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Für die erste Sylvesterfeier im Arbeiterheim wurden große Vorbereitungen getroffen. Die »Arbeiterbühne« interessierte den Schuhmeier vom ersten Tage ihres Bestehens an. Als das graue Drama vom Proletenelend, Gerhart Hauptmanns »Weber« verboten wurde, auf keiner österreichischen Bühne aufgeführt werden durfte, veranstaltete die »Arbeiterbühne« über Schuhmeiers Anregung eine Vorlesung des Stückes mit verteilten Rollen, was nicht verboten werden konnte. Als die Zensur der »Arbeiterbühne« die Aufführung des russischen Revolutionsdramas »Am Vorabend« untersagte, wurde es über Schuhmeiers Rat dennoch in einer § 2-Versammlung aufgeführt. So oft er nur konnte, war er bei den Vorstellungen der »Arbeiterbühne« dabei und freute sich über das Talent, das in diesen Dilettanten, in diesen jungen Arbeitern und Arbeiterinnen steckte. Am liebsten hätte er selbst mitgespielt.
Für die Sylvesterfeier wurde ein Festspiel »Prometheus« von Philipp Müllner einstudiert. Den Abschluß bildete eine Apotheose, ein lebendes Bild, innerhalb dessen der Schuhmeier die Neujahrsrede halten sollte. In dem lebenden Bild sollten Mädel in Badetrikots vorkommen. Mädel in Badetrikots auf einer Bühne, vor der brave Ehefrauen und ehrsame Familienväter sitzen sollten, waren dazumal noch etwas Unerhörtes. So was hielt man höchstens in pikanten Nachtlokalen gerade noch möglich.
Bei der Generalprobe, der Vertrauensmänner und Funktionärinnen beiwohnten, war alles entrüstet. In dieser Beziehung war man in der Partei sehr im Gegensatz zu den Behauptungen der Gegner immer etwas prüde.
»Wir san im Arbeiterheim und auf kein Fleischmarkt«, mokierte sich der Michel.
Die Genossen meinten: »Wenn das unsere Frauen erfahren, dürfen wir gar net hergehn.«
Die Genossinnen meinten: »Da müßten wir unsere Töchter und Söhne zu Haus lassen, damit s' uns net verdorben werden, und dann bleiben wir auch zu Haus.«
Und alle zusammen meinten: »Das würde der Partei schaden, was täten die Gegner dazu sagen!«
Sie konnten sich nicht einigen und überließen die Entscheidung dem Schuhmeier, der erst zur Feier selbst kam. War er dagegen, müßten halt die »Nackerten« wegbleiben.
Die »Nackerten« standen bengalisch beleuchtet auf der Bühne und in ihrer Mitte stand der Schuhmeier und ließ, noch begeistert von dem künstlerischen Genuß, den ihm das Festspiel bereitete, eine Rede steigen, wie kaum je vorher. Als ihm nachher die ganz Moralischen Vorwürfe machten, daß er eine solche »Schweinerei« toleriere, erwiderte er ehrlich erstaunt: »Wieso Schweinerei? Die haben doch unterisch fleischfarbene Trikots angehabt?«
»Verstell dich net. Das war die Haut.«
»So, die Haut war's? Das hab ich gar net bemerkt. Auch net schlecht.«
In der Delegation widmete er sich hauptsächlich militärischen Fragen. Er, der nie beim Militär gedient, war bald ein Fachmann, von dem sich die Kriegsminister und Generäle schon etwas sagen lassen mußten.
Im Februar 1905 führte er zum Kapitel »Kriegsministerium, ordentliches Erfordernis« aus: »Der heutige Klassenstaat stützt sich in erster Linie auf die bewaffnete Macht. Die Arbeiterklasse spannt der kapitalistische Staat für sich gegen sie selbst ins Joch. Die Arbeiterklasse muß zu diesem Heer nicht nur die Tausende und Abertausende stellen, sie muß nicht nur den größten Teil der Kosten für das Heer aufbringen, sondern sie erlebt es, daß aus dem Heer heraus ihre eigenen Interessen niedergetreten werden. In der Armee steht der Arbeiter gegen den Arbeiter. Während die Religion sagt: ›Du sollst Vater und Mutter ehren‹, ist der Militarismus zur entgegengesetzten Konsequenz gelangt. Bekannt ist der menschenfreundliche Ausspruch Kaiser Wilhelms II.: ›Wenn ich es befehle, muß auf Vater und Mutter geschossen werden.‹ Ein System, das solche Früchte zeitigt, kann von der Arbeiterschaft nicht gehalten werden.
