arnold Bermann

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Die Flucht

Zwei Kompanien ägyptischer Infanterie, jede unter einem Sagh-Kolaghasi, das ist: Stabskapitän, landen an einem heißen Abend der Regenzeit auf der Nilinsel Abba. Der Dampfer »Ismailia«, der die Regierungstruppen gebracht hat, bleibt in der Mitte des Flusses, weit von jedem möglichen Schuß. Auf diesem Dampfer ist Abu Saud, den Raûf Pascha geschickt hat, um jenen rebellischen Derwisch diesmal gewaltsam zu holen. Abu Saud ist kein Mann des Krieges und landet niemals bei Nacht und Nebel auf sumpfigen Inseln, wo Feinde warten. Woher weiß er denn übrigens, daß sie warten?

*

Von den beiden Effendis, die die Soldaten befehligen, hätte der eine oder der andere sich vielleicht auch gern bis zum Morgen geduldet. Aber sie hassen einander; dem anderen gönnt der eine es nicht, daß er etwa allein den Derwisch finge; der Pascha hat demjenigen, der ihn bringt, Beförderung zugesagt. Beförderung zum Bimbaschi! Jeder von beiden sieht sich schon mit Majorsepauletten und als Vorgesetzten des andern. – –

Die Kompanien landen in Unordnung, weil sie einander zuvorkommen wollen. Es ist eine dumpfe, dampfende Nacht; die Dunkelheit riecht nach fauligem Wasser. Außer dem Vorsichtigen auf dem Dampfer, Abu Saud, kennt keiner die Insel.

Es hat seit Wochen geregnet; man sinkt in der Finsternis ein, man sieht nicht, wohin, fällt in Tümpel, bleibt kleben, wird von Schilf gepeitscht.

Stille ist befohlen. Man hört nur manchmal ein Klirren der Waffen, ein widerwärtiges Klatschen von Wasser und Lehm, einen halben Aufschrei.

Stille wieder. Dann, plötzlich – –

*

Aus dem hohen Gras erhebt sich etwas Weißes. Abdullahi der Taaischi ruft: »Allah!« und schwingt ein großes Schwert. Ein furchtbarer Trompetenstoß, ein Ton aus einem gehöhlten Elefantenzahn zerreißt die Stille. Dann das Geschrei, die Salven. Die beiden Kompanien schießen ziellos ins Dunkel und treffen einander. Dann sind diese Wilden bei ihnen, nur mit Lanzen und Stöcken bewaffnet, doch viele, viele. Ein vorbereiteter Hinterhalt!

Woher hat denn der Derwisch gewußt, daß die Soldaten kamen? Wie konnte Abdullahi noch rechtzeitig diese Helfer versammeln, Männer von den Stämmen zwischen den beiden Nilen, Männer der Kenana und der Degheim, die an den Mahdi glauben und zum heiligen Kriege bereit sind?

An diesem Tag, bevor der Dampfer kam, hat der Mahdi vor ihnen gepredigt. Der Prophet Mohammed selber hat ihm in einer großen Vision den Sieg verheißen. Sieg ohne Waffen: mit Stöcken, ja, mit Binsen und Stroh würden die Türken erschlagen werden. – –

Nun ist es geschehen. Das Wunder. Das Wunder Allahs für seinen Diener, den Mahdi.

*

Woher hat Mohammed Achmed von dem Kommen der Truppen Kenntnis gehabt?

Weiß das am Ende der Vorsichtige auf dem Dampfer, Abu Saud? Was er mit dem Mahdi gesprochen hatte, als er zum erstenmal auf der Insel war, das hat er dem Generalgouverneur ja erzählt. Aber was er nachher mit Abdullahi geflüstert hat?

Könnte es sein, daß der Freund und Söldling aller Sklavenhändler des Südens, der Besitzer dornenumhegter Negerseriben, der Herr furchtbarer Todeskarawanen, der Führer der blutigen Razzien – daß Abu Saud einen Aufstand im Sudan nicht ungern entstehen sieht? Alle diese britischen, österreichischen, italienischen Paschas und Beys sind den Sklaventreibern doch endlich lästig geworden. – –

Könnte es sein? Abu Saud auf seinem Dampfer, der doch eine Kanone an Bord hat, macht gar keinen Versuch, in diese nächtliche Schlacht einzugreifen. Ein paar verzweifelte Schwimmer, den Derwischen auf der Insel und den Krokodilen im Flusse entronnen, bringen die Nachricht an Bord, daß alles verloren ist. Sogleich befiehlt Abu Saud, so rasch wie möglich gegen Khartum zurückzufahren; nur die Entrüstung des Schiffskapitäns bewegt ihn dazu, noch ein wenig zu warten, ob nicht noch andere Flüchtlinge kommen.