Die Sozialdemokraten sind aber auch deshalb gegen das System des stehenden Heeres, weil sie darin die ständige Kriegsgefahr erblicken. Ein Staat überwacht den anderen mit Argusaugen, ob er nicht Fortifikationen errichtet, sein Heer vergrößert. Der Bundesbruder fühlt sich vor dem Bundesbruder nicht mehr sicher, ja er muß auf ihn mehr achtgeben als auf Staaten, mit denen er in keinerlei Brüderschaftsverhältnis steht. Die Sozialdemokraten wünschen daher, daß an die Stelle des Wehrsystems von heute ein besseres, ein höheres trete, nicht, um der kapitalistischen Gesellschaft Schutz angedeihen zu lassen, sondern um daraus auch für die Bevölkerung Nutzen zu ziehen.
Der Militarismus ist auch kulturfeindlich. Für die Mordskultur werden solch ungeheure Summen geopfert, daß für die wahre Kultur, für die Volksschule, dem Staat kein Geld bleibt. Man möge nicht glauben, daß die Sozialdemokraten etwa den Staat seiner Wehrhaftigkeit berauben wollen, um eines Tages über die bürgerliche Gesellschaft herzufallen. Diese Arbeit wird der kapitalistische Staat selbst an sich vollbringen.«
Den Geist, der in der Armee herrschte, illustrierte er an diesem Beispiel: In der Fahrradfabrik Dürrkopp in Graz wurde gestreikt. Soldaten wurden zur Bereitschaft kommandiert und mit 120 scharfen Patronen versorgt. Ein Hauptmann belehrte sie, daß niemand geschont werden dürfe, sei es Vater, Bruder oder Schwester, und wenn es heiße: »Feuer!«, dann müsse in das Volk geschossen werden. Wer bei Hochschießen erwischt wird, wird strengstens bestraft!
Er schloß: »Die Vertreter der sozialdemokratischen Partei in der Delegation werden sowohl wegen der in der Armee herrschenden Mängel als auch infolge ihrer prinzipiellen Anschauungen über den Militarismus der Kriegsverwaltung keinen Mann und keinen Heller bewilligen.«
Er wendet sich ein nächstes Mal scharf gegen die beabsichtigte Erhöhung der Offiziersgagen und verlangt dafür eine Erhöhung der Mannschaftslöhnung. Der Schuhmeier scheute sich anderseits nicht, Arbeitern, die gefehlt haben, seine Meinung zu sagen. Im Seearsenal in Pola war man auf Materialdiebstähle gekommen. Es wurde daher die Leibesvisitation eingeführt. In einem Artikel in der »Volkstribüne« fordert er die Genossen auf, ihre Ehre zu wahren. Mit Diebstählen könne man nicht willkürlich seinen Lohn erhöhen, bereite mit solchen aber dem Arbeitskollegen und der ganzen Arbeiterschaft Schmach und Schande.
Auch in der Delegation tritt er für die Bedingnishefte für die Arbeiter in Betrieben mit Heereslieferungen und ganz besonders für das Gewerbe ein. Er verlangt, daß auch die Gewerbetreibenden bei Vergebung von Heereslieferungen berücksichtigt werden und nicht nur die Großindustrie und ihre nicht immer einwandfreien Zwischenhändler.
Die Genossenschaft der Riemer in Wien ernennt den Abgeordneten Schuhmeier für sein Eintreten für das Gewerbe zum Ehrenmitglied. Der Wiener Magistrat inhibiert diesen Beschluß der Genossenschaft der Riemer. Ein Nichtmitglied einer Genossenschaft, enunziert er, könne nicht ihr Ehrenmitglied werden.
Das hat der Lueger-Magistrat aber nur enunziert, weil es sich um den Sozialdemokraten Schuhmeier gehandelt hat. Er, der Dr. Lueger selbst, war bereits Ehrenmitglied mehrerer Genossenschaften, zum Beispiel der der Fleischhauer, »Ehrenfleischhauer«, wie man ihn uzte, und war natürlich bei keiner dieser Genossenschaften Mitglied. Das war aber das gleiche Recht.
Der Schuhmeier hat sich aber nicht gekränkt. Gelacht hat er. Und war mit einem hübschen Ehrendiplom, das ihm die Genossenschaft der Riemer zur Entschädigung überreichte, auch zufrieden.
Engelbert Pernerstorfer wird als Vertreter der stärksten Partei, der Sozialdemokraten, Vizepräsident des Abgeordnetenhauses und muß sich beim Kaiser vorstellen. Der Kaiser, der nie vorher einem Sozialdemokraten gegenübergestanden war, gleitet über die Situation, die ihm gewiß alles eher denn behaglich war, hinweg, indem er sich zu seinen Hofleuten äußert: »Der Herr Pernerstorfer war recht nett zu mir.«
Pernerstorfer, der ehemalige deutschnationale Demokrat und Jugendfreund Victor Adlers, war mit Leib und Seele Sozialdemokrat geworden, wenn er sich auch, wie einmal der Schuhmeier spottete, »von den Brüsten der Mutter Germania nicht losreißen konnte«. Auf dem Parteitag zu Innsbruck tat er den Ausspruch: »Es ist ein persönliches Glück, Sozialdemokrat zu sein«, und auf die Frage, warum er, der überzeugte Atheist, nicht konfessionslos werde, antwortete er: »Ich bin in den Verein nicht eingetreten, ergo brauche ich mich auch nicht ausstreichen lassen.«
Die zentripetale Wirkung der Wahlreform blieb aus. Es war nichts mehr zu retten. Der nationale Hader machte auch das Parlament des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes arbeitsunfähig. Es regierte wieder, wie vorher, der § 14. Zwei Jahre blieb das Kabinett Beck im Amte. Die Christlichsozialen waren in ihm durch Luegers Liebling, dem Kronprinzen ihrer Partei, den ehemaligen Magistratsdirektor Dr. Richard Weiskirchner, vertreten, der das Handelsministerium leitete. Dann kam Freiherr von Bienerth, der den Dr. Geßmann in sein Kabinett nahm.
Am 6. Juni 1908 gab es wieder einmal eine furchtbare Zelluloidkatastrophe. In der Zelluloidwarenfabrik der Gebrüder Sailer in Ottakring erfolgte eine Explosion, die 18 Menschenleben forderte. 4 Arbeiter und 14 Arbeiterinnen, darunter Mädchen von 14, 15, 16 und 17 Jahren, wurden teils mit herausquellenden Eingeweiden, teils als bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Leichen herausgetragen.
Im Betrieb der Gebrüder Sailer hat es einige Jahre vorher schon eine Explosion mit Todesopfer gegeben. Trotzdem wurde verabsäumt, die gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, und die Aufsichtsbehörden drückten beide Augen zu. Sicherheitsvorkehrungen kosten Geld und das wiegt mehr als Proletariereben.
Der Schuhmeier war mit Sever, Volkert und David an die Unglücksstelle geeilt. Mit der Zigarre im Munde schaute er zu, wie die nicht mehr menschenähnlichen Leichen herausgebracht wurden. Er überschätzte seine Nerven. Plötzlich wendete er sich um, die Zigarre fiel ihm aus dem Munde, er schlug beide Hände vors Gesicht und dann durchschüttelte ein Schluchzkrampf seinen Körper. Er mußte weggeführt werden.
Bei der Trauerversammlung für die Opfer der Zelluloidkatastrophe im Arbeiterheim sprach er: »Alle, die in harter Fron ihr Leben fristen müssen, wissen was der Kapitalismus bedeutet. Der Kapitalismus ist zum Kannibalismus entartet. Der Mammon braucht schon geschmortes Menschenfleisch zu seiner Nahrung. Jeder Tag lehrt uns aufs neue, daß wir für das Unternehmertum nur sind, was die Kohle für die Maschine, und jeder neue Tag bringt uns zum Bewußtsein, daß, was in den Kassen der Unternehmer ist, Leiden und Entbehrungen der Arbeiterschaft zur Voraussetzung hat. Die Arbeiterschaft ist die Grundlage des Staates in der heutigen Gesellschaft, und die uns erzählen, daß wir dulden müssen, während die anderen genießen, weil das die von Gott gewollte Ordnung sei, sind verfluchte Lügner. Ließe man dem Arbeiter die Frucht seiner Arbeit, könnte es nur glückliche Menschen geben. Der Kapitalismus baut sich auf auf Unterdrückungen, er schreckt auch vor dem scheußlichsten Verbrechen nicht zurück. Dagegen müssen wir unsere Stimme erheben und wie Donnerbrausen soll es hinausgehen in alle Welt: Auch der Arbeiter hat das Recht, menschlich behandelt zu werden.«
Im Parlament fordert er in einer Interpellation Fürsorge des Staates für die Hinterbliebenen der Opfer und hält eine große Anklagerede gegen die Kontrollosigkeit solcher lebensgefährlicher Betriebe – Menschenfallen nennt er sie – und gegen die Beschäftigung jugendlicher Personen in diesen.
Am 1. Dezember 1908, anläßlich des sechzigjährigen Regierungsjubiläums des Kaisers, ist das innere Wien glanzvoll illuminiert. Hunderttausende Menschen schieben sich zusammengepreßt über den Ring. Es gibt 5 Tote und 100 Verletzte.
Der große Jubiläumsfestzug war schon im Juni. Er endete mit einem Riesendefizit und einem Rattenschwanz von Prozessen sowie mit der Erhebung Dr. Luegers zum Geheimen Rat und Exzellenzherrn.
In der Delegation beantragt der Schuhmeier die Bewilligung von 5 Millionen Kronen zur Erhöhung der Mannschaftslöhnung um 5 Kreuzer pro Tag und zur Aufbesserung der Mannschaftskost, was abgelehnt wird.