Auf der Insel, zwischen den dunklen Bäumen, sieht man jetzt ein großes Huschen und Wandern von Fackeln. Irgendwo auf einer Lichtung lodert ein riesiges Feuer. Und: Tomtom, tomtom, tomtomtom gehen die Pauken die ganze Nacht lang.

Kein Flüchtling kommt mehr an Bord. Als es Morgen wird, dampft die »Ismailia« langsam stromabwärts, um die Nachricht von dem Geschehenen nach Khartum zu bringen.

*

Tomtom, tomtomtom. Die Insel ist voll von Geräuschen, von Rufen. Noch immer sucht, findet, mordet man Verwundete, die sich im Schilf verstecken. Verstümmelte Leichen überall, völlig nackt. Arabische Knaben vom Inseldorf suchen im hohen Gras nach verstreuten Waffen. Irgendwo hinter den Hütten, im tiefsten Schatten, mag ein verbotenes Trinkgelage im Gange sein; die Schreie klingen nach Hirsebier. Oder machen die Trommeln die Menschen so trunken?

Die größte Pauke, die kupferne, dröhnt auf der Lichtung, wo das große Feuer brennt. Dorthin bewegen sich von hier und dort Züge von Kriegern. Ein Haufen nackter Gefangener wird hingetrieben. Man bringt die erbeuteten Feuergewehre, schichtet sie in einem großen Haufen. Die türkische Fahne mit Halbmond und Stern, die man erbeutet hat, liegt auf der Erde neben den Waffen. Hoch darüber, im Schein des Feuers, weht das schwarze Banner des Mahdi.

Aber haben die Gläubigen nicht, die Sieger dieser Nacht, mit ihren verzückten Augen ein anderes Banner gesehen, ein Banner ganz aus Licht, das ein formlos Ungeheuerer hinter dem betenden Mahdi hielt?

*

Auf einmal wird es ganz stille an dem lodernden Feuer. Nur die Trommeln am Ufer gehen weiter: Tomtomtom. Botschaft des heiligen Krieges hinaus in die Nacht.

Im Lichtkreis des Feuers hat sich Abdullahi erhoben. Sein Schwert ist noch immer entblößt; er ist mit Blut besudelt. Mit einer großen Geste zeigt er auf den Mahdi, der nun hervortritt, in einem blendend weißen Gewande mit bunten Flecken. Sein Turban schimmert.

Der Mahdi lächelt; er breitet die Arme aus. Er redet zu seinen Freunden.

»O ihr Ansar!« spricht er.

Er schweigt, sein Lächeln bestrahlt sie. Laut jubeln sie auf. Er hat sie »Ansar« geheißen, »Helfer«. Mit dem einen Wort hat er diesen wilden Haufen geweiht und geheiligt. Ansar, so hat einst der Prophet Mohammed seine ersten Gefährten genannt, die hilfreichen Freunde zu Medina. Das bloße Wort ist schon eine Verheißung des Paradieses und unsäglicher Wonnen. –

*

»Ansar!« spricht der Mahdi.

Und die wilde Menge, die blutbespritzten Sieger, die von den Trommeln Trunkenen, Männer von vielen Stämmen, Halbneger von der Dschesireh und Beduinen vom Rand der Sahara, sie brüllen auf, von dem einen Wort ganz toll gemacht. – – –

»Tötet die Türken!«

*

In der Mitte des Kreises stehen ganz nackt und wehrlos und zum Sterben müde die Gefangenen, die Soldaten des Paschas. Ein Schrei der Wut erhebt sich gegen sie; Waffen beginnen zu tanzen. Die Ungläubigen! Die Heiden! Die an die Mahdîjja nicht glauben! Turk! Turk! Turk!

Abdullahi springt dazwischen, mit funkelnden Augen, die Nilpferdpeitsche am Handgelenk. Schon hat man ihm gehorchen gelernt. Mit einem Murmeln weichen sie zurück. Die Gefangenen, deren gelbe Felachenhaut vor Angst ganz grau wird, stürzen vor dem Mahdi zu Boden. Der sieht sie an, lächelt, spricht mit milder Stimme jene Koran-Sure, die gebietet, daß gefangene Heiden rechtmäßige Beute der Gläubigen seien, und ihr Eigentum als Sklaven.

»Und wir haben die Kunde vom Propheten«, predigt er den gefangenen Soldaten des Khediven, »wir haben die Kunde«, sagt er (und sein Lächeln entblößt zwischen seinen schönen Zähnen die bedeutsame Lücke), »daß, wer da zweifelt an unserer Mahdîjja und leugnet und widerspricht, der ist ein Ungläubiger und sein Blut wird vergossen und sein Eigentum ist Beute – – «

Und er spricht mit seinem milden Lächeln eine andere Sure des Korans, die das Gemetzel unter besiegten Ungläubigen befiehlt und die Versklavung der Überlebenden: »Dann herab mit dem Kopf, und schnüret die Bande!«

Nachdem der Mahdi die furchtbare Sure gesprochen hat, schweigt er ein wenig, dann sagt er lächelnd, er wolle aber den Soldaten verzeihen, wenn sie Reue bekennen.