Am 7. Oktober 1908 wurde Bosnien und die Herzegowina definitiv an die österreichisch-ungarische Monarchie angegliedert. Man nannte das die Annexion Bosniens und der Herzegowina. Seit 1878 waren diese Länder gemäß Vereinbarung auf dem Berliner Kongreß von der Monarchie okkupiert. Nun wurden sie annektiert. Die Türkei und besonders Serbien leisteten heftigen Widerstand; Serbien erblickte in dieser Machtvergrößerung der Monarchie über serbische Gebiete, als welche Bosnien und die Herzegowina galten, eine Beeinträchtigung seiner eigenen Aspirationen auf ein Großserbien. Es kam zu einem erregten diplomatischen Notenwechsel und sogar zu Kriegsrüstungen der Monarchie gegen Serbien. Das Heer wurde auf Kriegsstand ergänzt, die Reservisten mußten einrücken und wurden in die unwirtlichen bosnischen Felsennester geschickt. Die österreichische Kriegspartei und die Wiener Christlichsozialen hetzten zum Kriege. Und Krieg lag in der Luft.
In Prag gab es große Krawalle, denen der Ausnahmezustand ein Ende setzte. Das Parlament wurde geschlossen. Die Sparkassen wurden gestürmt.
Der österreichisch-ungarische Gesandte in Belgrad, Graf Forgach, setzte im Auftrage der k. u. k. Regierung die serbische Regierung in Kenntnis, daß die Monarchie infolge der von Serbien in den letzten Monaten gezeigten Haltung zu ihrem Bedauern nicht in der Lage sei, den Handelsvertrag mit Serbien parlamentarisch zu erledigen. Außerdem gab der Gesandte die Erklärung ab, die k. u. k. Regierung hege die bestimmte Hoffnung, daß Serbien seine Politik bezüglich Bosniens und der Herzegowina im Sinne der Mächte geändert habe und friedliche und freundnachbarliche Beziehungen zu der Monarchie zu unterhalten wünsche. Die serbische Regierung erklärte, sie werde ihre Politik Österreich gegenüber nicht andern. Auch Serbien mobilisierte. Es hatte Grund, für den Fall einer kriegerischen Verwicklung auf die Unterstützung Rußlands zu rechnen. Die Monarchie erließ ein Ultimatum an Serbien, in welchem sie sofortige Abrüstung und Einstellung der Tätigkeit der serbischen Emissäre in Bosnien fordert, andernfalls eine Strafexpedition nach Serbien angedroht wird.
In Riesenversammlungen tritt die Partei der Kriegsgefahr und den Kriegshetzern entgegen. Sie fordert als allerletzte Möglichkeit zur Rettung Österreichs nationale Selbstregierung innerhalb des Nationalitätenstaates Österreich. Die Patrioten und Nationalisten schelten das Hochverrat.
In einer Versammlung erklärt der Schuhmeier, der glühende Hasser des Krieges: »Für Österreich darf der serbische Fanatismus nicht die Knochen eines einzigen österreichischen Soldaten wert sein. Das Annexionsabenteuer hat uns schon zu viel Geld und Aufregung gekostet – wir wollen den Frieden.«
Nach Wiedereröffnung des Abgeordnetenhauses spricht er zur Rekrutenvorlage: »Ich für meinen Teil habe keinen Moment daran glauben können, und glaube auch jetzt noch nicht daran, daß es zu einem Kriege kommen wird. Ich anerkenne und gebe rund zu, daß ich Gründe für diese meine optimistische Auffassung in verflucht spärlichem Maße habe, aber ich bin der Meinung, bei demjenigen Teil des Volkes in Österreich, der den Frieden will, werde die Einsicht und die Argumentation so stark sein, daß es der Majorität gelingen wird, die Absichten der Minorität, die jetzt zum Kriege hetzt und auch in den Zeitungen öffentlich hetzt, niederzuhalten. Österreich ist als Großstaat nun einmal verpflichtet, mehr für den Frieden zu tun als ein kleiner Staat. Und wenn Serbien auch in den letzten Monaten sich in einer Art und Weise benommen hat, daß ganz berechtigterweise Unwille laut wurde, und zwar nicht nur in Österreich, sondern auch im Auslande, so kann man das bei ruhiger Überlegung immer noch begreifen. Serbien gleicht in der Tat in Europa einem Bauer, der auf dem Besitz eines anderen eine Keusche, eine Hütte stehen hat, zu der ihm der Zugang und Abgang fehlt.«
Und nun wird seine Rede zur prophetischen Voraussage! »Von unseren Bänken aus ist die Friedensliebe wohl in der nachdrücklichsten Art und Weise betont worden, und wer weiß, was ein Krieg der Zukunft bedeuten wird, kann wohl gar nicht anders reden, als es von unseren Bänken aus geschehen ist. Keiner der Kriege der Vergangenheit wird ein Bild, ein Beispiel abgeben können für das, was zukünftige Kriege uns bieten würden.«
Er beantragt Einführung der zweijährigen Dienstzeit, der 14monatigen bei der Landwehr und den Tiroler Landesschützen.
In gewaltigen Demonstrationen lehnte sich die Partei gegen den Krieg auf. Fünf Jahre später zeigte es sich, wie bitter recht Schuhmeier hatte.
Victor Adler beantragte im Parlament: »Die Regierung wird aufgefordert, ihren verfassungsmäßigen Einfluß auf die gemeinsame Regierung voll auszunützen, um sie zu veranlassen, ihre Bemühungen um die Erhaltung des Friedens auch weiterhin energisch und andauernd fortzusetzen.«
Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen, jedoch mit dem Zusatz der Christlichsozialen: »... unter der selbstverständlichen Voraussetzung, daß dadurch das Ansehen und die Interessen der Monarchie nicht beeinträchtigt werden, wobei wir unseren braven Soldaten, welche den schweren Dienst an der Grenze versehen, die wärmsten Sympathien zum Ausdruck bringen.«
Die Sozialdemokraten stimmten gegen den ersten Passus des Zusatzes.
Schließlich ließen England und Rußland Serbien wissen, daß es in einem Kriege mit Österreich nicht auf ihre Unterstützung zu rechnen habe. Nun fügte sich Serbien. Und die Kriegshetzer schmollten: »Österreich hat eine Niederlage erlitten.«
Der Dr. Lueger ließ im Schloßhof von Schönbrunn seine Männlein und Weiblein und die biederen Veteranen, die Scharfschützen und die Gesangvereine antreten, um dem Kaiser als Friedenserhalter zu huldigen.
Die Kriegsverwaltung ließ, trotzdem die Kriegsgefahr gebannt war, die Reservisten noch nicht abrüsten und heimgehen. Zu einem Dringlichkeitsantrag der Sozialdemokraten Hackenberg, Jarosch und Diamant wegen Zurückbehaltung der Ersatzreservisten sprach der Schuhmeier: »Sie, die Sie immer uns Sozialdemokraten vorwerfen, daß wir die Zerstörer der Familie, die Ruinierer des Bauernstandes und des Gewerbes sind, Sie können es hier wieder an einem deutlichen Beispiel erleben, wer eigentlich den Ruin dieser kleinen Leute besorgt. Um den Ruin dieser kleinen Leute aufzuhalten, deswegen wollen wir Antwort haben auf die Frage: Wie lange noch gedenkt die Heeresleitung die Ersatzreservisten zurückzubehalten? Oder ist es vielleicht richtig, daß man die Ersatzreservisten deshalb nicht in Urlaub gehen läßt, damit für die kommenden Herbstmanöver genug Soldaten da sind?«
Der Michel gehörte mit zu denen, die »zu den Fahnen« eilen mußten. Das nagte in ihm. Er hätte lieber ganz andere Dinge gekämpft und gerauft, als dafür, daß der Kaiser von Österreich noch ein Land mehr beherrschen dürfe und Menschen zu »Unserigen« wurden, die uns und die wir nicht verstanden. Und er, der nach der Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes steif und fest glaubte, daß gegen den Willen der Arbeiterschaft nichts mehr geschehen könne und die Macht der Sozialdemokratie mit ihren 87 Abgeordneten unter 516 eine unbegrenzte sei, schrieb aus Mostar, wo er herumlungern und auf einen Feind warten mußte, der sich nicht zeigen wollte, vorwurfsvolle, ungeduldige und manchmal schon recht grobe Briefe an den »Franzl«, was denn das für eine Sauwirtschaft sei, daß die Partei so etwas dulde, und ob man dafür jahrzehntelang gekämpft habe. Freilich, meinte er, die Herren, die in den Versammlungen das große Wort führen, brauchten ja nicht selber in den Räubernestern da herunten Kommißbrot und Fisolen fressen, die saßen in Wien im Kaffeehaus und ließen sich nichts abgehen und darum rührten sie keinen Finger für die armen Soldaten und gegen die Kriegsspielerei. Aber wenn er doch noch einmal nach Hause käme, würde er der Gesellschaft schon seine Meinung sagen.
Die Absperrungspolitik, die auf Geheiß sowohl der österreichischen und auf das der noch mächtigeren ungarischen Großagrarier betrieben wird, treibt die Preise der wichtigsten Volksnahrungsmittel irrsinnig in die Höhe. Die Arbeiter und Angestellten aber sind, da eine schwere Krise, die sogenannte Annexionskrise herrscht, außerstande, diese Teuerung durch Lohn- und Gehaltserhöhungen zu kompensieren. Das Volk leidet Not, es gärt im Volke. Nur schwer kann die Partei die Massen zurückhalten.
Die Partei stellt Dringlichkeitsantrage auf Herabsetzung der Getreidezölle, um die Teuerung zu lindern. Das Abgeordnetenhaus wird aber wegen der tschechischen Obstruktion noch vor Verhandlung dieser Dringlichkeitsanträge geschlossen. In der letzten Sitzung wurden die Obstruktionisten von der Galerie herunter angespuckt.