Da kommen sie alle, küssen den Staub unter seinen Füßen. Ein jeder tritt einzeln heran, legt seine zitternde Hand zwischen die dunklen Hände des Mahdis und spricht das Bekenntnis des neuen Glaubens:

»Allah ist Gott. Und Mohammed ist Gottes Prophet. Und Mohammed der Mahdi ist der Nachfolger des Propheten Gottes!«

*

Wer an die Mahdîjja nicht glaubt, und glaubte er auch an Allah und den Propheten, ist ein Ungläubiger und den ewigen Qualen verfallen. Hunderte von den Ansar von Abba schwören, sie hätten aus der Leiche eines der türkischen Offiziere plötzlich die Flammen der Hölle züngeln gesehen – –

*

Bei Sonnenaufgang verkündet Abdullahi der Taaischi – man sagt schon: »Unser Herr Abdullahi, der Khalifa des Mahdi« – den Ansar einen Befehl: sie mögen zum Aufbruch rüsten. Groß ist zwar der Sieg der Gläubigen, sagt der Khalifa, niemand kann hinfort den Ansar widerstehen, aber es ist verhängt, daß, so wie Mohammed, der Bote Gottes, auch Mohammed der Mahdi eine Flucht zu vollbringen habe, zum Berge Mâsa.

Es ist im Jahre zwölfhundertachtundneunzig nach der Hedschira Mohammeds. Es beginnt mit dieser neuen Flucht das neue Zeitalter des Islams.

*

Tomtom, tomtomtom, überall am Ufer des Weißen und Blauen Nils, in Sennaar, in Kordofan gehen die Trommeln des heiligen Krieges. An dem westlichen Ufer des Flusses marschiert der Mahdi. Noch ist sein Heerhaufen klein; es fehlt an Waffen, an Pferden. Nur der Mahdi reitet auf einem schlechten abessinischen Klepper; sein Khalif Abdullahi geht neben ihm zu Fuß. Mehr als einmal droht Gefahr. Hier oder dort sind ägyptische Garnisonen. Irgendein Stabskapitän könnte einmal den Mahdi gefangennehmen, hätte er nur den Mut dazu. Der Deutsche Giegler Pascha, Gouverneur von Kordofan, hört, daß der Rebell nicht weit von seiner Hauptstadt El Obeïd entfernt ist. Ein alter Oberst der Garnison, Mohammed Pascha Said, wird mit vier Kompanien ausgeschickt, die Rebellen anzugreifen. Der alte Pascha gelangt in die Nähe des Lagers, in dem der Mahdi mit seinen müden, kranken, verhungerten Anhängern ausruht, – und greift sie nicht an. Er wartet untätig drei Tage, zieht dann wieder nach El Obeïd zurück. Die Soldaten sagen zueinander bedeutungsvoll, daß der Alte in seinem Gewissen beunruhigt ist. Hält er diesen Derwisch vielleicht selber für den Erwarteten Mahdi?

Mohammed Achmed zieht weiter und gelangt ins Gebirge von Tagalla. Der Sultan der Schilluk-Neger, der die Ägypter haßt (sie haben seinen Vater durch Verrat gefangengenommen und er ist im Gefängnis vor Hunger gestorben) – schickt dem Mahdi ein großes Geschenk von Durrhakorn und eine Warnung: er sei hier nicht sicher, er möge weiter landeinwärts ziehen.

Nach langem Wandern, müde, vom Fieber geplagt, gelangt die Heerschar des Mahdi ins Nuba-Gebirge. Hier, auf dem Berge Gadîr, ist von alters her eine heilige Stätte, ein Stein, auf dem der Prophet einst geruht haben soll.

Hier schlägt Mohammed Achmed sein Lager auf, hier beendet er seine Flucht. Eine alte Legende weiß, daß der Erwartete Mahdi dereinst vom Berge Mâsa kommen wird. So heißt ein Berg im fernen Maghreb, im Atlasgebirge. Aber Mohammed Achmed hat eine neue Vision: der wirkliche Dschebel Mâsa, auf dem der Mahdi erscheinen soll, ist nicht im Atlas, sondern gerade hier, in der Tat jener große Felsen dicht bei dem eben bezogenen Lager. In seinen Gesichten hat er das erfahren.

Bald weiß der ganze Sudan, daß der Dschebel Gadîr im Grunde der sagenberühmte Berg Mâsa ist, und daß der Erwartete Mahdi, wie prophezeit, dort erschienen ist. Der Dschebel Gadîr, der der Dschebel Mâsa ist, wird zum Endpunkt der neuen Hedschira; von ihm strahlt die neue Erlösung aus.


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