Und der Michel, der wieder zu Hause und in Zivil war, murrte: »Die schönen Reden sind für die Katz. Die Bagasch hört ja net amal zu. Denen muß man die Faust zeigen. Wahlrecht hin, Wahlrecht her. Die, was Geld haben, sind noch immer die Herren, und die keins haben, die Narren, die man auspreßt und dann wie a Zitrone, die kein Saft mehr hat, auf 'n Mist schmeißt.«
Am Abend des 15. Dezember 1909 steht die Arbeiterschaft Wiens vor dem Parlament. Sie verlangt Abhilfe gegen die furchtbare Teuerung, sofortige Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung, um der täglich wachsenden Arbeitslosigkeit zu steuern, fordert Ausbau der Arbeiterschutzgesetze. Sie wünscht ferner Einstellung der Obstruktion, und daß das Parlament im Interesse des notleidenden Volkes endlich fruchtbare Arbeit leiste. Die Obstruktionisten selbst stellen Abänderungsanträge zur Geschäftsordnung, die die Obstruktion erschweren sollen.
In der »Volkstribüne« und in Versammlungen fordert der Schuhmeier Trennung von Stadt und Land, also die Reichsunmittelbarkeit der Stadt Wien, – da es nicht angehe, daß sich eine Industriestadt wie Wien von den Agrariern diktieren lasse. Die Interessen der Stadt Wien und die der Agrarier seien unvereinbar. Wichtigere Beschlüsse des Gemeinderates von Wien bedurften nämlich der Zustimmung des niederösterreichischen Landtages, in dem die Agrarier in der Überzahl waren.
Auch in dieser Frage hat sich der Schuhmeier als weitvoraussehender Politiker erwiesen. Bald nach dem Umsturz mußte sich Wien von Niederösterreich trennen und ein selbständiges Land werden, andernfalls es den Agrariern im Landtag ausgeliefert gewesen und seine von aller Welt bewunderte Aufbauarbeit unmöglich gewesen wäre.
Der Schuhmeier interessiert sich für alles. Überall, wo ihm etwas nicht richtig scheint, taucht er auf. Er schaut sich die Dinge erst selber an, ehe er sie aufzeigt.
In manchen Gegenden Österreichs, so auch in Gmünd in Niederösterreich, gab es noch immer den alljährlichen Dienstbotenmarkt, wo, wie zu der Urväter Zeiten, die Bauern zusammenkamen, um sich »a Mensch z' kafen« (eine Magd von den Eltern, die das Mädel auf den Markt brachten, einzuhandeln).
Drastisch schildert er, wie dort in abstoßender Weise im 20. Jahrhundert noch um Menschen gefeilscht wird wie auf den Viehmärkten um das liebe Vieh. Wie die in der verschrienen Judengasse noch so manches lernen könnten an dem Handel um den Lohn, das Gewand und selbst um eine Schürze auf dem Dienstbotenmarkt zu Gmünd. Und tatsächlich verschwindet dieser Menschenfleischmarkt bald darauf.
Mutig – und es gehörte damals Mut dazu – rückt er der Nebenregierung im Belvedere zu Leibe. Im Belvedere residierte der ungeduldige Thronfolger Franz Ferdinand, der mit der Vorsehung haderte, daß sie einen gewissen steinalten Herrn noch immer nicht zu sich berief, der ihm den Weg zur Macht verstellte.
Wie noch jeder Thronfolger, war er mit den Regierungsmethoden des noch immer Herrschenden ganz und gar nicht einverstanden. Er wollte ein anderes Kommando führen, und der schlappen Bande, die sich jetzt breit mache, zeigen, was ein richtiger »Von Gottes Gnade« vermag und wie der dreinfahren kann. Und in allen Fällen war das Belvedere für den Krieg. Mißvergnügte, die sich beim gegenwärtigen Regime nicht durchsetzen konnten, setzten ihre Karte auf das zukünftige, schlugen sich zur Belvederepartei und wühlten und intrigierten für sie und mit ihr.
Diese Zustände charakterisierte der Schuhmeier: »Diese Nebenregierung ist Herrn von Bienerth sehr gewogen, weil er alle ihre Einfälle vom Tage, das ganze Zickzack ihrer Launen, die ganze Aufgeregtheit ihrer unerfahrenen Poltronnerie nicht nur bedingungslos erträgt, sondern auch ihre Aufträge mit geschlossenen Augen erledigt. Das Belvedere existiert und mischt sich fortwährend aufdringlich und aktiv in die Politik ein.«
Die Fronvögte der arbeitenden Menschen sahen mit Verdruß das Anwachsen der roten Bataillone, das Erwachen der Lohnsklaven zu Selbstbewußtsein, Erkennen ihres Wertes und ihrer Kraft und überhaupt zu Kulturmenschen. Daß es Gewerkschaften gab, die im Namen der Arbeiter forderten, daß sie mit den Vertretern der Gewerkschaften an einem Tisch sitzen und gleich auf gleich verhandeln und klein beigeben mußten, daß in den Betrieben Vertrauensmänner, »Spitzeln«, wie sie das nannten, waren, die darüber wachten, daß der Belegschaft keines der erworbenen Rechte verkürzt oder ganz vorenthalten werde, daß deswegen in der alljährlichen Bilanz der Reingewinn magerer wurde, das konnten sie nicht verwinden. Aber sie gaben deswegen ihr Spiel nicht verloren.
Sie wußten recht gut, daß in einem großen Teil der Proleten noch immer der ererbte Knechtsinn und die Kriecherei vor dem, der mehr ist und mehr hat, schlummerte wie in einem gezähmten Raubtier die Bestie und daß sie es als gottgegeben hinnehmen, daß der »Herr« alles hat und sie nichts haben, und das Gefühl, daß das Unrecht ist, gar nicht aufkam, daß sie aber den Nebenproleten, den Arbeitsbruder beneideten und haßten, wenn er eine Krone mehr Lohn bekam, eine bessere Hose und zu Hause ein schöneres Bett besaß.
Sie erinnerten sich der alten Herrscherweisheit »Divide et impera«, teile und herrsche: Was lag näher als die Arbeiter zu entzweien, um von ihnen in Ruhe gelassen zu werden und sie wieder ganz beherrschen zu können. Es handelte sich nur darum, ihre Einigkeit zu zerstören, ihre Organisationen, die Gewerkschaften, zu teilen.
Und so gingen sie hin und gründeten gelbe Gewerkschaften. Einmal hießen sie sie unpolitische, dann wieder christliche, nationale Gewerkschaften oder einfach Werkvereine. In manchen Großbetrieben war es den freien Arbeitern im freien Staate überhaupt verboten, einer Berufsorganisation anzugehören. Wer dagegen handelte, flog hinaus. Die Unternehmer selbst waren natürlich straff organisiert, das war ja ihr gutes staatsbürgerliches Recht.
Sie kauften sich um Schandlohn Judasse, die den Arbeitern in den Ohren lagen. Sie sollten, raunten sie ihnen zu, doch nicht so töricht sein, von ihrem sauer erworbenen Lohn einen Teil Weib und Kindern abzustehlen, um der Organisation Beiträge zu leisten. Diese Gelder würden ja doch nur von den »Führern« gestohlen, verhurt und verpraßt. Sie sollten sich doch nicht von gutbezahlten, ausgefressenen, natürlich meist jüdischen Hetzern gegen ihre Brotgeber aufwiegeln lassen, die es so gut mit ihnen meinten und Tag und Nacht sorgten, um ihren geschätzten Mitarbeitern das tägliche Brot zu verschaffen. Sie sollten sich nicht um die schmutzige Politik bekümmern, die den Charakter verderbe – die Herrn Unternehmer politisierten selber fest drauflos und glaubten ein Monopol auf die Politik zu haben – sie könnten sich als gute Christen doch nicht mit gottlosen Roten gemein machen und müßten daher in die christliche Gewerkschaft; als echte Deutsche doch nicht mit Böhm und Juden und Slowaken und sonstigem Gesindel Bruder im Spiel sein und müßten daher in die nationale Gewerkschaft; und überhaupt als anständige Menschen, die ihre Heimat und ihren Kaiser liebten und gute Patrioten seien, schon gar nicht mit Republikanern und Feinden des Kaisers und des Staates auch nur in Berührung kommen und deshalb müßten sie sich der unpolitischen Gewerkschaft oder dem Werkverein anschließen. Sie meinten es ja so gut mit ihren Leuten, die Herrn Kapitalisten.
Und diese Arbeiter, geehrt und gerührt von der Fürsorge und der Herablassung ihrer »Herren«, ließen sich zu den Gelben einfangen und kannten nur mehr einen Feind: ihre Klassenbrüder, die Roten. Und die bekämpften sie mit Messern und Revolvern und denen fielen sie in den Rücken, so oft sie für alle, einschließlich der Gelben, mehr Brot, mehr Freiheit, mehr Sicherheit, mehr Menschenrecht und das Recht auf Arbeit überhaupt erkämpfen wollten.
Das ging dem Schuhmeier nahe, sehr nahe. Das tat ihm weh. Immer wieder las er nach, was Karl Marx darüber geschrieben hat: »Den proletarischen Bettelsack schwenken sie als Fahne in der Hand, um das Volk hinter sich her zu versammeln. So oft es ihnen aber folgte, erblickte es auf ihren Hintern die alten, feudalen Wappen und verlief sich mit lautem und unehrerbietigem Gelächter.«
Aber daß es nach so harter und eindringlicher Aufklärungsarbeit, nachdem man sich so viel und so liebevoll mit ihm befaßt, es herausgezogen hat aus dem Nichts und dem Dreck, noch immer hinter wappenverzierten Hintern herläuft, wenn ihm diese unappetitlichen Körperteile hingestreckt werden, das machte ihn oft irre, verzagt, kleinmütig.
Und als ihm einmal der Michel meldete, daß einer, den man immer für einen der Zuverlässigsten gehalten hatte, auf den man trauen und bauen durfte, zu den Gelben übergelaufen sei, weil man ihm, der einige Monate arbeitslos gewesen, eine Arbeitsstelle, und, wenn er sich bei den Gelben brav betätige, baldiges Avancement zum Werkführer versprochen habe, fand er lange keine Worte. Dann sagte er blaß und leise: »Michel, Michel, ich glaub, wir haben uns alle verrechnet. Unser Rechenfehler war eine viel zu gute Meinung von den Menschen. Mit denen werden wir's nicht ermachen. Noch sehr lang net.«
»Wie meinst das?« wollte der Michel wissen.
»Wenn wir uns eine neue Welt bauen wollen, brauchen wir ganz neue Menschen dazu. Die müssen wir uns erst schaffen. Und das braucht viel Zeit und viel Arbeit und unendlich viel Begeisterung und Geduld.« Nach solchen Enttäuschungen verschwand er oft tagelang und trieb sich draußen in der tröstenden und mutspendenden Natur herum.
Er war aber bald wieder auf dem Posten. Bei der Jugend, schon bei den Kindern der Arbeiterschaft, bei der jungen und jüngsten Garde, müsse angefangen werden. Der Sozialismus, – diese Idee verfocht er nun mit Feuereifer – braucht zu seiner Verwirklichung ganz andere Menschen, als die es sind, die diese Weltordnung heranzieht. Er braucht einen guten, veredelten Menschenschlag, der nicht nur an sich, der auch an die anderen, an das Ganze denkt, er braucht offene Köpfe und offene Herzen und Menschen von nicht zu erschütterndem Gerechtigkeitsgefühl, solche, denen das: »Was du nicht willst, daß man dir tu'...« in Fleisch und Blut übergegangen ist. Solche Menschen müsse sich die Sozialdemokratie selbst heranziehen, sonst sei ihr Beginnen aussichtslos. Er begann, indem er in Otta kring die erste Kinderbibliothek durchsetzte und errichten half. Bei Eröffnung dieser Kinderbibliothek hielt er eine seiner schönsten und tiefsten Reden:
»Ich habe eigentlich einen Vortrag über Bücher halten wollen. Aber als ich die Kinder sah und den Kinderchor hörte, da durchfluteten ganz andere Gedanken mein Herz. Ich erinnerte mich der eigenen freudlosen Jugend, leer, voll schwerer Arbeit schon vom siebenten Lebensjahr an, und wenn Sie bedenken, daß auch heute noch tausende Kinder ihre Jugend ebenso freudlos verbringen, dann werden Sie auch die Bedeutung verstehen, die unsere heutige Gründung hat, und welche Gefühle mich dabei beseelen.
Wie viele Menschen bleiben das, als was sie geboren worden sind: die Knechte der anderen! Und nur deshalb, weil es in ihrer Jugend an der Anleitung fehlte, sie geistig vorwärts und geistig aufwärts zu bringen.
Wir wissen, wie schwer es dem Arbeiter gemacht wird, sich auf eine höhere geistige Stufe emporzuarbeiten. Ich sage immer, daß das Wissen der Besitzenden mir nicht imponiert und daß es nichts bedeutet gegenüber dem Wissen, das sich der Arbeiter unter harter Mühe aus eigener Kraft erarbeitet. Es ist keine Kunst, gebildet zu werden, wenn der Vater alle möglichen Professoren dafür zahlt, und es gehört keine Kunst dazu, ehrlich und charakterfest zu bleiben, wenn man alles hat, was das Leben an Anforderungen stellt. Wie viele Talente verkümmern, wie viele edle Anlagen verwahrlosen, weil die Armut sie erdrückt und dem Kinde in der Jugend die richtige geistige Leitung fehlt...
Wieder erinnere ich mich an meine Jugend, wie ich als kleiner Bub die gruseligsten Romane verschlungen habe – in die Kammern der Armen kommen leider nur Schauderromane als Bücher. Heute weiß ich, in welcher Gefahr ich bei jener Lektüre damals schwebte. Davor wollen wir unsere Kinder bewahren und wir wollen sie durch gute, wertvolle Lektüre auch aus der Unbildung herausführen, die so viele Menschen zum Werkzeug ihrer stillen Feinde macht. Unsere Gegner benützen Zeitungen und Bücher, um die Arbeiter zu täuschen, zu blenden und zu verdummen, damit sie nicht einmal ihr Interesse mehr erkennen und in ihrer Verblendung oft ihre Klasse, ja ihre eigenen Kinder verraten. Wir wissen, daß sich die Macht der besitzenden Klasse zum großen Teil auch auf Bücher stützt. Auch wir wollen uns der Bücher bedienen. Bücher haben uns in die Sklaverei gebracht, Bücher werden uns befreien.
Unserer Jugend wollen wir es leichter machen, sich aus Büchern edlere Genüsse und höheres Wissen zu erwerben, in den Büchern die besten Freunde zu finden, die sie auf höhere Stufen des Geistes führen und für ihr großes Lebenswerk stärken. Gute Bücher leben fort und wirken fort wie die guten Werke guter Menschen...«